In dieser Ausgabe der Graswurzelrevolution drucken wir das Manuskript eines Vortrags desPolitikwissenschaftlers John Holloway ab. Die Rede wurde während der Online-Tagung „Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten?“ gehalten, die vom 19.-21.03.2021 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (1) stattgefunden hat. (GWR-Red.)
Wo ist der Ausweg, wie kann die jetzige Katastrophe beendet werden? Wie ziehen wir die Notbremse?
Wir leben in einem gescheiterten System. Es wird täglich deutlicher, dass die gegenwärtige gesellschaftliche Organisation ein Desaster ist, dass der Kapitalismus nicht in der Lage ist, ein annehmbares Leben sicherzustellen. Die Covid-Pandemie ist kein natürliches Phänomen, sondern ein Ergebnis der gesellschaftlichen Zerstörung der Biodiversität, und es ist wahrscheinlich, dass weitere Pandemien folgen werden. Die Erderwärmung, die menschliche sowie viele nicht-menschliche Lebensformen bedroht, ist Ergebnis der kapitalistischen Zerstörung zuvor erreichter Gleichgewichte. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Geld als herrschendem Maß gesellschaftlichen Werts zwingt einen Großteil der Weltbevölkerung dazu, unter elenden und prekären Bedingungen zu leben.
Die durch den Kapitalismus hervorgerufene Zerstörung findet mit wachsender Geschwindigkeit statt. Wachsende Ungleichheit, zunehmender Rassismus und Faschismus, wachsende Spannungen zwischen Staaten, ein überall anhaltendes Wachstum der Macht von Polizeien und Armeen. Darüber hinaus hängt das Überleben des Kapitalismus von der ständigen Ausweitung der Akkumulation von Schulden ab, die wahrscheinlich irgendwann zusammenbrechen wird.
Die Situation ist dringlich, wir Menschen sind jetzt mit der wirklichen Möglichkeit unserer eigenen Auslöschung konfrontiert.
Wo ist der Ausweg, wie kann die jetzige Katastrophe beendet werden? Die traditionelle Antwort derjenigen, die sich der durch das Kapital verursachten Zerstörung bewusst sind, lautet: durch den Staat. Politische Denker und Politiker vom späten Hegel bis hin zu Keynes und Roosevelt und jetzt Biden haben den Staat als Gegengewicht zur durch das Kapital angerichteten Zerstörung angesehen. Die Staaten werden das Problem der Erderwärmung lösen, die Staaten werden die Zerstörung der Biodiversität richten, die Staaten werden die von der gegenwärtigen Krise hervorgerufene massive Not und Armut wiedergutmachen. Gebt bloß den richtigen Anführern Eure Stimme und alles wird in Ordnung sein. Und wenn du sehr besorgt bist über das, was gerade passiert, dann stimme einfach für radikalere Anführer, für Sanders oder Corbyn oder Die Linke oder Podemos oder Evo Morales oder Maduro oder López Obrador und alles wird in Ordnung sein.
Das Problem mit dieser Argumentation ist, dass die Erfahrung zeigt, dass es nicht funktioniert. Linke Anführer haben ihre Versprechen niemals erfüllt, haben niemals die Veränderungen erreicht, die sie versprochen haben. In Lateinamerika waren die linken Politiker, die während der sogenannten Rosa Welle zu Beginn dieses Jahrhunderts an die Macht gekommen waren, eng mit dem Extraktivismus und anderen Formen zerstörerischer Entwicklung verbunden. Der tren maya (2), der gegenwärtig López Obradors bevorzugtes Projekt in Mexiko ist, ist dafür bloß das jüngste Beispiel. Linke Parteien und Politiker mögen kleinere Veränderungen bewirken, aber sie haben überhaupt nichts dazu beigetragen, die zerstörerische Dynamik des Kapitals zu brechen.
Aber nicht nur die Erfahrung zeigt uns, dass der Staat nicht das Gegengewicht zum Kapital ist, das er zu sein scheint. Theoretische Reflexion führt zu demselben Ergebnis. Der Staat, der als vom Kapital getrennte Form erscheint, wird tatsächlich vom Kapital hervorgebracht und hängt von diesem für seine Existenz ab. Der Staat ist kein Kapitalist und seine Arbeiter erschaffen insgesamt nicht die Erträge, die er für seine Existenz benötigt. Die Erträge entstehen aus der Ausbeutung von Arbeitern durch das Kapital, sodass der Staat tatsächlich von dieser Ausbeutung, also von der Akkumulation des Kapitals, abhängig ist, um seine eigene Existenz zu reproduzieren. Der Staat ist eben durch seine Existenzform gezwungen, die Akkumulation des Kapitals zu befördern. Das Kapital hängt ebenfalls von der Existenz einer Instanz ab, die nicht wie ein Kapitalist handelt und die als vom Kapital getrennt erscheint, um seine eigene Reproduktion sicherzustellen. Der Staat scheint das Zentrum der Macht zu sein, tatsächlich aber liegt die Macht bei den Kapitaleignern, das heißt, bei den Personen, die ihre Existenz der Expansion des Kapitals widmen. Anders ausgedrückt, stellt der Staat kein Gegengewicht zum Kapital dar: er ist Teil derselben unkontrollierbaren Dynamik der Zerstörung. (Diese theoretischen Überlegungen stellen meiner Ansicht nach den Kern der sogenannten Staatsableitungsdebatte (3) der 1970er Jahre dar.)
Die Tatsache, dass der Staat an das Kapital gebunden ist, bedeutet, dass er uns ausschließt. Die staatliche Demokratie ist ein Prozess des Ausschlusses der sagt, „komm und stimme alle vier oder fünf Jahre für uns, gehe dann nach Hause und akzeptiere, was wir beschließen“. Der Staat ist die Existenz eines Organs von Funktionsträgern, die die Verantwortung dafür übernehmen, die Reproduktion der Gesellschaft sicherzustellen (natürlich in einer Form, die mit der Reproduktion des Kapitals kompatibel ist). Sie tragen die Verantwortung, sie nehmen uns diese Verantwortung weg. Aber was auch immer ihre Absichten sein mögen, ist es ihnen doch nicht möglich, diese Verantwortung zu erfüllen, weil sie nicht über die Gegenmacht verfügen, die sie zu haben scheinen: was sie tun und wie sie es tun, wird von der Notwendigkeit, die Reproduktion des Kapitals sicherzustellen, bestimmt. Gegenwärtig sprechen Politiker von der Notwendigkeit eines radikalen Neustarts, sobald die Welt aus der Pandemie herauskommt, aber nirgendwo spricht ein Politiker oder Regierungsbeamter davon, dass die Abschaffung eines auf das Streben nach Profit begründeten Systems Teil dieses Neustarts sein muss.
Wenn der Staat nicht die Antwort auf die kapitalistische Zerstörung ist, dann folgt daraus, dass auch die Kanalisierung unserer Anliegen in politische Parteien nicht die Antwort sein kann, da Parteien Organisationen sind, die Änderungen mittels des Staates hervorzubringen versuchen. Versuche, eine radikale Veränderung durch Parteien und die Übernahme der Staatsmacht herzustellen, haben generell zur Erschaffung von autoritären Regimen geführt, die mindestens so schlecht waren, wie diejenigen, gegen die sie gekämpft haben.
Wenn also der Staat nicht die Antwort ist, wo ist dann der Ausweg, wie beenden wir dann die jetzige Katastrophe? Wir nehmen selbstverständlich an einer Konferenz wie dieser teil, um anarchistische Antworten zu diskutieren. Aber es gibt dabei mindestens drei Probleme: erstens nehmen hier nicht die Millionen Menschen teil, die wir für eine wirkliche Richtungsänderung benötigen; zweitens haben wir keine Antworten und drittens ist die Bezeichnung „Anarchismus“ wahrscheinlich nicht hilfreich.
Warum sind hier nicht Millionen von Menschen? Es gibt sicherlich ein weit verbreitetes und wachsendes Gefühl der Wut und der Verzweiflung, ein Bewusstsein, dass das System nicht funktioniert. Warum bewegt sich diese Wut in die andere Richtung, entweder hin zu linksreformistischen Parteien (Die Linke, Sanders, Corbyn, Tsipras) oder zur extremen Rechten? Es gibt viele Erklärungen, aber eine, die mir wichtig erscheint, ist Leonidas Oikonomakis’ Kommentar zur Wahl von Syriza in Griechenland im Jahr 2015, dass die Menschen, selbst nach Jahren sehr militanter anti-staatlicher Proteste gegen Austerität, immer noch davon ausgingen, dass der Staat „die alleinige Option“ sei. Wenn wir an die Erderwärmung denken, ein Ende der Gewalt gegen Frauen, eine Kontrolle der Pandemie, eine Lösung unserer wirtschaftlichen Verzweiflung in der gegenwärtigen Krise, ist es weiterhin schwierig, nicht davon auszugehen, dass die Antworten beim Staat liegen, selbst wenn wir wissen, dass sie dort nicht liegen.
Vielleicht müssen wir die Vorstellung von Antworten aufgeben. Wir haben keine Antworten. Es kann sich nicht darum drehen, anarchistische Antworten den Antworten des Staates gegenüberzustellen. Der Staat gibt die Antworten, falsche Antworten. Wir haben Fragen, drängende Fragen, neue Fragen, denn diese Situation einer bevorstehenden Auslöschung, hat niemals zuvor existiert. Wie können wir die destruktive Dynamik des Kapitals anhalten? Die einzige Antwort darauf ist, dass wir es nicht wissen.
Aus zwei Gründen ist es wichtig zu sagen, dass wir es nicht wissen. Erstens, weil es wahr ist. Wir wissen nicht, wie wir die gegenwärtige Katastrophe beenden können. Wir haben Ideen, aber wir wissen es nicht wirklich. Und zweitens, weil eine Politik der Fragen sich sehr von einer Politik der Antworten unterscheidet. Wenn wir die Antworten haben, ist es unsere Aufgabe, sie anderen zu erklären. Dies macht der Staat, dies machen Avantgardeparteien. Wenn wir Fragen haben, aber keine Antworten, dann müssen wir sie zusammen diskutieren, um zu versuchen, vorwärtsweisende Wege zu finden. Preguntando caminamos (4), wie die Zapatist:innen sagen. Der Prozess des Fragens und Zuhörens ist nicht der Weg zu einer anderen Gesellschaft, es ist bereits die Erschaffung einer anderen Gesellschaft. Das Fragen-Zuhören ist bereits die gegenseitige Anerkennung unserer unterschiedlichen Würden. Wir fragen-und-hören-dir-zu, weil wir deine Würde anerkennen. Dies ist das Gegenteil von staatlicher Politik. Der Staat spricht. Er gibt vor zu-fragen-und-zuzuhören, aber er tut es nicht und kann es nicht, denn seine Existenz hängt von der Reproduktion einer Form gesellschaftlicher Organisation ab, die auf der Herrschaft des Geldes gegründet ist.
Unser Fragen-Zuhören ist eine anti-identitäre Bewegung. Wir erkennen deine Würde nicht deswegen an, weil du ein Anarchist oder Kommunist bist, oder Deutscher oder Österreicher oder Mexikaner oder Ire oder weil du eine Frau oder schwarz oder indigen bist. Etiketten sind sehr gefährlich, selbst wenn es „nette“ Etiketten sind, denn sie erschaffen identitäre Unterscheidungen. Zu sagen, „Wir sind Anarchisten“, ist in sich widersprüchlich, denn es reproduziert die identitäre Logik des Staates: wir sind Anarchisten, ihr nicht; wir sind Deutsche, ihr nicht. Wenn wir gegen den Staat sind, bedeutet das, dass wir auch gegen seine Logik sind, gegen seine Grammatik.
Wir haben keine Antworten, aber unser Gehen-Fragen beginnt nicht bei Null. Es ist Teil einer langen Geschichte des Gehens-Fragens. In diesen Tagen feiern wir just den 150sten Jahrestag der Pariser Kommune und den hundertsten Jahrestag des Kronstädter Aufstands. In der Gegenwart inspiriert uns die Erfahrung der Zapatisten, gerade wo sie dabei sind, ihre Reise über den Atlantik zu organisieren, um sich in diesem Sommer mit den Gehenden-Fragenden in Europa zu verbinden. (5) Und natürlich betrachten wir die tief verankerte Praxis von Räten in der kurdischen Bewegung unter den furchtbar schwierigen Bedingungen ihres Kampfes. Und darüber hinaus die Millionen von Rissen, in denen Menschen sich auf einer anti-hierarchischen Grundlage gegenseitiger Anerkennung zu organisieren versuchen. Es ist einfach nicht wahr, dass der Staat die einzige Option ist. Wir müssen von den Dächern rufen, dass es eine andere, seit langem bestehende Option gibt: die Option, die Sachen selbst zu machen, kollektiv.
Die Organisierung in der Tradition von Kommunen oder Räten geschieht nicht auf der Basis von Auswahl-und-Ausschluss sondern auf der Grundlage eines Zusammenkommens derjenigen, die da sind, gleich ob im Dorf, in der Nachbarschaft oder der Fabrik, mit allen Unterschieden, ihren Streitereien, ihren Verrücktheiten, ihren Gemeinheiten, ihren geteilten Interessen und gemeinsamen Anliegen. Die Organisierung ist nicht instrumentell: sie ist nicht als bester Weg erschaffen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, denn sie ist ihr eigenes Ziel. Sie hat keine abschließend definierte Mitgliedschaft, da es ihr Ziel ist, hinzuzuziehen, nicht auszuschließen. Ihre Diskussionen zielen nicht darauf ab, die korrekte Linie zu definieren, sondern Unterschiede zum Ausdruck zu bringen und ihnen gerecht zu werden, hier und jetzt die gegenseitige Anerkennung, die im Kapitalismus negiert wird, sorgsam aufzubauen. Dies bedeutet nicht die Unterdrückung von Debatten, sondern im Gegenteil, einen konstanten Diskussions- und Kritikprozess zu führen, der nicht auf die Eliminierung, Denunzierung oder Etikettierung des Gegners abzielt, sondern auf die Aufrechterhaltung der kreativen Spannung des Zusammenhaltens. Ein immer schwieriges gegenseitiges Anerkennen der Würden, die in unterschiedliche Richtungen ziehen.
Der Rat oder die Kommune ist eine Bewegung der Selbstbestimmung: durch Fragen-Zuhören-Denken werden wir entscheiden, wie die Welt sein soll, nicht indem wir den blinden Diktaten des Geldes und des Profits folgen. Der Rat, die Kommune, ist eine Bewegung gegen die Herrschaft des Geldes. Und, vielleicht zunehmend wichtiger, es bedeutet, unsere Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft menschlichen Lebens anzunehmen. Wenn wir den Punkt der Auslöschung erreichen, wird es nicht helfen, am letzten Tag zu sagen, „es ist alles Schuld der Kapitalisten und ihrer Staaten“. Nein: es wird unsere Schuld sein, wenn wir nicht die Macht des Geldes brechen und vom Staat unsere Verantwortung für die Zukunft menschlichen Lebens zurücknehmen.
(1) Die Tagung wurde von: Uwe H. Bittlingmayer (Pädagogische Hochschule Freiburg), Thomas Stölner (Wien), Gözde Okcu (Pädagogische Hochschule Freiburg) organisiert.
(2) „Maya-Zug“; ein Projekt der Regierung der sozialdemokratischen Partei Morena unter Führung des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, mit dem die wichtigsten Mayastätten auf der Halbinsel Yucatán auf über 1.500 km Strecke miteinander verbunden werden sollen. Das Projekt wird wegen seiner gravierenden Auswirkungen auf die Ökosysteme, die Beeinträchtigung der Autonomie der lokalen Bevölkerungsgruppen und die Ausrichtung auf den Tourismus, der kaum zur Entwicklung beiträgt, scharf kritisiert.
(3) Die Staatsableitungsdebatte war eine Diskussion innerhalb des Marxismus über die Frage nach der Funktion des Staates im Kapitalismus, die in den 1970er Jahren durch Autor:innen wie Christel Neusüß, Elmar Altvater, Freerk Huisken, Joachim Hirsch u.a. geprägt wurde. In den 1920er Jahren hatte bereits Eugen Paschukanis das Verhältnis zwischen Wertform und Form des Rechts aus marxistischer Sicht problematisiert und damit Stalins Postulat vom Aufbau des Sozialismus infrage gestellt, was letztlich 1937 zu Paschukanis’ Verurteilung und Exekution geführt hat. Die Debatte unterscheidet sich dahingehend von den verschiedenen funktionalistischen Staatsdefinitionen in der marxistischen Diskussion, dass sie die intrinsische Abhängigkeit der Staatsform vom Kapital theoretisiert. John Holloway hat in seinem Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ (Dampfboot Verlag) die Staatsableitungsdebatte fortentwickelt.
(4) „Fragend gehen wir voran“; Motto der Zapatist:innen, die 1994 gegen die neoliberale Ordnung in Mexikos Süden aufgestanden sind und seitdem in Chiapas ihre Autonomie entwickeln.
(5) https://www.ya-basta-netz.org/europa-von-unten-und-ezln-zapatistas-reise/
Übersetzung aus dem Englischen: Lars Stubbe, 18.03.2021