Paul Wulf bleibt. Punkt.

Ein Lehrstück in Sachen Erinnerungskultur

| Bernd Drücke

Paul Wulf wurde von den Nazis verfolgt und zwangssterilisiert – ein Erlebnis, das ihn zum engagierten antifaschistischen Aufklärer machte. Dieses Vermächtnis führte nach seinem Tod der Freundeskreis Paul Wulf fort, oftmals gegen den Widerstand reaktionärer Kreise. Bernd Drücke schildert in seinem Beitrag für die GWR den Kampf für das Projekt „Münsters Geschichte von unten“ und die Umbenennung des Jöttenwegs. (GWR-Red.)

Oft entscheiden die ersten Begegnungen darüber, ob uns ein Mensch sympathisch ist oder nicht. Meine erste Begegnung mit Paul Wulf fand Anfang 1989 im Umweltzentrum (UWZ) Münster statt. Ich war 23 Jahre alt und sah mit meinen langen Haaren und Vollbart ein bisschen wie „Jesses“ aus. Im UWZ produzierte ich mit Freund*innen meine ersten Atomkraft-Nein-Taschenkalender sowie kleine anarchistische Zeitschriften. Anfang 1989 kam Paul Wulf zur UWZ-Ladentür herein, schlaksig, dünn, mit Mantel, „Honecker-Brille“, Hut und Aktentasche. Der UWZ-Drucker Andreas Kühne begrüßte ihn freudig und stellte uns einander vor, an mich gewandt: „Paul Wulf – Münsters ältester Anarchist.“ An den damals 67-jährigen Paul Wulf gewandt: „Bernd Drücke – Münsters jüngster Anarchist“.
Paul und ich waren sofort voneinander begeistert. Es war Freundschaft auf den ersten Blick. So viele Menschen, die die Anarchie, also eine solidarische, gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft anstreben, gab es schließlich auch in der katholischen Provinzmetropole und Studi-Stadt nicht.

Durch Verfolgungserfahrung zum Antifaschisten

Paul war 1938 als 16-Jähriger von den Nazis als „lebensunwert“ stigmatisiert und zwangssterilisiert worden. Dieses traumatische Erlebnis machte ihn zum Antifaschisten. Er war lange Zeit ein Einzelgänger. Mit seiner antiklerikalen Haltung eckte er in der lange Zeit katholisch dominierten Mehrheitsgesellschaft Münsters an. Es sind oft „politische Außenseiter“ wie Paul Wulf, die die Welt zu einem besseren Ort machen.
In den 1950er-Jahren stand er der ab 1956 verbotenen KPD und der Anti-Atomtod-Bewegung nahe, und auch in den 1970ern und frühen 1980ern verstand er sich als Kommunist. Die persönliche Freundschaft mit Spontis und undogmatischen, radikalen Linken ab den 1970ern trug dazu bei, dass Pauls Weltanschauung im Laufe der Jahre immer undogmatischer und freiheitlich-sozialistischer wurde.
Als ich ihn kennenlernte, sah er seine antifaschistische Aufklärungsarbeit als Opfer des NS-Regimes in der Tradition des 1934 von den Nazis im KZ Oranienburg ermordeten Anarchisten Erich Mühsam. Paul liebte die Gedichte und Bücher des anarchistischen Schriftstellers. Ähnlich wie Mühsam in den frühen 1930er-Jahren trat er bis zu seinem Tod für eine „antifaschistische Einheitsfront“ ein.
Bei unseren Gesprächen bezeichnete Paul sich selbst immer wieder als „Anarchist UND Kommunist“. Das „UND“ zu betonen war ihm wichtig. Er war ein sehr kommunikativer, mitteilungsbedürftiger Menschenfreund, der wenig Berührungsängste hatte.
Wir waren Seelenverwandte und hatten uns unendlich viel zu erzählen. Paul war für mich viel mehr als nur ein warmherziger Genosse und „Held der Aufklärung“. Unsere erste Begegnung im UWZ war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. (1)

Der Freundeskreis entstand im Himmelreich

Der Freundeskreis Paul Wulf gründete sich im Anschluss an Pauls bewegende Beerdigung (2) im Juli 1999 im Café „Zum Himmelreich“. Uns einte, dass uns Paul berührt hat und wir nun entschlossen waren, seine so wichtige Erinnerungsarbeit als antifaschistische Stimme der über 350.000 zwangssterilisierten NS-Opfer fortzusetzen.
„Inzwischen ist Paul Wulf Münsters bekanntester Antifaschist“, stellte die Münstersche Zeitung am 8. Oktober 2020 lapidar fest. Dass das heute so ist, dazu hat maßgeblich die Aufklärungsarbeit des Freundeskreises Paul Wulf beigetragen.
Die erste Publikation des Freundeskreises, die Broschüre „Paul Wulf – ein Antifaschist und Freidenker“, erschien kurz nach Pauls Tod 1999. Anfang 2007 hat der Freundeskreis Paul Wulf das (mittlerweile vergriffene) Buch „Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand“ im Verlag Graswurzelrevolution herausgebracht. Es folgten bundesweit zahlreiche Lesungen und Vorträge.

Der Kampf für die Umbenennung des Jöttenwegs in Paul-Wulf-Weg

Ende Mai 2007 deckte der investigative Journalist Michael Billig in der Münsterschen Zeitung (MZ) auf, dass in Münster eine Straße nach dem NS-Rassehygieniker Karl Wilhelm Jötten benannt ist, der in der Nazizeit Zwangssterilisationen an Kindern legitimiert hatte.
Der NS-Rasseforscher Jötten konnte nach 1945 unbehelligt an der Uni Münster weiterarbeiten. Von 1924 bis zu seinem Tod 1958 war er Direktor des Münsteraner Instituts für Hygiene. Für seine Staublungenforschung wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. „Dass er der eugenischen und rassenhygienischen Forschung an der Universität Münster bis 1945 wie kaum ein anderer Vorschub leistete, wird mithin gerne übersehen“, schreibt Jan Nikolas Dicke in seiner Examensarbeit „Eugenik und Rassenhygiene in Münster zwischen 1918 und 1939“. (3)
Nach Erscheinen des MZ-Artikels über den Nazi Jötten forderte ich in einer Pressekonferenz, dass der seit 1960 bestehende Jöttenweg in Paul-Wulf-Weg umbenannt wird. Um das zu erreichen, machten wir Pressekonferenzen, führten Diskussionsveranstaltungen durch und diskutierten mit Lokalpolitiker*innen.
Mein Bürgerantrag auf Umbenennung wurde im Mai 2012 von der Bezirksvertretung Münster-Mitte mit 18 zu 4 Stimmen bewilligt. Teile der CDU hatten bis zuletzt versucht, den Paul-Wulf-Weg zu verhindern. Am 29. August 2012 wurde der Jöttenweg in Paul-Wulf-Weg umbenannt. Am 4. September 2012 wurde auch mein Antrag auf Anbringen eines Informationsschildes von der Bezirksvertretung angenommen.
Die Straßenumbenennung ist ein großer Erfolg für die antifaschistische Erinnerungsarbeit des Freundeskreises Paul Wulf und seine Unterstützer*innen. Sie ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass Paul Wulf seit 2007 durch ein gemeinsames Kunstprojekt von Silke Wagner und dem Umweltzentrum-Archiv-Verein zu einer international bekannten Person geworden ist.

Silke Wagner, das UWZ-Archiv und Münsters Geschichte von unten

Anfang 2006 wendete sich die politisch engagierte Künstlerin Silke Wagner per Mail an den Umweltzentrum-Archiv e.V. mit der Idee, Teile des UWZ-Archivs zu digitalisieren und mit Hilfe zum Beispiel von Vitrinen öffentlich im Rahmen der „skulptur projekte“ auszustellen. Ich erzählte ihr die Geschichte von Paul Wulf, der nicht nur Opfer des NS-Regimes war, sondern auch antifaschistischer und antimilitaristischer Bewegungsaktivist und durch seine Ausstellungen und Aufklärungsarbeit aus der Opferrolle herausgetreten war.
Nun wuchs die Idee, neben der neu kreierten Internetseite www.uwz-archiv.de auch eine Paul-Wulf-Skulptur als Teil des Gesamtprojekts „Münsters Geschichte von unten“ zu schaffen. Die Themen der Homepage sind – neben der Geschichte des UWZ-Archivs – „Lebensgeschichte und gesellschaftspolitische Arbeit von Paul Wulf“, „Anti-Atom-Bewegung in Münster“, „Geschichte der Hausbesetzungen in Münster“ und „Politische Zensur von Texten und Kriminalisierung libertärer Presse in Deutschland 1970 bis heute“.
Mit Beginn der skulptur projekte 2007 fanden sich diese Themen in deutscher und englischer Sprache in wechselnden Plakatierungen auch auf der Skulptur. Für den kulturpolitischen Sprecher der CDU Münster, Dr. Dietmar Erber, und andere konservative Menschen, die Paul Wulf auf sein NS-Opfersein reduzieren möchten, sind die Texte auf der Skulptur allerdings „nur linksextreme Propaganda“. Mit der freiheitlich-sozialistischen und altruistischen Weltanschauung des Humanisten Paul Wulf können sie so wenig anfangen wie mit einer Skulptur, die soziale Bewegungsgeschichte von unten zugänglich macht.

skulptur projekte münster 07

Die skulptur projekte sind eine internationale Kunstausstellung im öffentlichen Raum, die seit 1977 im Abstand von zehn Jahren in Münster stattfindet und 2007 von 600.000 Menschen besucht wurde.
Publikumsliebling wurde die erste Skulptur, die an ein Opfer der NS-Zwangssterilisierungen erinnert. Die Paul-Wulf-Skulptur schaffte es weltweit in die Medien, und die Leser*innen der Münsterschen Zeitung wählten sie zur beliebtesten der skulptur projekte.
Paul Wulf, der sein Leben lang um Anerkennung kämpfen musste, wurde dadurch posthum zu einer „öffentlichen Person“ und von einer weltweiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Seit 2007 sind hunderte Artikel über ihn in lokalen und überregionalen Medien erschienen. Paul hat sich dafür eingesetzt, dass die vom NS-Regime zwangssterilisierten Menschen als Opfergruppe anerkannt und wahrgenommen werden. Mit der Skulptur ist das ein Stück weit gelungen.

Streit um Paul

Selten hat ein Kunstwerk so viele kontroverse Reaktionen ausgelöst wie die Paul-Wulf-Skulptur. Nach Ende der skulptur projekte münster 07 beriet die unabhängige Kunstkommission darüber, welche Kunstwerke die Stadt kaufen soll, um Münster weiterhin kulturell zu bereichern. Aus den 36 Kunstwerken wählte sie neun aus, darunter zwei, die sich kritisch mit der NS-Vergangenheit Münsters beschäftigen: „Unsettling the Fragments“ (Erschütterung der Fragmente) der jüdischen Konzeptkünstlerin Martha Rosler und „Münsters Geschichte von unten/Paul Wulf“.
Nach dem Urteil der Kunstkommission hätte die Absegnung durch den städtischen Kulturausschuss eigentlich eine Formsache sein können. Die Vertreter*innen der beiden Stadtregierungsparteien CDU und FDP verwehrten den beiden antifaschistischen Skulpturen allerdings ihre Stimmen.
Die Empörung über diese Politik war ein Desaster für die CDU/FDP-Stadtregierung. Auch überregionale Zeitungen berichteten über den Skandal. Selbst konservative Zeitungen wie die FAZ wetterten gegen die „Arroganz der Macht“ von CDU und FDP.
In einem bewegenden Offenen Brief meldete sich Paul Wulfs 80-jährige Schwester Agathe in der Münsterschen Zeitung vom 16. November 2007 zu Wort: „Warum man die Skulptur nicht hier in Münster erhalten will, verstehe ich nicht. Sie macht doch deutlich, was mein Bruder wollte. Meinem Bruder ging es um die Verbreitung unbequemer Wahrheiten. Die Verbrechen und Verbrecher der Nazizeit ließen ihn nicht los. Darüber wollte er berichten. Und darüber, wie dieses Gift weiterwirkt. Und er wollte sein Recht auf Wiedergutmachung und Anerkennung. Jahrzehntelang hatten die Leute Zeit, ihm dabei zu helfen. Jetzt wollen sie seine Skulptur loswerden. Sie sagen, um seine Rechte und Würde zu schützen. Das ist niederträchtig. Unter solcher Boshaftigkeit hat mein Bruder sein Leben lang gelitten.“
Es half nichts. CDU und FDP ließen alle Kritik an sich abperlen. Allerdings hatten sie die Rechnung ohne die Bezirksvertretung Münster-Mitte gemacht, auf deren Areal die beiden abgelehnten Skulpturen während der Kunstausstellung standen. Sie stimmte in einer Sitzung am 14. November 2007 für ihren Erhalt. Allerdings waren damit noch nicht die Wiederaufstellung und der dauerhafte Erhalt gesichert. Der Freundeskreis Paul Wulf sammelte mit Unterstützung vieler Freund*innen Spenden in Höhe von 33.000 Euro für Ankauf und Instandsetzung der Skulptur.
Im Juni 2020 hat die Bezirksvertretung Münster-Mitte endlich den dauerhaften Verbleib der Paul-Wulf-Skulptur am Servatiiplatz beschlossen und am 5. September 2010 offiziell der Öffentlichkeit übergeben. Einmal im Monat wird sie von Detlef Lorber und mir mit neuen Plakaten eingekleidet. Für die Wechselplakatierung sowie die Pflege der begleitenden Internet-Seite sollen jedes Jahr 5.000 Euro aus städtischen Mitteln aufgebracht werden.
Ein großer Erfolg. Damit ist die Arbeit des Freundeskreises Paul Wulf aber keineswegs beendet. Wir wünschen uns eine Paul-Wulf-Schule, wir werden weiter aufklären, gegen aufkeimenden Faschismus kämpfen und uns im Sinne des Menschenfreunds Paul Wulf für eine gerechtere Welt ins Zeug legen.
Am 2. Mai 2021 haben wir – coronabedingt mit Masken, Abstand und begrenzter Teilnehmer*innenzahl – den 100. Geburtstag von Paul Wulf an der Skulptur gefeiert und unser neues Buch „‚Ich lehre euch Gedächtnis‘. Paul Wulf – NS-Opfer, Antifaschist, Aufklärer“ (Unrast Verlag) vorgestellt.
Paul bleibt. Punkt.

(1) Siehe: Paul Wulf. Erinnerung an einen Freund, Nachruf von Bernd Drücke, in: GWR 243, November 1999, https://www.graswurzel.net/gwr/1999/11/paul-wulf
(2) Siehe: Gedächtnisveranstaltung für Paul Wulf, Artikel von Norbert Eilinghoff, in: GWR 245, Januar 2000, https://www.graswurzel.net/gwr/2000/01/gedachtnisveranstaltung-fur-paul-wulf/
(3) Jan Nikolas Dicke: Eugenik und Rassenhygiene in Münster zwischen 1918 und 1939. Berliner Beiträge zur Zeitgeschichte [ISSN 1610-5818], Bd. 3, Weißensee-Verlag, Berlin 2004

Bernd Drücke referiert als Erinnerungspate über Paul Wulf. Er war 22 Jahre lang Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolution. Seit Januar 2021 arbeitet er im Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg.