Unter dem Rasen liegt der Strand
Wildwuchs (Teil 1): Die "Graswurzelrevolution" l�sst sich seit 30 Jahren vom Siegeszug des Kapitalismus nicht beirren
Von Michael Ridder
Keine guten Zeiten f�r Revolution�re: Der Sozialismus ist tot, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die parlamentarische Demokratie haben einen weltweiten Siegeszug angetreten. Die Systemfrage stellt l�ngst niemand mehr. Niemand? Nicht ganz, denn wenn man genau hinschaut, findet man auch heute noch Zeitgenossen, die an die M�glichkeit einer tief greifenden Ver�nderung der Gesellschaft glauben, die nahezu jede freie Minute f�r ihre Sache opfern und dabei auch den Konflikt mit den Staatsorganen nicht scheuen. Aber wo findet man die blo�? Man sollte es kaum glauben: im westf�lischen M�nster. In der beschaulichen Beamtenhochburg wird die Monatszeitung Graswurzelrevolution (GWR) herausgegeben, die seit 1972 einen gewaltfreien Anarchismus propagiert, der das kapitalistische System durch "Macht von unten" in eine herrschaftslose Gesellschaft der Selbstverwaltung verwandeln soll. Das 30-j�hrige Bestehen feierten die Macher unl�ngst mit einem Party- und Kongresswochenende.
Ans�tze zur Polit-Kritik sieht die Graswurzelrevolution auch in Zeiten, da eine rot-gr�ne Bundesregierung das Land f�hrt - denn das Blatt und die dahinter stehende Bewegung verstehen sich als Kritik des Parlamentarismus �berhaupt. Macht korrumpiert nach ihrer Theorie immer, weswegen sie die Parteien durch basisdemokratische Netzwerke ersetzt wissen wollen. Im aktuellen Doppelheft Sommer 2002 wird die bisherige Arbeit der Regierung Schr�der komplett verrissen: "Kein Atomkraftwerk geht auch nur einen Tag fr�her vom Netz", "Polizei- und �berwachungsapparate werden aufger�stet", "Deutschland f�hrt Kriege", hei�t es zur Begr�ndung der "Keine-Wahl-Kampagne". Die Artikel sind lang, teilweise trocken geschrieben und mit Fu�noten versehen. Sie kommentieren das politische Geschehen im In- und Ausland aus konsequent systemkritischer Perspektive - seien es Bush-Besuch in Deutschland, brennende Synagogen in Frankreich oder Friedensverhandlungen in Kolumbien.
Auch organisatorisch ist bei der Graswurzelrevolution manches anders als bei herk�mmlichen Zeitungen: Alle Redakteure fungieren gleichzeitig als Mitherausgeber. Und der Chefredakteur soll hier kein Chef sein - er hei�t daher "Koordinationsredakteur" und wird, ebenso wie der Erscheinungsort, alle drei bis f�nf Jahre gewechselt. Seit 1998 laufen die GWR-F�den bei Bernd Dr�cke zusammen. Der 36-j�hrige promovierte Soziologe ist im Hauptberuf Lehrbeauftragter an der Uni M�nster, aber die meiste Zeit steckt er in die Koordination der Graswurzelrevolution. "Das kann schon mal zu einer 60-Stunden-Woche f�hren", sagt Dr�cke, der im Stadtzentrum von M�nster in einem ehemaligen Arbeiterhaus wohnt, mit Blockheizkraftwerk im Keller und Regenwasser-Auffanganlage auf dem Dach. Sein B�ro liegt ein paar Meter weiter in derselben Stra�e - ein etwa 20 Quadratmeter kleines Zimmer unterm Dach. Hier stapeln sich Literatur- und Zeitschriftenberge, hier befinden sich die beiden Computer, an denen Dr�cke im Alleingang die Artikel redigiert und das Layout der Zeitung gestaltet.
Redaktionssitzungen finden nur alle zwei Monate statt, immer an verschiedenen Orten in Deutschland. Der Hauptteil der Kommunikation l�uft �ber das Internet und �ber das Telefon. Hat ein Autor eine Artikelidee, reicht er einen Entwurf bei Bernd Dr�cke ein, der diesen dann via Mail an die anderen Redakteure weiterleitet. Basisdemokratie radikal: Denn gibt es innerhalb der 20 bis 30 Redakteure, die �ber das ganze Bundesgebiet verteilt sind, auch nur eine einzige Stimme gegen die Ver�ffentlichung eines Artikels, dann muss diskutiert werden. Ausf�hrlich. Dr�cke ruft in der Regel den Autor an, teilt die Bedenken mit, w�gt die Positionen gegeneinander ab. Manchmal erscheint ein strittiger Artikel dann gar nicht, oder man behandelt das Thema in Form eines zweigeteilten Pro-und-Contra-Beitrages, wie k�rzlich bei der Kontroverse um die Gr�ndung eines Pal�stinenserstaates.
"Das ist so ein Beispiel, wo man mit guten Gr�nden sowohl die eine als auch die andere Position vertreten kann", meint Dr�cke, der die undifferenzierte Einseitigkeit als die gro�e Schw�che der herk�mmlichen "staatsnahen" Medien empfindet. Aber glauben die Graswurzelrevolution�re wirklich, dass sie mit ihrer zuweilen als "Bleiw�ste" karikierten Zeitung eine Chance haben, die auf inhaltslosen Christiansen-Smalltalk gedrillte breite �ffentlichkeit zu gewinnen? Bernd Dr�cke r�umt ein, dass die GWR - die in einer Auflage von 4000 St�ck erscheint und �berwiegend von Abonnenten bezogen wird - zun�chst nur Leser erreiche, die ohnehin die dort vertretenen Positionen teilten. Doch er setzt auf das Schneeballprinzip: "Ein guter Gedanke kann sich manchmal auf ungeahnte Weise weiterverbreiten."
Dabei scheint ihm bewusst zu sein, dass ein Projekt wie die GWR nur als Opposition funktionieren kann - als herrschendes Leitmedium w�rde sie sich schlie�lich selbst ad absurdum f�hren. Die Notwendigkeit einer wirkungsvollen au�erparlamentarischen Bewegung sieht Dr�cke "gr��er denn je", obwohl er es bemerkenswert findet, dass einige Bundestagsabgeordnete der PDS, der Gr�nen und sogar der SPD noch Abonnenten der GWR seien. Deutlich abgek�hlt ist besonders das einst enge Verh�ltnis zu den Gr�nen: "Die sind ja im Grunde weder basisdemokratisch noch �kologisch noch sozial." Aber auch der PDS kauft Dr�cke ihr neues Friedens-Image nicht so recht ab: "Wenn die mit an der Regierung w�ren, w�rden die auch sofort staatstragend werden." Die n�chsten 30 Jahre GWR k�nnen also anbrechen.
Serie "Wildwuchs": In loser Folge stellen wir au�ergew�hnliche Zeitschriften vor.
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