Woran erkennt man, dass der Flügel gebrochen ist?

Biographische Comics aus Spanien

| Tinet Elmgren

Antonio Altarriba, geboren 1952 in Saragossa, hat gemeinsam mit dem Zeichner Kim Comic-Porträts seiner Eltern geschaffen, die zugleich sehr persönlich sind und die Geschichte von ganz Spanien im 20. Jahrhundert erzählen. Über die Comics „Die Kunst zu fliegen“ und „Der gebrochene Flügel“ schreibt für die Graswurzelrevolution Tinet Elmgren. (GWR-Red.)

„Die Kunst zu fliegen“ erzählt von Altarribas Vater, der ebenfalls Antonio hieß, der in der spanischen Republik und im Bürgerkrieg als Anarchist aktiv war, danach Flüchtlingslager und Zwangsarbeit in Frankreich durchlitt, bevor er 1949 als „Verlierer“ in Francos Spanien zurückkehrte. Ein durchgehendes Thema ist Fliegen, symbolisch für die Freiheit, die die spanische Republik versucht hatte zu erreichen. In seltenen Momenten erschien es Antonio zum Greifen nah, aber es ist ihm nie wirklich gelungen – bis vielleicht zu seinem Selbstmord, als er, geplagt von schwerer Depression, die nicht zuletzt auf seine schrecklichen und enttäuschenden Lebenserfahrungen zurückzuführen war, vom vierten Stock des Altenheims sprang.
Es sollte eigentlich bei dem Buch über seinen Vater bleiben. Was Altarriba überhaupt dazu bewegte, auch ein Buch über seine Mutter zu schreiben, war die Frage einer Frau im Publikum bei einer Lesung von „Die Kunst zu fliegen“: „Und Ihre Mutter?“
In der Biographie seines Vaters hatte Altarriba seine Mutter in einer eher nebensächlichen und stereotypen Rolle als frigide religiöse Fanatikerin dargestellt. Die Frage veranlasste ihn, über die seit seiner Kindheit festgelegten Muster nachzudenken, die seine Darstellung der Mutter diktiert hatten, und er kam zu dem Schluss, dass dies ihr gegenüber sehr unfair gewesen war.
Ein durchgehendes Thema in der Biographie seiner Mutter Petra, „Der gebrochene Flügel“, ist, dass fast niemand von ihrer lebenslänglichen Behinderung gewusst hatte. Am Tag ihrer Geburt hatte ihr Vater Petra den Arm gebrochen, und sie konnte den linken Arm nie heben oder gerade strecken. Davon wussten nicht einmal ihr Mann oder ihr eigener Sohn und auch nicht ihr letzter Liebhaber im Altenheim. Dieses Thema funktioniert als Symbol dafür, dass kaum jemand sie wirklich gekannt hatte und wie üblich es zu ihrer Lebenszeit war, das Leben und die innere Welt der Frauen als unbedeutend abzutun. Das Buch greift auch wieder das Thema des Fliegens und der Freiheit auf. Mit ihrem „gebrochenen Flügel“ – der Gewalt, die sie von Geburt an von verschiedenen Personen erfuhr – hatte sie kaum jemals eine Chance zu „fliegen“ beziehungsweise frei zu sein.
Besonders rührend, mit viel Humor und Liebe, sind die Schilderungen der Eltern im Alter, aus der Zeit, die Altarriba als Erwachsener miterlebt hatte. Ebenso dass die beiden Bücher unterschiedlich groß sind: Die physische Größe der Bücher entspricht mehr oder weniger der Körpergröße seiner Eltern im Verhältnis zueinander.

Antonio Altarriba und Kim:
Die Kunst zu fliegen,
avant-verlag, Berlin 2012,
208 Seiten, 24,95 Euro,
ISBN: 978-3-939080-69-5
Der gebrochene Flügel,
avant-verlag, Berlin 2019,
264 Seiten, 25,00 Euro,
ISBN: 978-3-96445-002-9