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Anarchy and the Internet 1998

>> dwardmac.pitzer.edu/dward/classes/Anarchy/anarchyinternet.html

Wird mit diesem Titel der Mythos des anarchistischen Internets gepflegt? Der Einstieg der Website verspricht ein Höchtstmaß an Cyberprogrammatik, heißt es doch in "der" Netzsprache: "Although unintended, the internet is the quintessential example of a large scale anarchist organization. There is no hierarchical authority controlling the internet, the subunits participate voluntarily, information flows freely, individuals join and exit associations at will." Aber die Praxis ist nicht weit, denn es heißt dann: "Since the internet also contains abundant information about anarchism, it is the perfect medium for a course on the political history and theory of anarchism." Das Programm eines College Kurses über Anarchie im anarchistischen Internet schlägt diese Brücke. Die Seiten von Dana Ward - der am Pitzer Colleg in Lermont, Californien Politische Wissenschaft unterrichtet - präsentieren seine Kursplanung für Lehrangebote im Frühjahr und im Herbst 1998 sowie einen AnfängerInnenkurs. Ist das bemerkenswert, denn Lehrveranstaltungen an Hochschulen werden auch in Deutschland immer häufiger mit Hilfe des WWW organisiert? Selten jedoch werden sie mit einem anarchistischen Programm kombiniert.

Ein Blick auf das californische Angebot lohnt, obgleich der Lehrplan frei von thematischen Überraschungen ist. Er beginnt bei den anarchistischen Wurzeln. An grundlegenden Theoretikern werden bis zur Pariser Commune Godwin, Proudhon und Bakunin jeweils biographisch und philosophisch vorgestellt. Nach Sitzungen zur Pariser Commune und der ersten Internationale folgen Kropotkin, Emma Goldman und zusammengefaßt: Stirner, Malatesta, Tolstoi und andere. Eine Bilanz für das 19.Jh. schließt sich an. Dann werden die Positionen des Anarchismus in der Russischen und der Chinesischen Revolution sowie der US Anarchismus und die Europäischen Ausprägungen bearbeitet. Schließlich sehr ausführlich der spanische Bürgerkrieg, der Latinamerikanische und der asiatische Anarchismus. Systematisch geht es dann um die Verhältnisse von Politik und Ökonomie, bzw. Gesellschaft und Kultur bei AnarchistInnen. Am Schluß stehen der gegenwärtige Anarchismus und die fortbestehende Herausforderung auf der Tagesordnung. Alle Themen werden anhand der ausführlichen Arbeit von Peter Marshall "Demandig the Impossible" von 1993 und Murry Bookchins Darstellung des spanischen Anarchismus von 1977 erarbeitet.

Interessanter als die Themen dürfte sein, daß Dana Ward sein College Angebot mit einer anarchistischen Kritik der hierarchische Lehrpraxis verbindet. Denn gestützt auf Goodman und Godwin führt er aus: "Anarchists have approached education in an entirely different manner. Anarchists believe that in all spheres, including education, more harm than good results from coercion, top-down direction, central authority...pre-ordained standardisation..., etc.…Anarchists still recognize the value of leadership and expertise, but leadership and expertise must be separated from the exercise of power in order to avoid the deleterious and corrosive effects of coercion." Seinen Kurs begreift er als freie Vereinbarung, die sowohl Kenntnisse über den Anarchismus wie auch den Umgang mit dem Internet liefern soll. Die Zusammenarbeit im Kurs soll durch Freiwilligkeit aber Verbindlichkeit bestimmt werden, was unter anderem im Aufbrechen des Benotungssystems Konsequenzen haben soll, wo Selbsteinschätzung und Beurteilung durch die anderen KursteilnehmerInnen ermöglicht werden. Die Einführung in den Anarchismus muß auf diese Weise kein Selbstzweck und bloßer Stoff bleiben. Es soll eine eigene Praxis eröffnet werden, zu der auch die gelernten Internet Fertigkeiten dienen sollen. Schon während des Kurses soll eine aktive Mitarbeit im "Anarchy Archives Management Team" zum weiteren Wachsen der anarchistischen Inhalte des auf weiteren Web-sites des gleichen Servers beheimateten Archivs und dessen Pflege sorgen. Klassiker Texte werden ins Netz gestellt und studentische Arbeiten werden präsentiert. Der sprichwörtliche amerikanische Pragmatismus wird hier in den Dienst einer guten Sache gestellt, die ein interessantes soziales und technisches Experiment darstellt. Zwar sind Zweifel an den tatsächlichen Spielräumen in einem normalen College Betrieb sicher nicht ganz unberechtigt, aber ein Besuch der Netz@dresse lohnt sich.

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