"Wer keinen Mut zu träumen hat, hat keine Kraft zu kämpfen"
Verdrängt der "Übergang zur Demokratie" die Utopie
der gewaltfreien Revolution?
Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre wurde
in der WRI ausgiebig über das Konzept der gewaltfreien Revolution
diskutiert (vgl. Artikel S. 13). Damit erweiterte sich die Perspektive
vom Widerstand gegen Krieg auf die positive Utopie einer gewaltfreien
Gesellschaft, die durch eine gewaltfreie Revolution Realität
werden sollte. Spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer
scheint es jedoch so, als hätten utopische Konzepte einer
gewaltfreien Revolution ausgedient, als wäre das westlich-parlamentarische
Modell alternativlos. Hat somit die derzeitige Utopielosigkeit
großer Teile der Linken auch die WRI erreicht? (Red.)
Die WRI und die Utopie
Die WRI hat sich 1968 als "Freiheitsbewegung" definiert, die für
die Utopie der gewaltfreien Gesellschaft kämpft. Die Selbstdefinition
war Konsequenz der Gewaltfreiheit. Der "Kampf gegen Gewalt (muß)
im Zusammenhang mit einer revolutionären Anstrengung zur Befreiung
der Menschheit gesehen werden. Wir wissen, daß Gewalt viele
Formen annimmt, und daß es neben der direkten Gewalt der Gewehre
und Bomben auch die stille Gewalt der Krankheit, des Hungers und
der Entmenschlichung von Männern und Frauen gibt, die in ausbeuterischen
Systemen verfangen sind."
(2)
Die Selbstdefinition der WRI als Freiheitsbewegung ist bereits
in ihrer Grundsatzerklärung angelegt. Ihr ging es nie nur
um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und die Abwesenheit
von militärischer Gewalt, ihr ging es von Anfang an um die
"Beseitigung aller Kriegsursachen". "Wir sind uns klar, daß
wir als konsequente PazifistInnen nicht das Recht haben, eine
bloß negative Stellung einzunehmen, sondern bemüht
sein müssen, die tieferen Ursachen des Krieges zu erkennen."
(3) Sie konnte daher
nicht bei der Kritik an den bestehenden Gewaltverhältnissen
stehenbleiben, sondern mußte als "positive Bewegung" weitergehen,
um "eine Vision von der neuen Gesellschaft (zu schaffen) und"
sich "sowohl mit den Sehnsüchten als auch dem Zorn der Menschen"
zu identifizieren. (4)
Eine so verstandene Utopie bleibt nicht nur Traum, sondern spielt
die wichtige Rolle eines Leitbildes, einer Vision, wie sich die
Gesellschaft entwickeln soll. Und sie liefert gleichzeitig die
Maßstäbe, an denen die eigene Arbeit in Richtung dieses
Zieles gemessen werden kann. "Das Manifest entwirft ein Bild von
einer neuen Gesellschaft, von ihrer Ökonomie und Ökologie,
von ihren Formen der Konfliktaustragung und von ihren weltweiten
Dimensionen. Außerdem schlägt das Manifest einen Rahmen
für eine Strategie des Kämpfens und Veränderns
vor" (5), so George
Lakey im besten utopischen Sinne in der Präambel des Manifests.
Gerade von Seiten radikaler PazifistInnen wurde dabei die Bedeutung
der Ziel-Mittel- Relation stark betont. Gewalt wurde nicht nur
deshalb verworfen, weil sie "moralisch" zu verurteilen ist. Es
wurde auch als Teil eines "grundlegenden Denkfehlers" angesehen,
"daß Gewalt - während der Revolution oder zur Lösung
wirtschaftlicher und sozialer Probleme - Gerechtigkeit und Freiheit
bringen könne." (6)
Diese Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft ist es, aus der
AktivistInnen ihre Energie für den Alltag und für den
damit verbundenen politischen Kampf ziehen können. Die Utopie
ist es, die die "Änderungen in der Bestandssicherheit der
Topie (der derzeitigen Realität, AS) erzeugt". Sie "ist die
zu ihrer Reinheit destillierte Gesamtheit von Bestrebungen" (7)
Die Utopie ist es, die bruchstückhaft schon heute in unzähligen
Kommune- und Gemeinschaftsexperimenten, selbstverwalteten Betrieben,
aber auch in den Umgangs- und Aktionsformen sozialer Bewegungen
wie z.B. der feministischen, antirassistischen oder ökologischen
Bewegung sichtbar wird.
Natürlich ist die Utopie nicht als Bauplan einer neuen
Gesellschaft zu verstehen, der so und nicht anders zu verwirklichen
ist, sondern als Zielvorstellung, die die Grundsätze und
Ideale einer neuen Gesellschaft darlegt.
Auch wenn also "nie die Wirklichkeit dem Gedanken einzelner
Menschen völlig gleich" sehen wird, also "nicht das Ideal
... zur Wirklichkeit (wird);", so ist dieses Ideal dennoch notwendig,
denn "durch das Ideal, nur durch das Ideal wird in diesen Zeiten
unsere Wirklichkeit." (8)
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach?
Seit 1989 scheinen Utopien aber in den sozialen Bewegungen
allgemein nicht mehr hoch im Kurs zu stehen. Der Begriff des Sozialismus
ist aufgrund des Scheiterns des "real existent gewesenen" Sozialismus
sowjetischer Prägung als Utopie diskreditiert. Der Kapitalismus,
gekoppelt mit einem Parlamentarismus westlicher Prägung, hat
sich global als Gesellschaftsmodell durchgesetzt. "Realpolitisch"
machbare Reformen sind bei vielen sozialen "Bewegungen" angesagt:
"Übergang zur Demokratie" statt "gewaltfreie Revolution"?
Die WRI ist ein Netzwerk gewaltfreier sozialer Bewegungen, und
so geht diese Entwicklung auch an ihr nicht spurlos vorüber.
Es verwundert daher nicht, daß auf der Dreijahreskonferenz
in Brasilien 1994 zunächst nicht die Revolution, sondern
die Probleme des "Übergangs zur Demokratie" diskutiert wurden.
"Demokratie" wurde dabei in Abgrenzung zu einer bloß formalen
Betrachtungsweise als ein Prozeß verstanden, der - als Mindestvoraussetzung
- folgende Punkte umfassen sollte:
- Respektierung der Menschenrechte;
- Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entscheidungsfindung:
- Kommunikationswege zwischen Regierung und Bevölkerung;
- Existenz starker und selbstbewußter Basisorganisationen;
- Akzeptanz alternativer Lebensformen;
- Nichtteilnahme an staatlichen Aktivitäten muß erlaubt
sein (z.B. das Recht, keinen Militärdienst abzuleisten);
- Ausgeglichenheit zwischen sozialen und wirtschaftlichen Interessen;
- Zugang zu den Medien, Presse- und Meinungsfreiheit" (9)
Demokratie wird als weitergehender verstanden und nicht nur
am Vorhandensein "demokratischer Institutionen" wie freier Wahlen,
Parteienpluralismus, Parlamente, unabhängiger Gerichtsbarkeit
usw. gemessen. Es wurde deutlich gesehen, daß "sogar die
sogenannten stabilen Demokratien (z.B. Deutschland, Belgien, USA)
(sich) auf die eine oder andere Weise ... immer noch in einem
Übergangsstadium" befinden. Deutlich wird dabei, daß
hier das Konzept einer sozialen Fundierung von Demokratie zugrundeliegt,
daß hier nicht "Demokratie" im Sinne von IWF und Weltbank
gemeint ist. Es geht nicht um eine marktorientierte, sich dem
Kapital öffnende Demokratie, in der auch weiterhin die Reichen
reicher und die Armen ärmer werden. Es geht nicht um eine
Demokratie, in der weiterhin Militär und eine militarisierte
Polizei unkontrolliert walten und die Politik bestimmen. Es geht
nicht um eine Demokratie, bei der sich die Beteiligung der Bevölkerung
in Malen von Kreuzen alle paar Jahre erschöpft.
Das Demokratieverständnis, um das es geht, wird z.B. von
Maria da Penha Félix von SERPAJ Brasilien so formuliert:
"Nur durch das Ideal wird Wirklichkeit"
"Nur durch das Ideal wird ... Wirklichkeit", dieser Satz
Landauers beweist sich gerade an den Entwicklungen nach dem Zusammenbruch
der Staaten des Ostblocks. Auf der einen Seite sind weltweite Demokratisierungsprozesse
zu beobachten. In Osteuropa, Lateinamerika, Südostasien und
Afrika werden zunehmend diktatorische Regime durch formale Demokratien
ersetzt. Von den Industriestaaten des Nordens wird die Befolgung
demokratischer Spielregeln als Bedingung für Kredite an Länder
der "Dritten Welt" gefordert. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten
traf eine US-amerikanische Militärintervention wie diejenige
in Haiti zur Wiedereinsetzung des vergleichsweise fortschrittlichen
und populären Präsidenten Aristide nicht auf die kollektive
und eindeutige Ablehnung aller sozialen Bewegungen in Lateinamerika.
Die gewaltfreien Massenbewegungen waren zwar vielfach in der
Lage, die alten Herrschaftssysteme zu überwinden, der stattdessen
mit voller Kraft hereinbrechenden (ökonomischen) Macht des
"freien Marktes" westlicher Demokratiemodelle konnten sie jedoch
nichts mehr entgegensetzen. Und genau dies hat viel mit dem Mangel
an Utopie in diesen Bewegungen zu tun. Denn wenn mensch kein eigenes
Ziel benennen kann, wie Gesellschaft nach der Überwindung
der alten Herrschaftsstrukturen organisiert werden soll, bleibt
wenig anderes übrig, als sich an bestehenden Modellen zu
orientieren und auf die von außen angetriebenen Entwicklungen
zu reagieren (was gerade in Osteuropa und der DDR sehr deutlich
war). Ohne positives Ziel bleibt statt Aktion nur noch die Reaktion.
Daß nun auch innerhalb der WRI z.B. auf der Dreijahreskonferenz
über Probleme des "Übergangs zur Demokratie" diskutiert
wird, und nicht über gewaltfreie Revolution, heißt
erstmal noch nicht, daß die Utopie ad acta gelegt wurde.
Und es muß wohl als Tatsache festgestellt werden, daß
auch für radikal-antimilitaristische und anarchistische Bewegungen
die Bedingungen in formalen Demokratien besser sind, als unter
autoritären Regimen. Diese Freiheiten gering zu schätzen,
kann nur von denen kommen, die sie Zeit ihres Lebens als selbstverständlich
genossen haben.
Für viele gewaltfreie soziale Bewegungen ist der Übergang
zu einer formalen Demokratie westlicher Prägung gesellschaftliche
Realität, und die Frage, wie auf diesen Prozeß zu reagieren
ist, welche Möglichkeiten und Gefahren für gewaltfreie
Bewegungen in diesem Prozeß liegen, von großer Bedeutung.
Und gerade für diese Frage ist das Vorhandensein von Utopie
wichtig.
Die Ergebnisse des "Übergangs zur Demokratie" werden nach
den ersten Jahren praktischer Erfahrung von vielen Menschen als
Enttäuschung erlebt. Für die Masse der Menschen in Osteuropa,
Lateinamerika oder Afrika hat sich trotz demokratischer Rechte
in ihrem Alltag wenig geändert. Strukturelle Gewalt, Arbeitslosigkeit,
Rassismus usw. sind auch unter der neuen Regierungsform nicht
verschwunden. Als Folge der totalen Durchdringung aller Lebensbereiche
durch den "freien Markt" verschlechtert sich in Osteuropa für
viele Menschen die eigene ökonomische Lage.
Gerade in dieser Situation ist es die Utopie der gewaltfreien
Revolution, die unter Ausnutzung der erweiterten Spielräume
formaler Demokratien eine Perspektive für die eigene Arbeit
eröffnen kann. Während viele ehemalige Guerilla- Bewegungen
sich in Parteien transformiert haben und in der Erringung der
Macht auf parlamentarischen Wegen die einzige Möglichkeit
sehen, noch nicht einmal ihre alte (meist marxistische) Utopie
zu verwirklichen, sondern höchstens die Folgen des Kapitalismus
sozial abzufedern (wer hätte gedacht, das Sozialdemokratismus
mal zur Utopie wird?), kann es für gewaltfreie Bewegungen
genau darum nicht gehen.
Die Forderungen der Landlosen nach Land, der Arbeitslosen nach
befriedigender Arbeit, der Unterdrückten nach einem Ende
der Unterdrückung haben auch während des Übergangs
zur Demokratie nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. In diesen
Forderungen kommt die Utopie von einer freien, gerechten und selbstbestimmten
Gesellschaft zum Ausdruck. Für die gewaltfreie Bewegung geht
es daher darum, auch in einer "geistlosen Zeit" (Landauer) Mut
zur Utopie zu beweisen und an der Zielvorstellung der gewaltfreien
Revolution festzuhalten. Wenn diese utopische Zielvorstellung
durch den "Übergang zur Demokratie" als Ziel stillschweigend
verdrängt wird, einer "Demokratie", die in ihrer realen Ausprägung
von den Menschen zunehmend als Enttäuschung wahrgenommen
wird, vergibt sich die gewaltfreie Bewegung die Chance, die weltweite
Alternative gewaltfreie Revolution wieder auf die Tagesordnung
zu setzen. Denn gerade die Utopie der gewaltfreien Revolution
ist es doch, die bei der Enttäuschung an der "realen Demokratie"
ansetzen kann und somit die Hoffnung auf und die Kraft für
den Kampf um eine neue Gesellschaft wachhalten kann.
Das falsche Festhalten an bereits diskreditierten Zielen würde
dagegen auch die gewaltfreie Bewegung selbst marginalisieren und
unpopulär machen.
Andreas Speck
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