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Julius Dickmann

Vom dissidenten Marxismus zum Ökosozialismus

| Lou Marin

Peter Haumer: Julius Dickmann. "... daß die Masse sich selbst begreifen lernt." Politische Biografie und ausgewählte Schriften, Mandelbaum Verlag, Wien 2015, 358 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-85476-645-2

Julius Dickmann (1894-1942) war ein eigenständiger und origineller Denker der marxistischen Dissidenz. Er entwickelte eine frühe Kritik der Produktivkräfte und beeinflusste damit Simone Weil, mit der er in direktem Briefwechsel stand. Außerdem den heutigen Ökosozialismus von Michael Löwy (1).

Dickmann wuchs in Ostgalizien, der heutigen West-Ukraine, auf, in einer aufgeklärten jüdischen Familie, die noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien zog.

Sein politisches Leben, zunächst geprägt vom entstehenden österreichischen Kommunismus nach dem Umsturz der Habsburgermonarchie 1918-1920, war auf persönlicher Ebene begleitet von zunehmender Gehörlosigkeit.

Ab ca. 1930 hörte er gar nichts mehr und konnte sich nur noch schriftlich oder mit Gebärdensprache ausdrücken. In dieser Situation lernte er mit Hilfe seiner Nichte Anna Fried Französisch. Während die Familienmitglieder nach dem Einmarsch der Nazis nach Palästina, England oder in die USA flüchteten, war Dickmann dazu verdammt, in Wien zu bleiben, weil die USA keine Gehörlosen aufnahmen. Julius Dickmann wurde verfolgt, 1942 nach Polen deportiert und wahrscheinlich im Vernichtungslager Belzec ermordet (S. 124f.).

Die politische Biografie besteht aus drei Teilen: Zunächst einem biografisch-politischen Abriss; dann aus 23 persönlichen Postkarten Dickmanns an Anna Fried in den USA aus den Jahren 1939 bis 1941, die einen unkonventionellen Einblick in seine Lebenssituation zu dieser Zeit geben; schließlich ausgewählten Schriften, die laut Haumer ungefähr „die Hälfte der gegenwärtig bekannten Artikel und Schriften von Julius Dickmann“ (S. 156) ausmachen.

Haumer bekennt sich im Vorwort explizit und im Gegensatz zu wissenschaftlich-distanzierten Biografen zur „liebevollen Bewunderung“ (Max Brod, S. 8) für den von ihm Portraitierten, was ich sehr sympathisch finde. Haumer durchlebt quasi zusammen mit Dickmann die Irrungen und Wirrungen der Revolutionszeit in Wien nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches.

Wien: Die Perspektive Räte-Föderation scheitert

Infolge des großen „Jännerstreiks“ 1918, an dem sich in Österreich und Ungarn 750.000 Arbeitende beteiligten, und einer neuerlichen Streikwelle im Mai 1918 wurde am 12. November 1918 in Wien die Republik Deutschösterreich ausgerufen; heimkehrende Soldaten bildeten Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Diese blieben bis 1920 ein Machtfaktor, aber zu einer Räterepublik wie in der Sowjetunion, kurzfristig in Bayern und Ungarn 1919, kam es nie.

Die Perspektive einer internationalen Räte-Föderation setzte Dickmann in dieser Zeit sowohl dem bürgerlichen Parlamentarismus als auch der Organisationsform der Gewerkschaft entgegen. Letztlich schloss sich aber die von Dickmann geprägte „Föderation revolutionärer Sozialisten/Internationale“ (FRSI) mit der neuen Kommunistischen Partei Deutschösterreichs (KPDÖ) zusammen.

Spannend an Dickmanns Analysen aus dieser Zeit ist seine Ansicht, dass der Niedergang der österreichischen Sozialdemokratie seit ihrer Gründung 1889 in Hainfeld u.a. mit dem Nachgeben gegenüber den nationalen Selbstbestimmungsbewegungen im Habsburgerreich zusammenhängt (S. 30-41). Gegen die Zersplitterung in Nationen wie auch gegen die Zersplitterung in linke Parteien setzte er aber eine Vorstellung von internationalistischer Einheit, die sich am autoritären Zentralismus Lenins in der Sowjetunion orientierte, dem er nach dem Abebben der revolutionären Bewegung auch in Westeuropa noch bis zu seiner Schrift über den „linken Radikalismus“ 1920 folgte. Das bedeutete eine Rückkehr zum Parlamentarismus sowie eine Abgrenzung vom Linkskommunismus, den er nun als Sektierertum und Putschismus verurteilte (vgl. S. 269-290).

Selbstkritik des Marxismus

Von 1921 bis 1927 gab es eine Publikationspause Dickmanns – und danach war alles anders. Eine theoretische Absetzbewegung vom orthodox-kommunistischen Fundus (Marx, Engels, Lenin) begann und äußerte sich 1927 in einer Erklärung zum „toten Marxismus“, an dem er nur noch die „dialektische Methode“ (S. 90-96) gelten ließ, darin Georg Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ nicht unähnlich. 1932/33 führte Dickmann dann diesen dissidenten Marxismus zu einer „Selbstkritik des Marxismus“ (so Haumer S. 108) weiter und wurde dabei vor allem vom Antistalinisten Boris Souvarine und von Simone Weil in Frankreich rezipiert (S. 111). Sein erstaunlicher Aufsatz „Das Grundgesetz der sozialen Entwicklung“ (dt. 1932, frz. Übers. 1933) war die direkte Grundlage für Simone Weils fast schon klassisch-libertären Text „Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und sozialen Unterdrückung“ (2). Dickmanns Aufsatz, von Haumer im Buch S. 302-349 vollständig dokumentiert, stellt Marx‘ Geschichtsphilosophie von der Entfesselung der Produktivkräfte, welche die jeweils historisch dominanten Produktionsverhältnisse „sprengen“, im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf: „Der Sozialismus wird aber nicht aus einer weiteren Entfaltung der Produktivkraftentwicklung hervorgehen, deren Wachstum angeblich durch das kapitalistische Eigentum gehemmt wird; er wird sich notwendig aus dem Schrumpfen der heutigen Produktionsgrundlagen ergeben.“ (S. 349)

Dickmann wurde so zu einem vergessenen, aber wichtigen Vorläufer der Kritik der Produktivkräfte und der ökosozialistischen Wachstumskritik. Haumer aktualisiert die Konsequenz daraus: „Der Kapitalismus kann nur durch ständiges Wachstum existieren. Ein Schrumpfen der Gesamtproduktionsmenge würde eine tiefe Wirtschaftskrise hervorrufen. Im Ringen um eine ökologische Kreislaufwirtschaft müsste daher auch der Kapitalismus überwunden werden.“ (S. 111)

(1) Vgl. auch Michael Löwy: "Ökosozialismus", Laika, Hamburg 2016, S. 25.

(2) In deutscher Übersetzung, München 1987 und Zürich 2012.