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“Anarchie im Schanzenviertel”

Die Verwendung des Anarchie-Begriffs in den Medien anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg im Juli 2017

| Margareta Muer

Kommentar

“Anarchie im Schanzenviertel” titelten Die Welt und die FAZ. Der Focus schrieb gar von “Anarchie, Gewalt und Plündereien”. Wollte man den Medien glauben – egal ob Fernsehen oder Printmedien -, wurde Hamburg während des G20-Gipfels massiv vom Ungeheuer der Anarchie heimgesucht.

Ja, schön wär’s gewesen mit der ANARCHIE im Schanzenviertel! Wenn’s denn Anarchie gewesen wäre! Aber was hat Anarchie mit Chaos oder Gewalt zu tun? Nichts, rein gar nichts! Sie ist im Grunde sogar ihr komplettes Gegenteil. Anarchie bedeutet die Abwesenheit aller Herrschaft, auch die Abwesenheit der Herrschaft von Staat und allen seinen Institutionen. Und damit bedeutet Anarchie immer auch die Abwesenheit von Gewalt, denn ist nicht die Ausübung von Gewalt die perverseste Form der Ausübung von Macht und Herrschaft?

Anarchie bedeutet, dass Menschen sich in Freiheit selbst organisieren. In Verantwortung für das eigene Wohl und das der anderen. Im Bewusstsein, dass meine eigene Freiheit dort endet, wo die Freiheit anderer angetastet, ihnen und der Umwelt Schaden zufügt wird.

“Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. In dieser Zielsetzung, in nichts anderem, besteht die Verbundenheit aller Anarchisten untereinander, besteht die grundsätzliche Unterscheidung des Anarchismus von allen andern Gesellschaftslehren und Menschheitsbekenntnissen. (…) Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie.” (in: Erich Mühsam, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Edition Holzinger. Berliner Ausgabe 2015. S.6)

Berühmte Anarchistinnen und Anarchisten, die von Chaos und Gewalt weit entfernt sind bzw. waren und die ich persönlich sehr schätze, sind zum Beispiel:

  • Der deutsche Schriftsteller und Publizist Erich Mühsam (1878-1934).
  • Nicola Sacco (1891-1927) und Bartolomeo Vanzetti (1888-1927), zwei aus Italien in die USA eingewanderte Arbeiter, die sich der anarchistischen Arbeiterbewegung anschlossen. – Horst Stowasser (1951-2009), deutscher Anarchist, der mit seinem Buch “Anarchie!” ein umfassendes und kurzweiliges Standardwerk zum Thema Anarchie geschaffen hat.
  • Noam Chomsky (geb. 1928), emeritierter Professor für Linguistik und einer der prominentesten Kapitalismuskritiker der USA.
  • Howard Zinn (1922-2010), US-amerikanischer Historiker und Politikwissenschaftler, der sich besonders der Erforschung von Bürgerrechts- und Friedensbewegungen widmete und in seinem Werk “Die Geschichte des amerikanischen Volkes” eine Geschichte der USA von unten schuf.
  • Emma Goldman (1869-1940), herausragende Anarchistin und Feministin.
  • Und viele andere wie Albert Camus, Clara Wichmann, Oskar Wilde, David Graeber, Wolfgang Hertle, Bernd Drücke, Leo Tolstoi, Henry David Thoreau, Gustav Landauer,…

Alle miteinander sind bzw. waren sie mit Sicherheit keine gewalttätigen Chaotinnen und Chaoten, sondern unbequeme Querdenkerinnen und Querdenker, Visonärinnen und Visionäre.

Gustav Landauer, Nicola Sacco, Bartolomeo Vanzetti und auch Erich Mühsam bezahlten ihre Forderungen und Visionen sogar mit ihrem Leben.

Sacco und Vanzetti wurden wegen Raubmordes angeklagt und unschuldig zum Tode verurteilt. Sie starben in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 auf dem elektrischen Stuhl (siehe Artikel auf Seite 22).

Der Anarchopazifist Gustav Landauer wurde 1919 von faschistischen Freikorps-Soldaten ermordet. 15 Jahre später ermordeten SS-Schergen seinen Freund und Genossen Erich Mühsam im KZ Oranienburg.

Margareta Muer