Verurteilt zu 52 Jahren Gefängnis

Wie Griechenland Menschen auf der Flucht zu „Schleppern“ kriminalisiert

| You can`t evict Solidarity

"2021-03-18 Kundgebung zum "Tag der poltischen Gefangenen" von Links Unten Göttingen ist lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0

Am Freitag, den 23. April 2021, fand in Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos der Prozess gegen K. S., einen jungen, aus Syrien geflüchteten Mann, statt. Er wurde wegen „unerlaubter Einreise“ und „Beihilfe zur illegalen Einreise“ zu 52 Jahren Haft verurteilt. Prozessbeobachter_innen der Initiativen „You Can`t Evict Solidarity“, Christian Peacemaker Teams (CPT) - Aegean Migrant Solidarity und borderline-europe bewerteten das Urteil als Skandal. Sie kritisierten das unfaire Verfahren und forderten die sofortige Freilassung des Angeklagten.

Hintergrund

Wie er im Prozess schilderte, floh der Angeklagte K. S. mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Türkei. Dort weigerte er sich, an dem türkischen Militäreinsatz im Bürgerkrieg in Libyen teilzunehmen, und wurde daraufhin inhaftiert und gefoltert. Es gelang ihm mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern weiter bis in die EU zu fliehen. Als die Familie die griechische Insel Chios Anfang März 2020 erreichte, wurde ihnen – wie allen Menschen, die zu dieser Zeit in Griechenland ankamen – das Recht auf Asyl für einen Monat verweigert. Der Hintergrund, der im Prozess auch von einer Zeugin von CPT – Aegean Migrant Solidarity geschildert wurde, ist, dass der griechische Staat im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU das Recht auf Asyl zeitweise rechtswidrig ausgesetzt hatte und systematisch Strafanzeigen wegen „illegaler Einreise“ gegen Migrantinnen und Migranten erhob, die in Europa um Schutz suchten. Des Weiteren wurde K.S. nach der Ankunft zu Unrecht beschuldigt das Boot, mit dem er und seine Familie auf Chios ankamen, gesteuert zu haben und zusätzlich wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ sowie dem „Herbeiführen eines Schiffsunfalls“ angeklagt.

Die Erhebung solcher Anklagen gegen auf den griechischen Inseln ankommende Migrant*innen, die angeblich als Bootsfahrer*innen identifiziert wurden, ist seit einigen Jahren ein systematisches Vorgehen des griechischen Staates. Sie beruht auf der absurden Vorstellung, dass jede*r, der*die ein Schlauchboot mit Schutzsuchenden fährt, ein*e „Schmuggler*in“ sei. Oft sind die Beschuldigten selbst Schutzsuchende und wurden zum Fahren des Bootes genötigt. In der Praxis bedeutet die Verfolgung von „Schmuggler*innen“, dass jemandem aus einem ankommenden Schlauchboot angeklagt wird, das Boot gefahren zu haben, ob er es nun war oder nicht. Sie werden ohne ausreichende Beweise meist noch vor Ort verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft verwahrt. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauern ihre Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten und sie werden zu hohen Haftstrafen von teilweise über 100 Jahren Gefängnis mit sehr hohen Geldstrafen verurteilt. Die Verfahren laufen nach Einschätzung von Prozessbeobachter_innen nicht fair und rechtsstaatlich ab. Ein Bericht von CPT – Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean dokumentiert Hunderte solcher Fälle von Menschen, die wegen diesen Vorwürfen in griechischen Gefängnissen sitzen (1). Zuletzt wurden im vergangenen Jahr unter anderem die beiden Geflüchteten Amir und Razouli im Rahmen eines solchen Verfahrens zu 50 Jahren Haft verurteilt und warten nun im griechischen Gefängnis auf ihre Berufungsverhandlung im März 2022 (2).

Kein Einzelfall

Nach über einem Jahr Untersuchungshaft und nachdem das Verfahren kurzfristig auf Freitag, den 23. April 2021, verschoben worden war, wurde der Angeklagte K.S. in nur wenigen Stunden wegen „unerlaubter Einreise“ und als „Schmuggler“, wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“, zu 52 Jahren Haft verurteilt. Diese ergeben sich aus 10 Jahren plus ein Jahr für jede Person, die sich aus Sicht des Gerichts auf dem Boot befand. Zusätzlich wurde eine Geldstrafe von 242.000 Euro verhängt, obwohl er von den Anklagepunkten „Herbeiführen eines Schiffsunfalls“ und „Widerstand“ freigesprochen wurde.

K.S. wurde nicht wegen seiner Schuld an „Verbrechen“, für die er angeklagt war, verurteilt, sondern stellvertretend, um die Migration nach Europa im Allgemeinen zu verurteilen. Vor Gericht war er abfälligen Aussagen ausgesetzt, wurde über seinen muslimischen Glauben befragt und gefragt, warum er nicht in Syrien geblieben sei, um für sein Land zu kämpfen. Der Prozess war von großen Unregelmäßigkeiten durchsetzt. So basierte die Anklage der Staatsanwaltschaft auf widersprüchlichen Listen über die Anzahl der Menschen auf dem Boot. Der Hauptzeuge der Anklage, ein Offizier der Küstenwache, sagte sehr detailliert aus, machte aber keine Aussage zu der wichtigen Frage, ob er den Angeklagten beim Fahren des Bootes gesehen habe. Im Gegenzug sagte die Frau des Angeklagten als Zeugin aus und bestätigte, dass er das Boot nicht gefahren habe. Bereits die erste Vernehmung vor dem Prozess wurde von einem Dolmetscher in Farsi übersetzt, obwohl der Angeklagte Arabisch spricht. Als sogar der Offizier der Küstenwache am Ende seiner Zeugenaussage erklärte, dass K.S. freigelassen werden sollte, weil er aus einem Kriegsgebiet geflohen sei, entgegnete der Staatsanwalt, dass er in der Türkei hätte bleiben können – unfassbar, da K.S. dort inhaftiert und gefoltert worden war.

Ein Mitglied des Christian Peacemaker Teams – Aegean Migrant Solidarity stellte fest, dass Migrant_innen, die in Europa Zuflucht suchen würden und des Verbrechens der Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt seien, offensichtlich nicht erwarten könnten, dass sie vor dem Gericht in Mytilini einen fairen Prozess erhalten würden. K.S. wurde verurteilt, ohne dass Beweise vorlagen, die ihn eindeutig identifizierten. Dies ist bezeichnend für ein Justizsystem, das den lautstarken Teil der lokalen Gesellschaft bedient, der einen Sündenbock für die Migration auf die Insel sucht. Seine Anwältin und sein Anwalt vom Legal Center Lesbos legten sofort nach dem Urteil Berufung ein. K.S. muss die Zeit bis zur Berufungsverhandlung, vermutlich in etwa einem Jahr, wieder im berüchtigten Gefängnis Korydallos auf dem griechischen Festland verbringen.

Johannes Körner von der Kampagne „You can`t evict Solidarity“ erklärte zum Abschluss, dass sie den Angeklagten weiterhin solidarisch unterstützen würden und forderte Griechenland und die Europäische Union auf, die willkürliche Inhaftierung von Flüchtlingen und Migrant_innen sofort zu beenden. Zusätzlich forderte er die sofortige Freilassung des Angeklagten. Außerdem müssten die noch ausstehenden derartigen Prozesse fallengelassen werden – oder zumindest vor einem anderen Gericht als dem voreingenommenen Gericht in Mytilini verhandelt werden.

You can`t evict Solidarity

Die Solidaritäts-Kampagne „You can`t evict Solidarity“ unterstützt den Angeklagten und beobachtet den Prozesse solidarisch. Unter cantevictsolidarity.noblogs.org werden Updates zum Prozess veröffentlicht, zusätzlich wird dringend um Spenden gebeten.

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