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Die Ausgegrenzten ergreifen das Wort

Gewaltfreiheit in Brasilien und der Schutz der Menschenrechte

Gewaltfreiheit in Lateinamerika hat eine lange Geschichte, die in Europa kaum bekannt ist. Im Kontext der brasilianischen Gesellschaft stellen sich den gewaltfreien Bewegungen jedoch ganz andere Fragen als die "klassischen" Themen Antimilitarismus und Kriegsdienstverweigerung. Dennoch gibt es zahlreiche Berührungspunkte gerade auch zur Arbeit der WRI. Als eines der zahlreichen Beispiele gewaltfreier Arbeit in Lateinamerika wird die Arbeit von SERPAJ in Brasilien vorgestellt. SERPAJ hat mittlerweile seine Aufnahme in die WRI beantragt. (Red.)

Aktive Gewaltfreiheit, ständige Unnachgiebigkeit oder befreiender moralischer Druck sind einige der gebräuchlichen Begriffe zur Benennung der verschiedenen Formen der Konfrontation und des Widerstandes des brasilianischen und lateinamerikanischen Volkes gegen jahrhundertealte Formen der Unterdrückung auf diesem Kontinent.

Wenn man von Brasilien spricht, muß man dies im lateinamerikanischen Zusammenhang tun, denn der Ursprung und die Entwicklung der Nationen dieses Kontinents haben eine gemeinsame Geschichte. Ihre Geschichte des Widerstandes beginnt mit der europäischen Invasion, die für dieses Volk die ersten Katastrophen brachte. Sie fügte Völkern große Verluste zu und begann einen Prozeß der Versklavung und der Gewalt. 1995 wurde in Brasilien 300 Jahren des schwarzen Widerstandes in der Person von Zumbi dos Palmares gedacht. Es gab viele Versuche des selbstverwalteten Gemeinschaftslebens geflohener Sklaven, Quilombos (1) genannt. Hervorzuheben ist der Quilombo dos Palmares im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas. Er war der blühendste von ihnen und hatte am längsten Bestand. Er erfuhr auch die stärkste Repression der Geschichte. Seine EinwohnerInnen wurden verfolgt und ermordet. Ihr Anführer, Zumbi, wurde zur Abschreckung öffentlich enthauptet, um jedem möglichen Versuch des Volkes, sich nach dem Vorbild der Quilombos zu organisieren, vorzubeugen. Auch wurden Ureinwohner und alle diejenigen, die sich außerhalb des geltenden Machtsystems zu organisieren versuchten, verfolgt und ermordet. Die vielen früheren Versuche, aber auch diejenigen, die trotz der Repression von seiten der in Brasilien eingeführten Staatsmodelle, der Streitkräfte und der letzten Militärdiktatur nach wie vor noch durchgeführt werden, zeugen vom Kampfeswillen des brasilianischen Volkes und der Fähigkeit zum Widerstand.

Strukturelle und direkte Gewalt

Nach neueren Daten der UNO hält Brasilien aufgrund seiner Geschichte der Ungerechtigkeiten derzeit den ersten Platz bei sozialen Ungleichheiten. Es gibt hier sehr reiche Menschen, auf Kosten der sehr Armen, was zu schwerwiegenden Widersprüchen führt: Brasilien ist ein Nation, die sehr reich an Bodenschätzen und sehr fruchtbar ist, eine riesige Fläche einnimmt und unter den Volkswirtschaften der Welt an achter Stelle steht. Trotzdem ist die Bevölkerung semi-analphabetisch, und das Elend zeigt sich in der unüberschaubaren Menge der BettlerInnen, der Straßenkinder, der LandarbeiterInnen ohne eigenen Landbesitz sowie in den schwerwiegenden Problemen des Strafvollzugssystems und einem gewalttätigen Polizeisystem.

Als Folge der großen sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten hat sich die Gewaltspirale ungebremst weiter gedreht. Ihre starke Beschleunigung hängt mit verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren zusammen, und es lassen sich auch verschiedene Formen der Gewalt erkennen. So gibt es eine ausgeprägte strukturelle Gewalt, wenn wegen der Struktur des Staatsapparates keine öffentliche Politik mehr betrieben wird und die notwendigen Grundvoraussetzungen für die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte fehlen. Dieses ausgrenzende Staatmodell schafft ein Klima der Unsicherheit und der Unzufriedenheit, welches unter den Ausgebeuteten zu einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben ihrer LeidensgenossInnen führt. Kurz gesagt: der Kampf ums Überleben und der Mangel an Perspektiven in Verbindung mit den häufigen Korruptionsskandalen in vielen Regierungsbereichen führen zu einer Entfremdung und zu einem Mangel an Volksbeteiligung an den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen, die die Zukunft dieser Nation betreffen.

Die Medien spielen eine grundlegende Rolle bei der Schaffung dieser "Kultur der Gewalt" in dieser Gesellschaft, da sie die großen Interessenträger der vermögenden sozialen Schichten sind und Gewalt durch Programme, Filme, Nachrichten und Seifenopern gleichermaßen verbreiten. Die Gewalt besetzt durch moderne Kommunikationsmöglichkeiten alle Lebensbereiche und wird scheinbar zur einzigen Form der Konfliktlösung. Das Übel der Gewalt erreicht verschiedene Aspekte des Menschen: den physischen und den psychologischen Aspekt, den einzelnen Menschen, die Familien, organisierte Gruppen und alle sozialen Schichten. Die gewaltsame Erziehung beginnt sehr früh, zu Hause mit dem Fernsehen, in der Schule mit den Beziehungen zwischen den Kindern und LehrerInnen und mit den Spielen unter den Kindern. Es gibt viele verschiedene Mechanismen, die Gewalt hervorrufen oder unterstützen. Das Tragen von Waffen beispielsweise unterliegt keiner Kontrolle, jeder kann ganz ohne Probleme eine einfache oder hochentwickelte Waffe kaufen. Das militaristische Denken ist im Volk stark verbreitet und hat das eindeutige Ziel, die gültige "Ordnung" aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund ist in Brasilien die Polizei zu einem Feind des Volkes geworden; sie ist für einen Großteil der Gewalt verantwortlich, und ihre Aufgabe liegt in der Unterdrückung des friedlichen Kampfes von ArbeiterInnen, StudentInnen oder von jeder/m, die/der es wagt, sich aufzulehnen, um ihre/seine Rechte einzufordern.

Waffenproduktion auf Kosten der Armen

Der Militarismus ist eine der großen Stützen der institutionalisierten Gewalt. Er ist weltweit einer der Bereiche mit den höchsten Investitionen und der umfassendsten technologischen Forschung, so daß er furchtbare Katastrophen und Unglücke für die Umwelt und für unschuldige Menschen verursacht; diese erbringen immer die größten Opfer, da sie angesichts eines strukturellen Krieges vollkommen wehrlos sind. Brasilien besitzt von allen "unterentwickelten" Ländern die fortschrittlichste industriell-militärische Spitzentechnologie und ist der größte Waffenproduzent Lateinamerikas - es stellt alles her, von schweren Panzern zu Raketen und konventionellen Waffen.

Besonders hervorzuheben sind unter den verschiedenen militärischen Anlagen die Kernkraftwerke von Angra dos Reis im Südosten des Landes, die Waffenfabriken in São José dos Campos im Süden und das SIVAM/Überwachungssystem von Amazonien (letzteres ist ein Projekt des Luftverkehrsministeriums, das sich auf die Technologie der Vereinigten Staaten stützen kann und in dem derzeit Anzeigen wegen Korruption und Einflußnahme auf Mitglieder der brasilianischen und US-amerikanischen Regierung laufen). Brasilien hat den Vertrag von Tlatelolco unterzeichnet, der Atomtests, die Herstellung, den Gebrauch, die Installation, die Lagerung und den Besitz von Atomwaffen in Lateinamerika und in der Karibik verbietet. Trotzdem hält es sich nicht an diesen Vertrag. Die Regierung spricht derzeit sogar von Abkommen mit Indien und Argentinien; dieses hat den Erfahrungsaustausch zur militärischen Nutzung von Atomenergie zum Gegenstand. Dieses Land beginnt vielleicht keine Kriege, aber es fördert sie, denn es exportiert seine Waffen in die ganze Welt, mit der Ausrede, Devisen zur Entwicklung der lokalen Wirtschaft zu benötigen. Es handelt sich dabei um ein derart lukratives Geschäft, daß einige Unternehmen sich an die neuen Formen des Baus von Kriegsmaterial anzupassen beginnen und zu Waffenproduzenten "umgewandelt" werden. Es sei hier der Fall der Nähmaschinenfabrik Vigorelli genannt, die jetzt auch Maschinengewehre produziert. Was in einer Marktwirtschaft schließlich zählt, ist der Gewinn.

Kampf für Menschenrechte

Die großen Übel, die die Weltwirtschaftsordnung den "unterentwickelten" Ländern aufzwingt, führen täglich zum Tod tausender unschuldiger Menschen. Das neoliberale System, das in unserem Land eingeführt wird, ist für die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheiten verantwortlich und verurteilt die Armen immer unwiderruflicher zu einem Leben im Elend. Was kann man angesichts solcher Gewalt noch tun? Gibt es Alternativen? In einer Untersuchung, die kürzlich von einer Gruppe des Serviço Paz e Justiça-SERPAJ/Samambaia in einer sehr armen Region durchgeführt wurde, in der die meisten Menschen AnalphabetInnen und LohnempfängerInnen sind, finden sich Antworten auf diese Fragen. Diese Antworten basieren kurz gesagt auf folgendem Satz: wenn die Regierenden den politischen Willen haben, lassen sich die Probleme Brasiliens lösen. Selbstverständlich wissen die befragten Personen nichts von den wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der Wirtschaft, vom internationalen politischen Beziehungsgeflecht und von der Weltpolitik, die das Schicksal der Menschheit bestimmt. Aber sie wissen aus ihrer eigenen Erfahrung und Realität, daß der Wille und das Interesse ausschlaggebend bei der Lösung jedes Problems sind. Der Engpaß liegt in den auseinanderklaffenden Interessen: die Interessen des Volkes gegen die Interessen der herrschenden Macht. Der Kampf für die Menschenrechte gewinnt Bedeutung und Vitalität, wenn er dem Schutz der Interessen einer unterjochten Klasse dient, die ihre Rechte nicht ausüben kann, denn er wird dadurch erweitert und unterstützt die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte und die Wiederherstellung der Würde des Menschen.

In Brasilien haben die Rechte seit den siebziger und achtziger Jahren einen "Popularisierungsprozeß" begonnen, sie sind aus der formal-bürgerlichen Anschauung eines reinen staatsbürgerlichen Rechts herausgetreten und haben wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dimensionen angenommen. Daher ergreifen nun auch die "Ausgegrenzten" das Wort, die früher gar nicht wußten, daß sie Rechte besaßen. Die Bewußtseinsfindung der Unterdrückten und ihr Kampf für ihre Grundrechte auf Leben und Würde ist eines der besten Beispiele für den gewaltfreien Kampf im historischen Zusammenhang dieses Landes; es handelt sich um einen dauernden Kampf für die Beteiligung am demokratischen Aufbau.

Der Kampf für die Menschenrechte bedeutet die Anerkennung einer Masse von Ausgebeuteten und wird nun zu einem umfassenden Begriff, der aus dem vom Volk ausgeübten Druck hervorgegangen ist, und damit eine Geschichte demokratischer Kämpfe und Eroberungen hat. Diese demokratische Beteiligung vollzieht sich über ein Konzept der Gewaltfreiheit, das die ausgebeuteten Massen erreicht und diese sich der ihr verweigerten Rechte bewußt werden läßt. Diese Rechte beinhalten das Recht auf Wohnung, auf Gesundheit, auf Erziehung, auf Arbeit, die Rechte der Frauen, der Kinder und Jugendlichen. Der Druck der organisierten Gruppen führte schließlich zur fortschrittlichsten Verfassung Lateinamerikas, der Verfassung von 1988, die leider nie ganz umgesetzt wurde. Derzeit wird eine Verfassungsreform durchgeführt, und zwar mit der Absicht, einige der Errungenschaften wieder abzuschaffen, die den persönlichen Interessen einiger historisch herrschender Eliten entgegenstehen, wie den GroßgrundbesitzerInnen, UnternehmerInnen und anderen, die stark im Nationalkongreß vertreten sind, um ihre Interessen zu schützen und sich weiter an der Macht zu halten. Aber trotz der Apathie bei der Mobilisierung großer nationaler Bewegungen, haben sich einige Bereiche organisiert und sind wachsam, wie die LandarbeiterInnen, die Gewerkschaften, die UreinwohnerInnen, die Frauengruppen und die Volksbewegungen insgesamt. Der heutige demokratische Prozeß ist Teil einer gemeinsamen Anstrengung von sozialen Organisationen, die ihr Grundrecht auf ein würdiges Leben einfordern. Er entstand darüberhinaus aufgrund internationaler Zwänge.

Es gibt unbestreitbar einen demokratischen Prozeß, denn das Volk ist auf die Straße gegangen und hat direkte Wahlen und seine staatsbürgerlichen Rechte gefordert, aber es gibt immer noch Hindernisse bei der Ausübung des Rechtes auf Freiheit. Dies beweist, daß der Kampf wichtig war, daß er aber noch nicht beendet ist, denn es muß noch vieles getan werden. Der Prozeß ist angelaufen und das Volk hat noch viel einzufordern.

Eine Gewaltfreiheit des Volkes

Die Gewaltfreiheit in Brasilien muß aus einer Perspektive der Umwälzungen angegangen werden, die sich mit den Kämpfen der arbeitenden Klasse identifiziert und daher eindeutig für die unterdrückte Seite eintritt und deren Interessen schützt. Sie stützt sich außerdem auf eine praxisorientierte Methodologie zur Konfliktlösung, die sich auf die Schaffung von Gerechtigkeit gründet und sich zu einer alternativen Lebensweise entwickeln soll, die gegen die aufgezwungene Kultur der Gewalt steht. Der Widerstand und die Unnachgiebigkeit dieses leidgeprüften Volkes, das trotz allem nach neuen Horizonten blickt, sollte der gesamten Welt als Beispiel für die Möglichkeit der Veränderung dienen. Über sein nationales und kontinentales Netz verfolgt der SERPAJ/Brasilien das Prinzip der Gewaltlosigkeit aus Überzeugung. Er versucht möglichst viele Menschen zu erreichen, indem er ihnen den Wert der Würde des Menschen bewußt macht und die demokratischen Volksorganisationen unterstützt. Wir müssen mit den verschiedenen Sicht- und Denkweisen zusammenleben, denn das höchste Gut der Menschheit war und ist die Freiheit eines erfüllten Lebens und eines harmonischen Zusammenlebens mit der Natur. Der SERPAJ verfügt über eine offene, demokratische, partizipatorische Struktur mit ausgeprägtem Volkscharakter. Denn nur eine Organisation der historisch unterdrückten Menschen kann sich der uns aufgezwungenen Realität auf der Grundlage ihrer Erfahrungen außerhalb der bestehenden Ordnung entgegenstellen und sie ändern. Daher beruht die gesamte Arbeit dieser Organisation auf sechs Grundprogrammen: Erziehung zum Frieden in den Schulen und im Volk; Schutz und Förderung der Menschenrechte, Entmilitarisierung und Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen; nationale und internationale Beziehungen und Lateinamerikanische Integration; Veröffentlichung und Selbstfinanzierung

Der Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeutung der Menschen durch ihresgleichen oder durch Institutionen ist keine Utopie der wenigen Aufgeklärten mehr, sondern das dringendste Bedürfnis der historisch unterdrückten Mehrheit.

Maria da Penha Félix
Nationale Koordinatorin des SERPAJ/Brasilien
Übersetzung: Christine Lüthy
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Anmerkungen

(1) Quilombos waren die gemeinschaftlichen Siedlungen der entlaufenen SklavInnen im brasilianischen Urwald. Vom 17. bis 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Quilombos; sie entstanden von Norden nach Süden auf dem brasilianischen Territorium. Teilweise bildeten sich ganze Republiken von Quilombos. Die meisten Quilombos wurden schließlich militärisch geschlagen und zerstört.

Literatur

KOLTAI, Caterina: Por que Pacifismo?; São Paulo, Editora Moderna; 1987

LOPES, Lima: Direitos Humanos no Brasil; São Paulo, USP; 1989

Dokumente des SERPAJ/Brasilien


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