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Fritz Oerter: “In jeder Form ist Gewalt Unkultur.”

| Coastliner

Fritz Oerter: Texte gegen Krieg und Reaktion, Hg.: Helge Döhring, Verlag Edition AV, Lich 2015, 174 S., 16 Euro, ISBN 978-3-86841-116-4.

Fritz Oerter (1869-1935), Lithograph, Schriftsteller und Buchhändler aus Fürth, gehörte zum gewaltlos-anarchistischen Flügel des Anarchosyndikalismus und der FAUD der 1920er-Jahre. Davon zeugt eine eindrucksvolle Textsammlung, erschienen im Verlag Edition AV als Band 4 der Reihe “AnarchistInnen & SyndikalistInnen und der Erste Weltkrieg”. Im Band sind wichtige Texte Oerters aus den anarchistischen Zeitungen “Der freie Arbeiter” und vor allem “Der Syndikalist” versammelt, gruppiert in Kapitel “Grundsatztexte”, “Militarismus und Krieg”, “Ausblicke und Appelle” und ein letztes Kapitel mit sehr interessanten Rezensionen, die zu Unrecht historisch oft vernachlässigt werden. Wie Rudolf Rocker sah Oerter den Anarchosyndikalismus hauptsächlich als Kulturbewegung, doch dezidierter als bei Rocker, der einen Gewaltvorbehalt vertrat, hieß es bei Oerter: “In jeder Form ist Gewalt Unkultur” (S. 44). Über welche Themen Oerter auch schrieb, seien es freie Liebe, ökonomische Kampfmittel, Antimilitarismus oder Texte gegen den aufkommenden Antisemitismus und Faschismus, immer waren grundsätzliche Stellungnahmen pro Gewaltlosigkeit deutlich herauszulesen. Damit gehörte Oerter zu denjenigen gewaltlosen Anarchisten, die als prägende Bezugspersonen der heutigen Graswurzelrevolution und des gewaltfreien Anarchismus gelten können. Davon zeugt etwa der Wiederabdruck von Oerters Broschürentext “Gewalt oder Gewaltlosigkeit?” (Wien 1920; nicht in diesem Band abgedruckt) nach einem internen Richtungsstreit in der programmatischen Graswurzelrevolution Nr. 125 vom September 1988. Ein Text Oerters, “Gewalt und Gewaltlosigkeit”, findet sich im “Syndikalist” 30/1920 (ebenfalls hier nicht abgedruckt). Bereits im Oktober 1977 erschien als Beilage zu GWR 32 die Anarchismus-Information Nr. 3 “Anarchosyndikalismus und Gewaltlosigkeit”, in der es etwa heißt: “Zweifellos der bedeutendste Theoretiker der Gewaltlosigkeit unter den deutschen Anarchosyndikalisten ist Fritz Oerter. Heute kennt kaum noch jemand seinen Namen…” Es werden dann Oerters Beiträge zur Diskussion ziemlich ausführlich dargestellt. Leider fehlen gerade diese Texte zur revolutionären Gewaltlosigkeit im vorliegenden Band und leider ist das auch kein Zufall.

Besonders beeindruckt war ich gleichwohl von Oerters Syndikalist-Artikel “Die Kulturideale des Syndikalismus” aus dem Jahr 1921, worin es u.a. heißt, der Syndikalismus sei gerade deshalb revolutionär, weil er das Ziel der Herrschaftslosigkeit “nicht wie die Revolutionäre anderer Art mit den veralteten Mitteln und Methoden der bisherigen Machthaber, sondern mit den revolutionären Kampfmitteln der direkten, wirtschaftlichen Aktion zu erringen strebt” (S. 49). Oerter kritisierte die marxistischen Parteien in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit der Frage: “Vertrauen sie nicht auch alle noch auf die Gewalt der Waffen, auf dieselbe Gewalt, auf welche sich die Bürgerlichen ebenfalls stützen?” (S. 57) Und weiter: “Was können wir tun, um die Gewalt zu beseitigen oder unwirksam zu machen? Ebenfalls Gewalt üben? Ich sage nein. Die Gewalt wird nie dadurch abgeschafft, dass man sie wieder durch Gewalt bekämpft. (…) Der Gewalt wohnt stets die Tendenz inne, selbst Ziel zu werden und an die Stelle einer zertrümmerten Zentralisation eine neue Herrschaft zu setzen. Aber hat denn die Arbeiterschaft nicht andere, viel schärfere Mittel, die Gewalt zu beseitigen? Wer stellt denn immer noch Waffen und Munition her (…)? Und wahrlich, derjenige zeigt größeren Mut, der jede direkte und indirekte Unterstützung der Gewalt verweigert, als derjenige, der sie durch seine Arbeit unterstützt oder selbst in momentaner Erregung zur Waffe greift. (…) Gewalt wird bei einem Generalstreik umso weniger gebraucht werden, als der Wille vorhanden ist, sie um jeden Preis zu vermeiden” (S. 61f.). Hier wird der gewaltfreie Anarchismus als Radikalisierung des herkömmlichen gewaltsamen Anarchismus klar herausgearbeitet. Solche wie selbstverständlich vorgetragenen Passagen weckten in mir als jungem Aktivisten meine Begeisterung und verursachten eine gewaltfrei-anarchistische Prägung. Oerter war denn auch, so weiß selbst die Wiki-Seite der Stadt Fürth, “Verfechter der Idee der Gewaltlosigkeit”. Eine solche, historisch richtige Charakterisierung wird man jedoch in der Einleitung und den editorischen Kommentaren von Helge Döhring in diesem Buch vergeblich suchen. Geradezu obsessiv, für jeden mit einer Mindestkenntnis der historischen Genese des gewaltfreien Anarchismus Vertrauten auf den ersten Blick erkennbar, sucht Döhring den Begriff gewaltloser Anarchist oder überhaupt “gewaltlos” zu vermeiden. Höhepunkt dieses ideologischen Verzerrungsversuches ist der Kommentar Döhrings direkt nach dem hier zitierten Text Oerters: “Die von Oerter gemachten pazifistischen Aussagen fanden in der anarcho-syndikalistischen Arbeiterbewegung keinen Konsens [Wer hat das je behauptet?; d.A.], sondern starken Widerspruch” (S. 63).

Die Militanten der FAUD, die eine radikale Gewaltlosigkeit als Kampfmittel innerhalb der FAUD vertraten, nannten sich damals explizit “Gewaltlose”; der Begriff gewaltfreier Anarchismus, gewaltfreie direkte Aktion usw. tauchte erst nach 1945 im deutschen Sprachraum auf und verbreitete sich dann immer mehr. Döhring spricht von Oerter jedoch nie als von einem Gewaltlosen oder gewaltlosen Anarchisten, sondern immer von “pazifistischen Aussagen”. Er integriert Oerter damit falsch in die historische Strömung des Pazifismus, die zu 90 Prozent nichts mit dem Anarchismus zu tun hatte, sondern naiv Staaten zu Friedensverhandlungen bewegen wollte. Nicht einmal den Begriff “anarchopazifistisch” mag Döhring benutzen. Es ist eines selbst ernannten Historikers der Bewegung, der wissenschaftlichen Kriterien gerecht werden will, unwürdig, den zentralen Begriff des damaligen Selbstverständnisses der Militanten dieser Strömung auf groteske Weise zu vermeiden. Döhring stelle sich einmal vor, anarchistische HistorikerInnen würden AnarchosyndikalistInnen durchweg bloß als “Gewerkschafter” oder ihre Aussagen als “gewerkschaftlich” bezeichnen und damit etwa Fernand Pelloutier in eine historische Linie mit DGB-Vorsitzenden wie Sommer oder Hoffmann stellen. Ein empörter Aufschrei würde durch die Reihen anarchistischer HistorikerInnen gehen – und nun mag Döhring vielleicht eine Ahnung davon bekommen, warum ich empört bin. Aber was soll’s: Die Oerter-Texte sind so stark, die widerstehen locker jedem ideologischen Verzerrungsversuch des Herausgebers.