Stichworte zum Postanarchismus 25

Moral

Mikropolitik der Gerechtigkeit statt Besser-Werden

| Oskar Lubin

Der Schuster Martin van den Bergh war Anarchist. Als alter Mann noch arbeitete er im Kibbuz und reparierte Schuhe. Zum Rauchen nahm er die Sauerstoffmaske vom Gesicht, die ihm das Atmen erleichterte. Er hatte die Shoah überlebt, hielt Privateigentum für das Verderben der Menschheit und gab Esperanto-Unterricht. Er war ein gutmütiger Mensch, Vegetarier, seine Wohnung war mönchisch möbliert, kurz, er war moralisch integer wie es wahrscheinlich nur Anarchist*innen in der Literatur sind.

Martin van den Bergh lebt in einem Band von Erzählungen des israelischen Schriftstellers Amos Oz mit dem Titel Unter Freunden. Sollte ich einmal eine Studie über Anarchist*innen in der fiktionalen Literatur schreiben, würde sie mit Martin van den Bergh beginnen (wenn nicht mit Oskar Lubin, der in einem Roman von Salman Rushdie eine winzige Nebenrolle spielt). Eine Hypothese wäre: Wenn Anarchist*innen in der Literatur nicht schurkenhafte Bombenleger und verderbte, nur am eigenen Vorteil interessierte Individualist*innen sind, dann sind sie wie Martin van den Bergh. Und das heißt, sie sind moralisch durch und durch, verkörpern das Gute schlechthin, sind nett, zuvorkommend, großzügig. Denn sie setzen ihre hehren Ideale in der alltäglichen Praxis um. Die literarische Darstellung orientiert sich an der Ziel-Mittel-Relation, die die meisten Strömungen des Anarchismus auszeichnet: Wollen wir eine herrschaftsfreie Gesellschaft (Ziel), müssen wir sie auch in den Formen unseres politischen wie persönlichen Handelns (Mittel) schon so gut wie möglich vorwegnehmen. Mit den beschriebenen Eigenschaften, das muss erwähnt werden, sind die Anarchist*innen wie der Typus Martin van den Bergh in der fiktionalen Erzählung allerdings meist zum Scheitern verurteilt. Irgendwie ist die Welt dann doch immer zu schlecht, als dass sie mit ihrer Gutmütigkeit unbeschadet durchkommen würden. Oder es tun sich doch noch, anders als bei Martin van den Bergh, Abgründe auf. Verstoßene Kinder, Jugendsünden, Karrierismus, Sexismus, Leichen im Keller.
Schließlich ist es auch nicht so einfach, in einer ungerechten sozialen Umgebung die Gerechtigkeit und in einem Kontext voll von Herrschaft die Anarchie zu repräsentieren. Peter Kropotkin, einer der wohl wichtigsten anarchistischen Theoretiker*innen, hatte darauf gesetzt, dass sich moralisches Handeln in der Geschichte der Menschheit mehr und mehr durchsetzen und es somit auch immer leichter fallen würde. Kropotkin meinte in seiner beeindruckenden Geschichte der Ethik aufzeigen zu können, dass es keinerlei religiöser Grundlegung bedürfe, damit die Menschen sich nicht ständig hintergehen und sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Er glaubte stattdessen fest an ein in der Natur verankertes „Bewusstsein der Gleichberechtigung“ (1), das sich irgendwann schon bahnbrechen würde.

Knapp einhundert Jahre nach Erscheinen seiner Schrift (und rund 120 Jahre nach deren Abfassung) deutet wenig darauf hin, dass Kropotkins anarchistischer Optimismus gerechtfertigt gewesen wäre. Zwar wird ohne Zweifel viel Gutes getan, sogar in politisch organisierter Form, also als Solidarität. Aber in der Natur, wenn denn bezogen auf menschliche Praxis überhaupt irgendetwas in ihr liegt, hat sich das Böse und Schlechte mindestens ebenso hartnäckig abgelagert wie das Gute. Im Alltag des sozialen Mit- und Gegeneinanders jedenfalls kommt es nicht weniger vor als in politischen Institutionen.

In mindestens einer Hinsicht bleibt Kropotkin allerdings aktuell. Indem er moralisches Handeln konzeptionell auf Gleichberechtigung bezieht, definiert er es als politisch relevant. Moral in Aktion ist dann nicht nur Barmherzigkeit und auch keine Befolgung gesellschaftlicher Konventionen. Sie ist stattdessen ein Handeln, das Gleichberechtigung verwirklichen helfen soll, also ein Schritt in Richtung Sozialismus. Die linke Abneigung gegen moralische Ansprüche sollte also durchaus überdacht werden. Denn Moral im Kropotkin`schen Verständnis ist nicht der christliche Befehl, sich zu bessern und auch nicht der kapitalistische Verwertungsaufruf, besser zu werden. Es geht vielmehr um die mikropolitische Installation sozialer Gleichheit. Zu streiten wäre allerdings darum, in welcher Form, in welchen Situationen und selbstverständlich auch mit welchen Korrekturinstanzen moralische Maßstäbe an Praxis angelegt werden sollten. Denn der Grat zwischen der einigermaßen konsequenten Umsetzung libertär-sozialistischer Ansprüche und dem repressiven Tugendwächtertum überzeugter In-Groups ist bekanntlich schmal.

Am Ende seines Lebens sagt Martin van den Bergh, „eigentlich sei auch der Tod ein Anarchist“(2), weil er keine Unterschiede in Stand und Rang anerkenne. So gesehen ist vielleicht nicht auch, sondern allein der Tod anarchistisch, weil das Leben niemals rein und stets widersprüchlich ist. Man würde wohl verrückt werden bei der Nicht-Anerkennung sämtlicher Unterschiede im Sozialen – davon abgesehen, dass es durchaus sinnvoll sein kann, beispielsweise die Differenz zwischen Expert*innen und Lai*innen anzuerkennen, etwa in medizinischer oder landwirtschaftlicher Hinsicht. Auch würde man wohl durchdrehen oder allzu diszipliniert leben müssen bei den Versuchen, ein moralisch total integres, also in Richtung Gleichberechtigung makelloses Leben zu führen. Stattdessen aber die moralische Dimension der Praxis für den politischen Kampf auszublenden oder sie als christlich-kapitalistischen Besserungsimperativ abzutun, umgeht bloß die entscheidenden Fragen nach einer von unten durchzusetzenden Gerechtigkeit.

(1) Peter Kropotkin: Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten. [1923] Aschaffenburg: Alibri Verlag 2013, S. 322.
(2) Amos Oz: Unter Freunden. Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, S. 211.

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