Thomas Billstein: Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945 mit Illustrationen von moteus. Unrast-Verlag, Münster 2020, 344 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-89771-278-2
Das im Oktober 2020 von Thomas Billstein herausgegebene Buch gibt den Toten seit 1970 nicht nur ein Gesicht, sondern führt die Umstände ihres Todes, soweit bekannt, aus. Letzteres ist genau der Knackpunkt, um den sich das Buch dreht – so sind von einigen Opfern nicht einmal die Namen bekannt, vor allem im Fall der rechten Morde, bei denen sozialdarwinistische Motive im Vordergrund stehen. Der gemeinsame Nenner: Der Großteil der Morde ist nicht als rassistische und faschistische Tat anerkannt. Das hat nicht nur Folgen für das Umfeld und die Hinterbliebenen. Es sendet auch an viele Menschen die Botschaft „auf dem rechten Auge blind“.
Nach der zum großen Teil für empathische Menschen bedrückenden und schwierigen Lektüre der einzelnen Fälle erhärtet sich die Einschätzung, dass der Feind für den Staat nach wie vor links steht. Ganz gleich, wie viele Opfer Faschisten seit Ende des Faschismus und der Gründung der Bundesrepublik auf dem Kerbholz haben; ganz gleich, ob mit Politikern wie Walter Lübcke oder PolizistInnen auch VertreterInnen des Staates ermordet wurden.
Ein Hintergrund, der nicht erst seit dem Mordanschlag mit späterer Todesfolge an dem Sprecher der APO, Rudi Dutschke, und der wochenlangen Hetze der Springer- und sonstigen Presse gegen die StudentInnenbewegung der 60er Jahre für ein gesellschaftliches Klima sorgte, das den rechten Tätern eine Rechtfertigung für ihre Taten lieferte. Ein Klima, in dem rechte Banden wie die Wehrsportgruppe Hoffmann, in denen Täter ihre praktische Ausbildung durchliefen, ihre Fäden bis weit hinein in die „bürgerliche Mitte“ spinnen konnten.
Der akribischen Befassung des Autors mit den Untersuchungsmethoden ist zu verdanken, dass der staatlicherseits beliebten, reflexartig behaupteten Einzeltätertheorie deutlich widersprochen wird: Im Gegenteil sind, so Thomas Billstein: „Fälle, in denen nur eine Person alleine die Tat ausführt und für den Tod von Menschen verantwortlich ist, [… ] die Ausnahme“. Von den 225 bekannten Angriffen mit einem oder mehreren Todesfällen ergibt sich nach dem Kenntnisstand des Autoren in etwas mehr als der Hälfte der Fälle ein Hintergrund mit Gruppen als UnterstützerInnen; bei weiteren 18 Prozent wird eine weitere tatbeteiligte Person verdächtigt. Bei den 71 erfassten AlleintäterInnen sind jedoch auch solche, die weitere eventuelle Tatbeteiligte verschwiegen haben.
Es ist derselbe Geist, der Gerald Braunberger, einen der Herausgeber der FAZ, am 7. Januar 2021 angesichts rechter Massenkrawalle am und im Kapitol in Washington von „Rabauken“ schwafeln lässt und der sich auf der anderen Seite, wie Thomas Billstein herausarbeitet, in bürokratischen Mechanismen bei der Erfassung des Motivs und des Hintergrundes rechter Mörder ausdrückt: So wissen wohl nur wenige Menschen, dass es sich bei dem Meldesystem für „politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) um eine Eingangsstatistik handelt. Das bedeutet, dass die Erfassung unmittelbar nach Bekanntwerden durch die Polizei erfolgen soll, zu einem Zeitpunkt, bei dem das Motiv gerade bei Mordfällen nicht unbedingt auf der Hand liegt. Dass diese Statistik der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, ist da konsequent.
Das Buch macht dagegen deutlich: In den meisten Fällen war es der Hartnäckigkeit Hinterbliebener und ihrer AnwältInnen, von ZeugInnen und antifaschistischen Gruppen zu verdanken, dass die rechten Taten als solche offiziell anerkannt wurden. Allein schon die Tatsache, dass es zur Zahl der Opfer – je nach Erhebung – so viele Zählweisen wie Ergebnisse gibt, ist bitter: Staatliche Stellen sprechen von 106 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990, Thomas Billstein stellt dagegen 168 weitere sowie 41 Verdachtsfälle fest.
Hinter den nackten Zahlen stehen jedoch vor allem auch die Folgen für die Hinterbliebenen. Diese sind oft verheerend – müssen sie sich doch gegen zum Teil jahrzehntelange Verdächtigungen zur Wehr setzen, die Opfer seien selbst in Drogen- oder Bandenkriminalität verstrickt und die Tat das Ergebnis dessen, wie bei verschiedenen Opfern des NSU kolportiert wurde. Von der Anerkennung hängt zudem meist auch die weitere finanzielle Existenz ab.
Die Hoffnung des Autoren, dass nie wieder weitere Todesopfer zur Liste rechter Gewalt hinzugefügt werden müssen, ist zu unterstützen. Das Buch, das zum Handwerkszeug jedes antifaschistisch eingestellten Menschen gehört, ist nicht nur einzigartig, sondern bringt vor allem Licht ins Dunkel des Umfangs, den der rechte Terror in Deutschland kontinuierlich aufweist. Seit 1984 verging kein Jahr ohne Todesopfer rechter Gewalt.