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Kein Schnickschnack

Weitermachen bis zur sozialen Revolution! Die Graswurzelrevolution wird dreißig

Zeitungen müssen gut aussehen. Interessante Fotos, pfiffige Überschriften, hier und dort zur Erklärung ein Säulendiagramm. Moderne Zeitungsleser zappen gerne durch die Seiten. In der Presse der radikalen Linken dagegen gilt Layout-Schnickschnack als Platzverschwendung. Linke Leser lieben es, sich mit wissenschaftlicher Akribie durch Bleiwüsten zu kämpfen, in denen kein Foto den Blick aufs Wesentliche verstellt und die Überschriften so peppig sind wie Bridgeabende im Seniorenheim.

Die Graswurzelrevolution, Sprachrohr gewaltfreier Anarchisten in der Bundesrepublik, macht da keine Ausnahme. Seit nunmehr 30 Jahren schachtelt die Zeitung mit revolutionärem Elan Satz an Satz. In der überschaubaren Zielgruppe auf Linksaußen gehört sie zu den auflagenstärksten Zeitungen hierzulande. Immerhin 3500 Käufer ackern sich Monat für Monat durch hochkomplizierte Politartikel, in der einen Hand das Fremdwörterlexikon, in der anderen den Edding zum Markieren. Manches öde WG-Frühstück hat die Graswurzel mit ihren kontroversen Ansichten schon erfrischt, manchen Hippie vom Anarchismus überzeugt. Seit gestern feiert die älteste, noch existierende, libertäre Zeitung der Bundesrepublik drei Tage lang Geburtstag im westfälischen Münster.

Bereits in den zwanziger Jahren gab es zahlreiche Zeitschriften, die den gewaltfreien Anarchismus propagierten. Die Schwarze Fahne und Junge Anarchisten waren die bekanntesten. Mit der sogenannten Machtübernahme der Nazis endete vorübergehend die Geschichte der anarchistischen Presse in Deutschland. Es dauerte bis Mitte der Sechziger, ehe die Zeitschrift Direkte Aktion - Blätter für Anarchismus und Gewaltlosigkeit die Tradition fortführte. Das Projekt scheiterte allerdings schon nach zwölf Monaten. Erst die Graswurzelrevolution, die der Publizist und Politologe Wolfgang Hertle ab 1972 in Augsburg herausgab, überstand alle Kinderkrankheiten und entwickelte sich zum Dauerbrenner der linken Presse.

Alle Widrigkeiten hat die Zeitung gemeistert. Sie hat das Konsensprinzip überlebt, das Verhängnis vieler linker Gruppen; sie hat sich über die Apathie gerettet, die sich nach dem Fall der Mauer wie Mehltau über die radikale Linke legte, und sie hat es geschafft, ein gemeinsames Ziel festzulegen, dem sich auch nach 30 Jahren alle Redakteure verpflichtet fühlen: »Wir streben an, daß Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt wird.« Deshalb erscheinen die meisten Artikel unter Pseudonym, nicht der Autor, sondern die Inhalte sollen im Vordergrund stehen. »Prominenz, und sei es nur die in der Szene der Gewaltfreien oder Anarchisten, steht eben im Widerspruch zur Abschaffung jeder Herrschaft.« Joseph Fischer hätte bei der Graswurzelrevolution keine Chance. Zur herrschaftsfreien Gesellschaft gehört, nach Ansicht der Redaktion auch, daß Frauen und Männer ihr Leben frei gestalten können. »Deshalb bekämpfen wir Strukturen, in denen Männergewalt allgegenwärtig und die Unterdrückung von Frauen alltäglich ist.«

Eine Zeitung, die Herrschaftsverhältnisse radikal anpackt wie die Graswurzelrevolution, gerät schnell ins Visier der Staatsschützer. Zumal, wenn sie Gewaltlosigkeit nicht als Wehrlosigkeit begreift. 1987 bekam die Redaktion Besuch von der Staatsanwaltschaft, weil ein Autor das Umsägen von Strommasten als Form des gewaltfreien Widerstands rechtfertigte. Gewalt, die Personen verletzt, lehnen die Graswurzelrevolutionäre ab, Sabotage indes ist für viele legitim. Im zweiten Golfkrieg druckte die Zeitung ein Flugblatt ab, das die Friedensbewegung aufforderte, Transporte der Bundeswehr und Rekrutenzüge zu behindern. Flugs ermittelte der Staatsschutz. Ebenso während des Kosovo-Kriegs, weil ein Redakteur deutsche Soldaten zur Fahnenflucht aufgerufen hatte. Alle Verfahren wurden übrigens nach kurzer Zeit eingestellt.

Bis zur sozialen Revolution will die Graswurzel nach eigenem Bekunden noch weitermachen, mindestens aber die nächsten dreißig Jahre. Auch wenn die Bedingungen dafür nicht ideal sind: Die 30 Redakteure leben über die ganze Republik verstreut und sehen sich nur alle paar Wochen, den zwei Festangestellten mit Halbtagsjob wächst die Arbeit über den Kopf, und die Finanzen sind knapp. Trotzdem ist die Redaktion immer für eine revolutionäre Neuerung gut. Seit einigen Monaten erscheint die Anarcho-Gazette mit einer türkischsprachigen Beilage. »Die Graswurzelrevolution hat einen langen Atem bewiesen. Wie der Anarchismus hat sie die Chance, in Ehren alt zu werden«, schrieb vor Jahren die taz, als sie sich noch als links-alternativ begriff. Schon damals klang es, als blicke sie mit Wehmut zurück auf die Zeiten, als sie selbst noch wild und zornig war.

* Tel. 02440/959250, abo@graswurzel.net. Kongreß bis Sonntag im ESG, Breul 43, Münster

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Aus: junge Welt, 22. Juni 2002


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