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Wo die Revolution überlebt

Die libertär-pazifistische Zeitung "graswurzelrevolution" feiert 30. Geburtstag. Ihre besten Zeiten sind vorbei, doch sie streitet nach wie vor unverdrossen für die Abschaffung jeglicher Herrschaft

aus Münster MARCUS TERMEER

Das Blatt ist noch immer eine Bleiwüste. Noch immer gibt es keine Chefredaktion, werden alle Entscheidungen basisdemokratisch vom HerausgeberInnen-Kreis getroffen. Meist im Konsens. Und nach wie vor wird im Zeichen des schwarzen Sterns mit dem gebrochenen Gewehr die "libertäre Gegenöffentlichkeit" organisiert. Die graswurzelrevolution (gwr) wird 30 - und sie streitet unverdrossen für Antimilitarismus und Ökologie, gegen Rassismus und Sexismus, für eine "tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen". So steht es in der Satzung - in jeder Ausgabe nachzulesen.

Geblieben ist auch die dezentrale Struktur: Verlagssitz ist Heidelberg, der Vertrieb sitzt in Nettersheim. Der Koordinationsredakteur Bernd Drücke arbeitet in einem kleinen Büro im Haus der Evangelischen Studierenden-Gemeinde in Münster. Der 36-jährige Soziologe wurde Ende 1998 vom HerausgeberInnenkreis gewählt. Drückes Dissertation über "Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland" war da sicher kein Nachteil. "Gewählt werden hauptamtliche graswurzel-Redakteure in der Regel für drei bis vier Jahre", sagt Drücke. Im Sommer 2003 möchte er aufhören, "wenn sich ein Nachfolger findet".

Männer-Dominanz

Vorläufer des Blattes gab es bereits in den frühen 60ern: die Direkte Aktion in Hannover oder ähnliche Publikationen im frankophonen Raum. Die erste gwr erschien 1972, herausgegeben von Wolfgang Hertle und anderen Mitgliedern der "Gewaltfreien Aktion Augsburg". Weitere Redaktionsbüros gab es in Berlin, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, Wustrow, Oldenburg und München.

Auch die graswurzel hat im Bemühen um die Abschaffung jeglicher Herrschaft durchaus mit bekannten Problemen zu tun gehabt. Intern sind Klagen über eine nicht nur zahlenmäßige Männerdominanz immer mal wieder erhoben worden. Inzwischen, so Drücke, gehören dem HerausgeberInnen-Kreis neun Frauen und zehn Männer an. Und es habe eine intensive Anti-Sexismus-Debatte stattgefunden.

Großen Einfluss hatten die gwr und ihr Umfeld in den 70er-Jahren auf die Anti-AKW-Bewegung und auf gewaltfreie Aktionsgruppen der Friedensbewegung. Und heute? Christian Goller vom Netzwerk Friedenskooperative in Bonn hält sie für "ein immer noch wichtiges Sprachrohr" im heterogenen Spektrum. "Zwar lesen sie viele nicht mehr", was aber am "Tief" friedenspolitischen Engagements insgesamt liege. Beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac sei über das Verhältnis zur gwr noch nicht diskutiert worden, sagt deren Sprecher Felix Kolb. Persönlich aber findet er als langjähriger Leser, "die gwr teilt mit uns die Ansicht, dass eine andere Welt möglich ist". Die Kritik des Blattes an Attac sei konstruktiv, aber "wir selbst kritisieren an manchen anarchistischen Positionen offene Flanken zum Neoliberalismus. Nicht nur der Staat, auch die Ökonomie kann etwas Tyrannisches haben."

Bernd Drücke glaubt, dass die "Bedeutung von Gegenöffentlichkeit" stetig wächst. Gerade in Zeiten weltweiter Antiglobalisierungsproteste und angesichts des "Kriegs gegen den Terror" und einer damit verbundenen "rasanten Remilitarisierung" der Gesellschaft. Gegenöffentlichkeit, das ist für ihn Berichterstattung von "unten" - jenseits von "Ausgewogenheit", aus der Beteiligtenperspektive. Ob es um die Belgrader "Frauen in Schwarz" im Jugoslawienkrieg geht, um die WTO-Proteste in Seattle, die Revolte russischer Deserteure in Argentinien, die Anti-Castor-Initiative "X1000malquer" oder um US-Friedensaktivisten nach dem 11. September.

Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich mit der Antikriegsarbeit in Nahost, mit dem "Desaster" rot-grüner Politik. Sie stellt "Tolstois libertäre Schule" und die Anarchistin und Feministin Louise Michel vor. Thema ist auch die Auseinandersetzung mit Michael Hardts und Antonio Negris Buch "Empire". Bis heute will das Blatt Praxis und Theorie "der gewaltfreien Revolution verbreiten" und weiterentwickeln. Mit regelmäßigen Essays und Rezensionen zu anarchistischen und pazifistischen Neuerscheinungen oder Klassikern wie Gustav Landauer, Emma Goldmann, Clara Wichmann oder Gandhi. Zusätzlich erscheinen im Oktober acht "Libertäre Buchseiten".

Konzept gescheitert

Seit März 2001 gibt es alle drei Monate die deutsch-türkische Beilage Ötkükü, entwickelt mit dem Kriegsdienstverweigerer Osman Urat Ülke. Das Konzept, so Drücke, sei eigentlich schon mit der ersten Ausgabe gescheitert. Die sei von der Türkei direkt konfisziert worden. Schon weil Ülke in der Türkei jederzeit mit erneutem Gefängnis rechnen muss, gebe es dort nur noch Einzelabos, ansonsten würde die Ötkükü zur Zeit nur im deutschsprachigen Raum verbreitet.

Mit einer Auflage von 3.500-6.000 Exemplaren sei die gwr "unter den kleinen linken Zeitungen immer noch die größte", sagt Drücke gern. Früher, zu Hoch-Zeiten der Friedensbewegung, lag die Auflage manchmal bei bis zu 20.000. Da wurde das Blatt als klassische Bewegungszeitung per Hand verkauft. Heute finanziert es sich - neben Spenden - überwiegend aus knapp 3.000 Abos. Die gibt es vereinzelt gar im Bundestag. Drücke: "Hauptsächlich lesen uns aber Bewegungsaktive in einem breiten Altersspektrum von 15 bis über 80 Jahren." Auch der Staatsschutz blättert traditionell gerne mal durch die graswurzel. Während des Golfkriegs beschlagnahmte er schon mal eine ganze Auflage oder überzog Drücke im Jugoslawienkrieg wegen Aufrufs zur Desertaon mit einem - inzwischen eingestellten - Verfahren.

Vom 21. bis 23. Juni feiert die graswurzelrevolution in Münster den runden Geburtstag. Dezentral - wie sich das gehört. Motto der Veranstaltung: "Trau einer über dreißig". Info: www.graswurzel.net

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Aus: taz, 22.6.2002


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