Liebe Leser*innen,
nachdem das US-Wahlergebnis im November 2020 bekannt wurde, hatte ich eine Onlinediskussion mit einem Genossen aus Russland. Mein Freund wies darauf hin, dass Trump durch seine schlechten Beziehungen zu den europäischen Eliten die NATO schwächer und brüchiger gemacht hat. „Biden und die Herrscher Europas sprechen dieselbe Sprache und das wird zu einer neuen Erstarkung der NATO führen. Trump war sehr schlecht, aber jetzt wird es noch schlimmer in dieser Welt“, so die pessimistische These des Moskauer Anarchisten.
Ich denke nicht, dass es unbedingt schlimmer wird, auch wenn die Befürchtungen meines Genossen nicht unbegründet sind und Joe Biden ein Mann der US-Rüstungs- und Atomlobby ist, so dass der Bau neuer Atomkraftwerke in den USA und weitere Drohnen- und andere Kriege wahrscheinlich werden. Ich habe mich trotzdem gefreut, dass Trump die Wahl verloren hat. Mich hat berührt, dass mit Kamala Harris im Januar 2021 erstmals eine afroamerikanische Frau mit indisch-tamilisch-jamaikanischen Wurzeln im patriarchalen System der USA Vizepräsidentin wird. Ohne den außerparlamentarischen Druck durch Black Lives Matter, LGBT- und die feministische Bewegung wäre dies undenkbar gewesen. Es ist erfreulich, dass sich Harris für Frauen und People of Color (1) stark machen will, aber sie hat als Law-and-order-Politikerin Gefängnisstrafen für die Eltern schulschwänzender Kinder gefordert und steht, wie Biden, für militärische Aufrüstung und eine neoliberale Weltmacht-Politik. Trotzdem, im Vergleich zum Narzissten Trump und seinem evangelikalen Vize Pence ist das Duo Biden/Harris ein kleineres Übel. Auch aus sozialer Bewegungssicht (2).
Mein Genosse aus Moskau: „Mir scheint, Trump ist eher ein Demagoge. Seine Reden sind notorisch antilinks, das ist wahr und die klingen fürchterlich. Auch sein Imperialismus ist ohne jeden Zweifel. Doch er war das erste US-amerikanische Staatsoberhaupt, das kein Militär in irgendwelche zusätzliche Länder schickte – natürlich nicht aus Friedensliebe, sondern weil er ein Isolationist ist. Ich glaube doch, die sich selbst isolierenden USA wären ein bisschen erträglicher für unsere arme Welt.“
Mit Blick zum Beispiel auf die vom Kohle- und Ölindustrielobbyisten Trump massiv befeuerte Klimakatastrophe und den unter seiner Ägide wachsenden Rassismus sehe ich das anders. Die mehr als 250.000 Corona-Toten in den USA sind zum großen Teil auch Opfer von Trumps verantwortungsloser Lügen-Politik. Unter seiner Hass-Propaganda und Politik leiden vor allem Schwarze, Latinos und arm gemachte Menschen, die in der extremen Klassengesellschaft der USA besonders von der Pandemie, von rassistischer und klassistischer Diskriminierung betroffen sind.
Anders als seine Amtsvorgänger hatte Trump keine Skrupel, die größte nichtnukleare Bombe über Afghanistan abzuwerfen. Niemand weiß, wie viele Menschen dabei getötet wurden. Dieses Kriegsverbrechen ist bis heute kein Thema in den Massenmedien. Trump hat in seiner Amtszeit gigantische Waffendeals beispielsweise mit dem staatsterroristischen und im Jemen Krieg führenden Saudi-Arabien gemacht. Er hätte beinahe einen Krieg gegen Iran angezettelt. Er hat Öl ins Feuer gegossen, wo immer er konnte.
Aber klar ist auch: Biden ist für die Drohnenkriegspolitik unter Obama mitverantwortlich, er möchte in seiner Amtszeit die US-Atomindustrie ausbauen, ist, wie sein Vorgänger, ein Fracking-Lobbyist. Aber er ist, anders als Trump, ein Demokrat, dem soziale Bewegungen durch Druck von unten Zugeständnisse abringen können. Das hat er mit der Nominierung von Harris gezeigt. Biden will dem Pariser Klimaabkommen und der WHO wieder beitreten. Er ist kein Leugner des von Menschen gemachten Klimawandels.
Eine befreundete Anarchistin schreibt in einer Mail: „Ich finde diesen Jubel seitens der Linken, dass Trump weg ist, bedenklich. Ich verstehe die Freude, aber ist Biden besser? Zwei alte weiße Männer, einer: (neo)liberal-konservativ und der andere national-konservativ. Dazu misogyn und übergriffig. Ich sehe da keinen Unterschied.“
Ich sehe einen entscheidenden Unterschied. Unsere Hoffnungen liegen in emanzipatorischen Sozialen Bewegungen, nicht in Regierungen. Aber wir sollten den Gegensatz zwischen einem Rechtsextremisten und einem (neoliberalen) Demokraten nicht kleinreden. Es macht einen großen Unterschied, wenn ein Mann Präsident ist, der Frauen hasst, gegen Minderheiten hetzt, Mexikaner*innen als Tiere bezeichnet, Folter und sexualisierte Gewalt propagiert und die neonazistischen „Proud Boys“ in einem TV-Duell auffordert, sich bereit zu halten. Trump ist nicht nur extremer Nationalist, Rassist und Sexist, er ist der vielleicht einflussreichste, moderne Neofaschist des 21. Jahrhunderts (3). Deshalb bin ich erleichtert, dass er die Wahl verloren hat. Trumps würdeloser Abgang ist auch eine Niederlage für seine Kumpels, für die AfD, Q-Anon, für Faschisten wie Bolsonaro in Brasilien, Rechtsnationalisten, autokratische Regierungen in Ungarn, Polen und anderswo. Gut so! Das hoffentlich jetzt eingeläutete Ende des Trumpismus ist auch ein Erfolg antirassistischer, antisexistischer und antifaschistischer Bewegungen von unten. Unsere Genoss*innen von der US-amerikanischen War Resisters League (WRL) sehen das ähnlich. In ihrem GWR-454-Artikel stellen sie aber auch klar: „Wir werden weiter gegen das Weiße Haus und gegen die weiße Vorherrschaft arbeiten.“

In diesem Sinne,
Anarchie und Glück,
Bernd Drücke
(GWR-Koordinationsredakteur)

(1) BIPoC ist die Abkürzung von Black, Indigenous, People of Color und bedeutet Schwarz, Indigen und der Begriff People of Color wird nicht übersetzt. Diese Begriffe sind politische Selbstbezeichnungen. Sie sind aus einem Widerstand entstanden und stehen für die Kämpfe gegen diese Unterdrückungen und für mehr Gleichberechtigung.
(2) Siehe dazu den USA-Schwerpunkt in dieser GWR.
(3) Warum Trump m.E. ein Neofaschist ist, habe ich in der GWR 414 vom Dezember 2016 skizziert: https://www.graswurzel.net/gwr/2016/12/die-us-wahl-als-zeitenwende/ Diese Einschätzung hat sich in vier Jahren US-Präsidentschaft bestätigt.