„Sei doch nicht so naiv, die Regierung verarscht uns doch nur und die Corona-Maßnahmen sind völlig übertrieben! Dass du die als AnarchistIn verteidigst, hätte ich ja nie von dir gedacht!“ Vorwürfe so oder so ähnlich stellen eine echte Herausforderung für libertäre Menschen dar, denn die Verteidigung des Staates passt natürlich erst einmal nicht gut ins Selbstbild. Allerdings treten solche Situationen immer mal wieder auf und gerade unter Corona-Bedingungen stellt sich die Frage, wie mit staatlich-autoritären Verboten, Erlassen und Ermahnungen umgegangen werden soll. Dies wurde auch schon in der Graswurzelrevolution diskutiert. Der folgende Beitrag von Manuel D. schließt an diese Debatte an und beschreibt mit Bezug auf Erich Fromm eine Perspektive auf diese Frage, die reines Dagegen-Sein als ebenso problematisch ansieht wie blinden Gehorsam. (GWR-Red.)
In seinem gleichnamigen Aufsatz von 1936 macht sich Erich Fromm (1) Gedanken über den sogenannten ‚autoritären Charakter‘, welcher später von Adorno und anderen aufgegriffen und in den Studien zum autoritären Charakter empirisch untersucht wurde. Vor Fromm hatte sich bereits Wilhelm Reich mit dem Verhältnis von Triebunterdrückung, Charaktereigenschaften und der Entstehung von Faschismus beschäftigt, doch erst Fromm hat den autoritären Charakter systematisch ausgearbeitet. Der autoritäre Charakter ist ein Sozialcharakter, also nicht nur ein individueller, sondern er kommt in einer bestimmten Gesellschaft häufig vor. Dies geschieht durch die Sozialisation der Menschen im Kindesalter in den Familien und in der Schule, später in der Arbeitswelt. Durch bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Kapitalismus, Nationalismus, Patriarchat, Kriege, autoritäre Erziehung, Gewalt, etc.) ähnelt sich die Erziehung der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft, zumindest innerhalb bestimmter Gruppen, wie Klassen oder Milieus.
Der autoritäre Charakter zeichnet sich durch eine spezielle „Einstellung zur Autorität“ (2) aus, welche ‚erlernt‘ bzw. ‚eingebläut‘ wurde. Dabei unterscheidet Fromm zwischen zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen: dem „positiv-autoritären“ und dem „negativ-autoritären“ (3) Charakter. Der erste ist die bekannte ‚FahrradfahrerInnenmentalität‘: Nach oben buckeln und nach unten treten. Menschen mit solch einem Charakter unterwerfen sich der Autorität, stellen sie nicht in Frage und verlangen gleichzeitig von Untergebenen oder Unterlegenen denselben unhinterfragten Gehorsam. Bei diesem positiv-autoritären Charakter ist die Unvereinbarkeit mit Freiheit und libertärer Politik offenkundig. Die andere Ausprägung, die negativ-autoritäre, ist etwas unerwarteter, aber dafür umso interessanter: „Man findet häufig, dass solche Menschen, wo immer sie Autoritäten begegnen, ebenso automatisch auflehnend und rebellisch reagieren wie der autoritäre Typ unterwürfig und verehrend. Diese Reaktion pflegt auch ebenso irrational zu sein wie die positiv-autoritäre. Es kommt nicht darauf an, ob eine Autorität vernünftig oder unvernünftig, zweckmäßig oder unzweckmäßig, zum Nutzen oder Schaden ist –, das Vorhandensein von Autorität überhaupt lässt diesen Charaktertypus sofort in eine rebellische Haltung geraten“ (4). Von diesen beiden autoritären Charakteren unterscheidet Fromm solche, die eine „Revolution im psychologischen Sinn“ durchgemacht haben und bei denen daher „die Impulse, die eine starke Autorität verlangen, schwächer werden oder ganz verschwinden“ (5). Das Ziel ist also weder die Vergötterung des einen Herrn oder dessen Ersetzung durch einen anderen noch die permanente verbissene Abarbeitung an ihnen und ihren Positionen, sondern eine gewisse Nichtbeachtung. Dieser Charaktertyp kann als libertärer Charakter bezeichnet werden. Während die anderen beiden Typen mit der Autorität positiv oder negativ verbunden und damit abhängig von dieser sind, zeichnet sich die libertäre Ausprägung durch eine Unabhängigkeit gegenüber Autoritäten aus. Diese stellen keinen zentralen Bezugspunkt mehr dar, wodurch eine innere Freiheit und Autonomie gewonnen wird. Solch eine Selbstständigkeit lässt sich durch Selbstreflexion stärken, wobei hier Gruppenprozesse und der Austausch mit anderen eine wichtige Bedeutung haben. Das Verhältnis der drei vorgestellten Charaktertypen zueinander ist im Grunde dialektisch: der negativ-autoritäre Charakter ist das Gegenstück (Antithese) zum positiv-autoritären Charakter und bleibt daher dem Gehorsam und der Autorität verhaftet, wenn auch im negativen Sinne, also mit anderem Vorzeichen. Der libertäre Charakter geht über die Autorität als solche hinaus, sie wird weder vergöttert, noch rebellisch abgelehnt, sondern überwunden.
Bezüglich der staatlichen Corona-Maßnahmen bedeutet dies, dass es einerseits Menschen gibt, die blind den staatlichen Vorgaben folgen und froh sind, solange eine Autorität ihnen sagt, wie sie sich zu verhalten haben. Dann gibt es solche, die grundsätzlich gegen die staatlichen Autoritäten und deren Vorgaben sind, sich also in ständiger Rebellion befinden. Mit Fromms Ausführungen lässt sich aber verstehen, dass dieses rebellische Verhalten nur ein negativ-autoritäres ist, welches der Autorität in einem negativen Sinne, ‚ich bin immer gegen dich‘, verhaftet bleibt. Nur in einer Überwindung dieser Impulse lässt sich eine libertäre, freiheitliche Einstellung zu Autorität gewinnen: diese spielt dann keine zentrale Rolle mehr, weder positiv noch negativ, sondern wird durch eigenständiges Abwägen, Diskussionen mit anderen, sowie Aushandlungsprozessen ersetzt.
Wenn man Fromms Sozialcharakterkunde nicht so begreift, dass sie ausschließlich verschiedene Menschen beschreibt, sondern eher so, dass jede/jeder von uns verschiedene Charakteranteile in sich trägt, dann kommt es für uns alle darauf an, zu schauen, welche Seiten wir stärken bzw. nähren wollen und ob wir bestimmten Tendenzen nachgeben wollen oder lieber nicht. Bezüglich der staatlichen Coronamaßnahmen bedeutet dies, dass aus einer anarchistischen Perspektive natürlich nicht staatliche Maßnahmen als solche bejubelt werden sollten. Gleichzeitig darf der bloße rebellische Widerstand dagegen nicht als libertäre Antwort missverstanden werden, sondern als Fortsetzung der Autorität unter anderem Vorzeichen. Wir sollten uns freimachen von der Frage, ob staatlicherseits Masken o.ä. vorgeschrieben sind oder nicht. Wenn es uns nach Einbeziehung der relevanten Aspekte (wie medizinischer Gesundheitsschutz, psychische Gesundheit, Schutz von schwachen Gruppen wie vorerkrankten oder alten Menschen, etc.) sinnvoll erscheint Masken zu tragen, dann können wir das getrost tun, unabhängig davon, ob uns dann manche RebellInnen als ‚Schlafschafe‘ bezeichnen. Ebenso können wir die Masken entgegen staatlichem Gebot auch ausziehen, wenn gute Gründe dafür sprechen.
Dies ist nicht gerade ein leichter Weg, insbesondere in der aktuellen Situation, die stark von Ängsten verschiedener Art geprägt ist. Martha Nussbaum (6) weist auf den Zusammenhang von Angst und autoritärer Politik hin und argumentiert für eine möglichst angstreduzierte Politik, da nur so demokratische Selbstverwaltung möglich sei. Die konkrete Umsetzung solch eines angstreduzierten politischen Aushandlungsprozesses sollte also das Ziel libertärer Bestrebungen sein. Dabei sollte es einen pragmatischen Umgang mit autoritären Maßnahmen geben, der darüber hinaus geht, einfach nur dagegen zu sein.
(1) Erich Fromm (2016[1936]) Der Autoritäre Charakter. In: Erich Fromm – Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie. Herausgegeben von Rainer Funk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(2) Ebd. S.72.
(3) Ebd. S.128.
(4) Ebd. S.128.
(5) Ebd. S.128.
(6) Martha Nussbaum (2019) Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise. Darmstadt: wbg Theiss.