Drachenkräfte statt Fleischesser-Bullshit-Bingo

Feuerfieber: Tierrechtsroman ohne Moralpredigt

| Ulrike Bayer

Hilal Sezgin: Feuerfieber. Ein Tierrechtsroman. Höchst realistisch mit einer kleinen Prise Drache, Crowdfunding/Selbst-verlag 2020, 327 Seiten, 20,00 Euro, ebook 10,00 Euro, Direktbestellung bei weisseschnuten@gmail.com oder hilalsezgin.de

Sie möchten verstehen, warum Ihre sonst doch so coole und verständnisvolle vegane Freundin manchmal so komisch reagiert – obwohl doch gar nichts ist? Oder umgekehrt: Sie haben keine Lust auf „Fleischesser-Bull-shit-Bingo“ und wünschen sich, Ihre omnivoren Freund*innen würden Ihr Unbehagen an Käse, Rührei und Schinkenbrötchen einfach begreifen – sozusagen von innen? Und auch begreifen, dass Tierrechte nicht in Konkurrenz stehen zu Menschenrechten oder Klimaschutz, sondern dazu gehören?
Hilal Sezgins 2020 im Selbstverlag erschienener Roman „Feuerfieber“ kommt solchen Wünschen entgegen. Denn er bietet nicht nur ein spannendes und oft amüsantes Lese-Abenteuer, sondern auch eine fantastische Schule der Wahrnehmung. Dabei tauchen nirgends Wörter wie „Speziesismus“ oder „Karnismus“ auf. Nie fühlt mensch sich als Objekt einer Moral- (oder sonstigen) Predigt, von Besserwisserei oder Belehrung. Vielmehr nehmen die Leser*innen teil an diversen, oft überraschenden Abenteuern, Wahrnehmungen, Reflexionen, Gefühlen, Erfahrungen, Erlebnissen, Erkenntnissen und Wandlungen.
Der Untertitel verspricht einen „Tierrechtsroman, höchst realistisch, mit einer kleinen Prise Drache“. Dazu die Autorin: „Es geht um Freundschaft und politischen Aktivismus, darum, wie mensch manchmal fast an der Welt verzweifelt und wie viel Veränderung mensch sich erhoffen darf. (…) Das Cover wurde von dem Künstler Hartmut Kiewert in liebevoller Kleinarbeit ausgetüftelt (…). Über den Inhalt sei zumindest so viel verraten: Tag für Tag engagieren sich Jayan und Uta für die Befreiung der Tiere. Oder vielmehr: Nacht für Nacht, denn sie filmen im Innern von Mastställen, um ihre Mitmenschen aufzurütteln. Doch die wollen bekanntlich gar nicht so dringend aufgerüttelt werden, und die Beharrlichkeit des Unrechts kann ziemlich frustrieren. Da beschert das Schicksal Jayan und Uta einen unerwarteten Verbündeten: einen echten, uralten, feuererprobten Drachen.“

Ein Buch für Drachenfans

Inzwischen legen zahlreiche Rückmeldungen nahe: „Feuerfie
ber“ zu lesen ist nicht nur für Tierrechtler*innen eine Freude und ein Gewinn, sondern auch für Drachenfans, Krimifans und (warum nicht?) auch Fans von Rührei und Schinkenbrötchen. In vielerlei Hinsicht tut es gut, sich auf diese Roman-Welt einzulassen.
Etwa auf Utas Wut, aus der Erstaunliches erwächst: „Ja, Wut hatte Uta genug, genug für Hundert! Manchmal dachte sie: Wenn man diese Wut 
nur irgendwie zusammenpressen könnte, so wie Kohlenstoff für einen Diamanten zusammengepresst wird, und etwas Mega-Starkes dabei herauskäme… Gebündelte, Funken sprühende Energie, die sie all diesen Stallbesitzern und Schlachtern und Tierexperimentatoren entgegenschleudern könnte, und dadurch verlören sie das Gleichgewicht, ließen ihre Mord- und Folterwerkzeuge fallen.“ Oder auf Jayans Überlegung, „dass all ihre guten Argumente, all die veganen Flugblätter, und auch all ihre heimlichen Aufnahmen nur diese berühmt-berüchtigten Tropfen waren, die auf dem heißen Stein verdampften. Sie zischten und hinterließen doch keine Spur, die steinerne Unempfänglichkeit der Menschen löschte sie alle aus. Was aber würde denn eine Spur hinterlassen, was konnte den Stein selbst zum Schmelzen bringen? Sie bräuchten ein nie dagewesenes Argument, ein unauslöschliches, sich in alle Hirne und Herzen bohrendes Bild; eine Superkraft, eine Wunderwaffe.“ Eine solches Bild, eine solche Wunderwaffe steckt nicht „höchst realistisch“ zwischen den Romandeckeln – und doch …
Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, und so können die Leser*innen den Figuren sehr nahe kommen: ihren Wahrnehmungen, Wünschen, Gedanken, Gefühlen und Konflikten und auch ihren Selbstzweifeln, Meta-Gedanken und Träumen. Nicht nur unterschiedliche Mitglieder der Aktivist*innen-WG, die sich im Laufe der Handlung bildet, lernt mensch so kennen und verstehen, sondern etwa auch den Pförtner eines Schlachthofs, der vor der Herausforderung steht, seinem fünfjährigen Enkel seine Arbeit „mit Hühnern“ zu erklären. Auch einen TV-Journalisten und seine Arbeit, etwas von seinem Profi-Wissen darüber, wie Wahrnehmung zustande kommt. Und eben auch einen Drachen.
Wie in all ihren Büchern schreibt Hilal Sezgin berührend poetisch und realistisch zugleich, mit Leidenschaft, Wissen, Weisheit und Witz. Alle Sinne spricht sie an in „Feuerfieber“, fantasievoll und einfallsreich, aber nie beliebig, sondern gelenkt von liebevoller Aufmerksamkeit und Engagement für alle leidenden Lebewesen.
Auch der Drache ist weder beliebig noch einfach nur modisch, sondern so überraschend wie notwendig. Ganz anders ist er als die Tierrechts-Menschlein, eröffnet diesen und auch den Lesenden ganz andere Dimensionen und ist doch ein Freund, der auf drachische Art sehr tief versteht und nach Kräften (seinen Drachenkräften!) hilft. Ein Glück – denn seine Drachenkraft kann Beschränkungen wegpusten.
So geht es nicht nur darum, das meistens verdrängte oder verleugnete „normale“ Leid der industriell ausgebeuteten Tiere sichtbar zu machen und zu bekämpfen, sondern es geht auch um Freundschaft, um Verantwortung und Verrat, um Verstehen und Missverstehen von einander und von sich selbst. Und wie jedes wichtige literarische Werk fragt „Feuerfieber“ seine Leser*innen zwischen den Zeilen auch danach, wie sie sich selbst und ihre Weltbeziehungen verstehen.