Vor Kurzem erschien im Wiener Verlag Turia + Kant ein Buch des russischen Schriftstellers Andrej Plotanov (1899–1951). Die unter dem Titel „Frühe Schriften zur Proletarisierung 1919–1927“ versammelten Texte setzen sich mit theoretischen Fragen des Kommunismus, aber auch mit verschiedenen Facetten der sozialen Realität in der Sowjetunion auseinander. Der Sozialtheoretiker McKenzie Wark hatte Plotanov in seiner fulminanten Zeitdiagnose „Molekulares Rot. Eine Theorie für das Anthropozän“ (2017) aus der Versenkung der Diskurse gehoben und ihm ein Denkmal gesetzt. (1) Ward lobt Plotanovs literarische Methode, seine Nähe zur Bevölkerung – er stand der Proletkult-Bewegung Alexander Bogdanovs (1873–1928) nahe – und vor allem sein zeituntypisches Gespür für Fragen der Ökologie. Diese Mischung erklärt vielleicht, warum seine gesammelten Texte jetzt in einem Verlag erscheinen, der ansonsten bisher eher mit Publikationen zur Psychoanalyse und zum linken Poststrukturalismus und weniger mit bolschewistischer Propaganda aufgefallen ist.
In dieser Textsammlung nun gibt es einen kurzen Aufsatz von 1920, der mit „Anarchisten und Kommunisten“ überschrieben ist. Und auch wenn ich einerseits Torsten Bewernitz darin zustimme, dass man sich im Verhältnis zwischen Anarchismus und Marxismus „nach dem Zusammenbruch des realen Staatskapitalismus […] auf Gemeinsamkeiten in der Theorie und den Forderungen besinnen“ (2) sollte, ist dieser Plotanov-Text doch aufschlussreich in Bezug auf das Trennende: Er führt noch einmal vor Augen, warum Anarchist*innen im 20. Jahrhundert einen großen Teil ihrer theoretischen und praktischen Energien auf Abgrenzungen zu kommunistischen Marxist*innen verwandten, warum schließlich Kommunist*innen und Anarchist*innen im Mai 1937 in Barcelona (inmitten des gemeinsamen Kampfes gegen den anrückenden Franco-Faschismus) aufeinander schossen und wieso Anarchist*innen und Kommunist*innen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur politisch, sondern auch habituell so unterschiedlich waren, wie Ilja Trojanow sie in seinem Roman „Macht und Widerstand“ so eindrucksvoll beschrieben hat. (3) (Und warum Marc-Uwe Klings kommunistisches Känguru auch nicht ganz recht hat, wenn es dem Kinopublikum zuzwinkert, im Verhältnis zwischen Anarchist*innen und Kommunist*innen würde es nach der Revolution natürlich schwierig werden. Denn „schwierig“ war es auch vorher und währenddessen leider allzu oft.)
Plotanov lässt gleich zu Beginn seines inzwischen einhundert Jahre alten Textes keine Missverständnisse aufkommen: Wenn er von Anarchisten rede, meine er nicht Plünderer und Mörder, nein, nein, er nimmt die Sache ernst: „Der wirkliche Anarchismus“, notiert er korrekt, „ist die Lehre von der Überflüssigkeit und Schädlichkeit jeglicher Macht auf Erden, die Lehre von der Herrschaftslosigkeit.“ (4) Die anarchistische Lehre ist deshalb aber nicht, wie man meinen könnte, die Kampfgefährtin der Lehre des Kommunismus und des proletarischen Kampfes. Sie sei vielmehr „eine Blutsverwandte, direkte Nachfolgerin der Lehre der Bourgeoisie“ (5). Wieso das? Zwar sieht Plotanov sehr wohl, dass auch der Anarchismus den Kapitalismus abschaffen will, doch er tue dies im Namen einer Freiheit, die er als in der Natur des Menschen angelegt betrachte. Diese Haltung gleiche derjenigen der Kapitalist*innen, die den Privatbesitz als Effekt natürlicher Neigungen interpretierten. Der Anarchismus sei deshalb nichts weiter als eine „Weiterentwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Lehre“ (6) mit ihrer Grundlage des freien Willens, der sich die gesamte Welt zu eigen machen solle. Die Annahme über die Natur des Menschen und die Forderung nach individueller Freiheit, die den Anarchismus auszeichnen, sind für Plotanov die Grundlagen für sein Verdammungsurteil. Denn mit diesen Konzepten töte man das Kapital nicht, „man streichelt es nur“ (7).
Ganz anders die Kommunist*innen. Sie wollen den Kapitalismus gar nicht töten, sondern weiterentwickeln. „Sie machen das Kapital nur allgemeinmenschlich, geben ihm eine globale Organisation, eine strenge, präzise Form und eine einheitliche Färbung“ (8). Dieses Ziel werde nicht in und durch Individuen verfolgt und verwirklicht, sondern nur im und durch das Proletariat als Ganzes. Kollektivbesitz und Regulierung statt individueller Freiheit ist das Programm. Wurde die Weiterentwicklung der kapitalistischen Lehre dem Anarchismus am Anfang des Textes noch zum Vorwurf gemacht, heißt es am Ende jubilierend: „Der Kommunismus ist die Weiterentwicklung des Kapitalismus, die Vollendung seiner Form“ (9). Und zwar insofern, als das Eigentum allen gehöre. Der Anarchismus hingegen sei eine „schlichte Ausweitung des Kapitals“ (10), weil er den Wunsch verkörpere, als Einzelne*r alle anderen zu besiegen, also Bourgeois zu sein oder gar Gott. Damit endet der Text.
Plotanov liegt mit seiner lehrstückhaften Polemik rückblickend einerseits natürlich total falsch. Während die kommunistische Strenge und Präzision in der Weiterentwicklung des Kapitalismus zum Grau und Grauen des Staatssozialismus geführt hat, trug das anarchistische Beharren auf individueller Freiheit nicht wenig zur Ausweitung von Rechten und zur Demokratisierung von Gesellschaften bei.
Andererseits trifft Plotanov aber sicherlich einen Punkt, wenn er das für den Anarchismus konstitutive Vertrauen auf die Natur des Menschen kritisiert. Denn dies hat den Anarchismus in die Strategie- und damit letztlich in die politische Bedeutungslosigkeit geführt. Die Hoffnung auf die Aktivierung des guten Wesens ersetzte nur allzu oft die strategische Intervention in gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Darüber hinaus ist auch die Offenheit eines freiheitlichen Individualismus in Richtung „Ausweitung des Kapitals“, also in Richtung neoliberaler Deregulierung und Privatisierung, nicht ganz von der Hand zu weisen. Da braucht es ein kollektivistisches Korrektiv. Denn der Markt ist die Antithese zum Gemeinwohl.
Für Plotanov erscheint es offenbar abwegig, Anarchismus und Kommunismus nicht als Gegensätze, sondern gemeinsam zu denken. Das ist auch beim Anarchisten Trojanow noch so, insofern dessen Roman-Protagonisten unterschiedlicher nicht sein könnten und einfach Gegenpole verkörpern, eben Macht (der polternde Kommunist) und Widerstand (der bescheidene Anarchist). Demgegenüber müsste es – mit Bewernitz gesprochen – genau um die „Gemeinsamkeiten in der Theorie und den Forderungen“ gehen. Kurz: Um Anarchokommunismus. Aus postanarchistischer Perspektive sind Annahmen über die sogenannte Natur des Menschen als Grundlage für Politik sicherlich zu verwerfen. Am Anspruch aber, die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens auszubauen und sie zugleich an eine kollektive Dimension des guten Lebens für alle zu knüpfen, ist unbedingt festzuhalten. Neue Sozialbeziehungen jenseits der Wettbewerbslogik aufbauen, am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaften durchsetzen – das würde den Kapitalismus wohl weder ereignishaft töten noch bloß streicheln, sondern langfristig umstürzen.
Oskar Lubin
(1) McKenzie Wark: Molekulares Rot. Eine Theorie für das Anthropozän. Berlin 2017 (Verlag Matthes & Seitz).
(2) Torsten Bewernitz: „Give the Anarchist a theory. Renaissance des libertären Kommunismus?“ In: Grundrisse, Nr. 32, 2008, https://www.linksnet.de/artikel/20951
(3) Ilja Trojanow: Macht und Widerstand. Frankfurt am Main 2015 (S. Fischer Verlag)
(4) Andrej Plotanov: „Anarchisten und Kommunisten“ [1920]. In: Ders.: Frühe Schriften zur Proletarisierung 1919–1927. Wien/ Berlin 2019 (Verlag Turia + Kant), S. 28-30, hier S. 30.
(5) Ebd., S. 28.
(6) Ebd., S. 29.
(7) Ebd.
(8) Ebd.
(9) Ebd., S. 30
(10) Ebd.
Tipp der Redaktion
Zum Thema siehe auch „Anarchismus vs. Kommunismus?“ - Ein Streitgespräch zwischen Bernd Drücke (Graswurzelrevolution-Red.) und Carsten Schmitz (Vorstandssprecher von DIE LINKE. KV Münster):