Jacques Tardi auf den Spuren seines Vaters

Graphic Novels von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zum Stalag des Zweiten Weltkriegs

| Lou Marin

Graphic Novels über das Grauen des Krieges – geht das? Ja, durchaus, wie der französische Zeichner Jacques Tardi in seinen antimilitaristischen Werken über die beiden Weltkriege bewiesen hat. Über den berühmten Graphic-Novel-Künstler und seine elf Antikriegsbände berichtet Lou Marin für die Graswurzelrevolution. (GWR-Red.)

Der weit über die französische Comic- und Graphic-Novel-Szene hinaus bekannte und geschätzte Zeichner Jacques Tardi (geb. 1946) verbrachte seine Kindheit an der Seite seines Vaters, der französischer Besatzungssoldat im Nachkriegsdeutschland war, in Südwestdeutschland. Ab 1970 veröffentlichte er Graphic Novels und stieg beim französischen Comic-Magazin „Pilote“ ein. Seine zahlreichen Werke wurden mehrfach mit Preisen des großen französischen Comic-Festivals in Angoulème ausgezeichnet. Alle seine Bände sind inzwischen ins Deutsche übersetzt. Sie drehen sich vordringlich um die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, deren jeweilige Vor- und Nachkriegszeit vor dem Hintergrund einer intensiven Selbstbeschäftigung mit den Kriegsbeteiligungen seiner eigenen Familienangehörigen, seiner Großväter und seines Vaters.
Zu den bekanntesten Werken Tardis zählten in den Siebziger- und Achtzigerjahren die neunteilige Serie „Adeles ungewöhnliche Abenteuer“ über eine mysteriöse und okkulte Schriftstellerin und die bewegten Jahre der „Belle Epoque“ im Paris vor dem Ersten Weltkrieg, des Weiteren seine Bände über die Commune von Paris, „Le Cri du peuple“ (dt. „Die Macht des Volkes“), sowie insgesamt vier Adaptionen von Léo Malets Romanen über seinen Detektiv Nestor Burma. (1)

Und immer wieder der schmerzhafte Rückblick auf die Weltkriege

Seine insgesamt acht Graphic Novels über den Ersten Weltkrieg und seine drei Bände über die Erlebnisse seines Vaters in deutscher Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg, im „Stalag IIB“, sowie bei seiner Rückkehr versteht er als sowohl antimilitaristische als auch persönliche Erinnerungsarbeit. Sein Großvater war in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gestorben, sein Vater wurde als Panzerfahrer 1940 nach nur zwei Wochen Kriegseinsatz von den Nazi-Truppen gefangengenommen.
Tardi hat seinen Vater kurz vor dessen Tod 1985 davon überzeugt, seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenenzeit in drei Notizheften aufzuschreiben. Paradoxerweise bezeugt Tardi, dass sein Vater trotz seines Kriegseinsatzes antimilitaristische und anarchistische Überzeugungen gehabt habe: „Mein Vater ist ein Antimilitarist, der insgesamt zwanzig Jahre in der Armee war.“ (2) Und Tardi versuchte in seiner Arbeit, sich angesichts dieser Notizhefte zu vergegenwärtigen: „Wie kann man sich in die Mentalität eines Jungen zwischen 18 und 25 Jahren im Jahr 1940 hineinversetzen?“
Zu den Motiven seiner Antikriegs-Graphic-Novels meint Tardi: „Was mich an den Beteiligten des Ersten oder Zweiten Weltkriegs interessiert, das sind die Individuen, die nicht mehr wissen, wozu sie auf der Welt sind. Es ist der Typus des manipulierten Heranwachsenden aus ärmlichen Verhältnissen, der jede Kontrolle über sein Schicksal verloren hat. Mein Vater ist zutiefst verletzt zurückgekehrt. Er wurde dann immer schnell wütend, war verbittert, entwürdigt. Ein Verlierer, dessen Leben völlig gescheitert war. Er war viereinhalb Jahre in Kriegsgefangenschaft. Die Kriegsgefangenen sind alle ohne Heldengloriole zurückgekehrt.“ (3)

Zeichenstil inspiriert durch die Ligne claire

Tardis Bände „Putain de Guerre“ über den Ersten Weltkrieg waren auch deshalb so detailgetreu, weil er hier mit dem Historiker und Weltkriegsspezialisten Jean-Pierre Verney eng zusammenarbeitete. (4)
Der Zeichenstil Tardis liegt nahe an der so genannten Ligne claire, die von Hergé, dem Zeichner von „Tim und Struppi“, geprägt wurde. Das geht in Ansätzen in die Richtung von Illustrationen für Kinderbücher; die Zeichnungen Tardis haben die Tendenz, das Konzept herrschender „Heldenfiguren“ lächerlich zu machen. Seine Figuren sind „Anti-Held*innen“; Opfer der Weltläufte, auf die sie keinen Einfluss haben, oder auch nur einfache Zeug*innen, die nicht anders können, als sich um ihr eigenes Überleben zu kümmern. (5)
Tardis politisches Engagement ist von einer simplen propalästinensischen Position im Israel-Palästina-Konflikt geprägt, die für Aktivist*innen hierzulande vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nicht immer leicht nachzuvollziehen ist. So hat er verschiedene Aufrufe zum Boykott israelischer Kulturveranstaltungen unterzeichnet, zuletzt gegen den Grand Prix Eurovision in Tel Aviv 2019. Ich hatte die Gelegenheit, Jacques Tardi persönlich kennenzulernen, als ich ihn im Auftrag der Orgagruppe der Nürnberger Linken Literaturmesse für eine Veranstaltung im November 2018 kontaktierte und ihn in Nürnberg zeitweise begleiten und sprechen konnte. Ich sprach auch das Thema der Problematik des Boykotts Israels an, das aus einer deutschen Perspektive mit dem Wissen um die Rolle des antijüdischen Boykotts 1933 ganz anders betrachtet werde als aus seiner aus der französischen Geschichte geprägten Perspektive. Ich fand den Austausch mit ihm sehr angenehm, er war sehr ruhig, hörte meinen Argumenten zu und stimmte schließlich mit mir überein, dass die Erinnerung aus der deutschen Täter*innenperspektive zu einer anderen Position führt. Er eskalierte die Diskussion an keiner Stelle und wurde nie polemisch, sondern war empathisch und verständnisvoll.

(1) Siehe Auflistung seiner Werke im Wikipedia-Eintrag zu Jacques Tardi.
(2) Jaques Tardi, zit. nach Thomas Rabino:
„Tardi: La gloire de son père“, in:
Marianne, Online-Seite, 24.11.2012
(3) Tardi, zit. nach Rabino, ebenda.
(4) Vgl. Dominique Bry: „La putain de guerre de Jacques Tardi et Jean-Pierre Verney“, in: Mediapart Online-Magazin, 11.11.2008.
(5) Siehe Abschnitt zur Ligne claire im Wikipedia-Eintrag zu Jacques Tardi, a. a. O.

Ausschnitt vom Cover des Comics „Ansturm“ (dt. Ausgabe bei Edition Moderne)