Was bedeutet Graswurzelrevolution?

Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Wir streben an, daß Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden. Schwerpunkte unserer Arbeit lagen bisher in den Bereichen Antimilitarismus und Ökologie. Unsere Ziele sollen – soweit es geht – in unseren Kampf- und Organisationsformen vorweggenommen und zur Anwendung gebracht werden. Um Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen wir gewaltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sinne bemüht sich die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreiten und weiterzuentwickeln.

Thesen über Staatlichkeit und Anarchie heute

„Es hat seine tiefe Bedeutung, daß die Gewaltlosigkeit heute für uns alle ein Problem ist, denn dies ist ein Zeichen, daß wenigstens unter vielen Revolutionären das soziale Gewissen in diesem Punkt feinfühliger geworden ist. … Sie alle würden ohne Gewalt kämpfen wollen – während für die früheren Menschen – und jetzt noch für die Mehrheit – die Gewalt eine Selbstverständlichkeit war und ist. … Aber zweierlei (ist ihnen), meine ich, nicht deutlich:

1. Daß es wohl besser sein kann – obgleich nicht immer ist -, Gewalt gegen Unrecht anzuwenden, als gar nichts dagegen zu tun; aber daß es jedenfalls noch viel besser ist, das Unrecht auf eine andere Weise zu überwinden.

2. Daß Gewalt selbst wieder gewalttätige Kräfte weckt.“

Clara Wichmann (1889-1922), gewaltfreie Feministin

„Jedes menschliche Wesen ist das unfreiwillige Produkt des natürlichen und sozialen Milieus, in dem es geboren ist, sich entwickelt hat, und dessen Einfluß es weiter empfindet. … Um eine radikale Revolution zu machen, muß man also die Stellungen und Dinge angreifen, das Eigentum und den Staat zerstören, dann wird man nicht nötig haben, Menschen zu zerstören und sich zu der unfehlbaren, unvermeidlichen Reaktion zu verurteilen, die in jeder Gesellschaft das Massakre von Menschen stets herbeiführte und stets herbeiführen wird.“

Michail Bakunin (1814-1876), Anarchist

Alle Menschen sind geborene AnarchistInnen

1. Eine Geschichte blutiger Katastrophen, ein Fortschritt, der über Leichen geht, eine Zukunft, in der das lebenswerte Leben, vielleicht das Leben überhaupt, gefährdet erscheint – dies sind die Konsequenzen einer Gesellschaftsordnung, in der die Individuen als bloße Mittel behandelt werden, die den Nationalstaaten und der Kapitalverwertung zur Verfügung stehen.Immer wieder haben Menschen, die ihre Lage erkannt haben, gegen diese Entwicklung gekämpft: für die Befreiung von Herrschaft. Denn allem gegenteiligen Schein zum Trotz sind die Menschen geborene AnarchistInnen, denen Unterordnung und Ungerechtigkeiten zuwider sind.

Die Ursachen der Herrschaft

2. Aber der Wille zu leben und frei zu sein, organisiert sich als Wille zur Macht, solange kein anderer Weg erkennbar und realitätstüchtig gezeigt wird: der/dem Einzelnen und menschlichen Gruppen muß es um ihre Selbsterhaltung gehen – und sei es auf Kosten der Vernunft. Und sei es auf Kosten anderer. Und sei es auf Kosten der Natur. Immer noch besser, zu befehlen, als zu gehorchen. Im Ernstfall: besser zu töten, als getötet zu werden. Und schließlich hat die Herrschaft etwas zu bieten; sie ist keineswegs bloßer Zwang. Wer einen bescheidenen Anteil an ihr hat, die/der kann sich noch anderen überlegen fühlen, hat größere Freiheitsspielräume als die Menschen, die den Machtzentren fern und feindlich gegenüberstehen. Zunächst scheint der Widerstand nur in Verschrobenheiten, Sekten, Elend, Gefängnisse, Einsamkeit zu führen. Bei allem Widerwillen gegen Gewalt und Unterordnung: Das Ziel der Anarchie ist geschichtlich relativ jung und natürlich immer neu in Frage gestellt. Eine Gesellschaft, die nicht mehr Befehlende und Gehorchende kennt, erscheint den meisten Menschen als Illusion, als Wunschtraum, hoffnungslos unrealistisch.

Der Zwangsapparat Staat

3. Der festgefügte und effektive Zwangsapparat Staat hat das autoritäre Prinzip festgeschrieben, systematisiert und sämtliche Lebensbereiche zum Gegenstand seiner Eingriffe gemacht, was paradoxerweise noch an der Gewährung sogenannter „staatsfreier Räume“ deutlich wird. Bereiche, in denen der Staat auf eine Regelung von erlaubtem und verbotenem Verhalten verzichtet. Bereiche, die der individuellen Selbstbestimmung freigehalten werden. So sehr alle Staatstätigkeit natürlich von gesellschaftlichen Prozessen abhängig ist, wird der Staat als über der Gesellschaft stehende, rationale, planende, schlichtende und ordnende Instanz gesehen, die zum Wohle aller eingreift.Da der Staat mehr und mehr gesellschaftliche Schutzfunktionen übernommen hat, erscheint er als einziger Garant von Schranken gegen eine schrankenlose Willkür privater und partikularer Gewalten, als Schützer der Schwachen, der Natur … – gerade gegen den ökonomischen Expansionismus und die autoritäre Politik, die er tatsächlich verkörpert und gegen Opposition sichert, im Interesse von herrschenden Minderheiten.

Dabei soll nicht geleugnet werden, daß das staatliche Gewaltmonopol tatsächlich partikulare Gewalten entmachtet und einen Schutz vor Willkür bietet. Gleichzeitig wird damit aber eine Macht geschaffen, die um vieles effektiver, und daher auch potentiell barbarischer ist, als jeder feudale Despot, der nicht zu bürokratisch- industriellen Formen der Massenvernichtung fähig war.

Verinnerlichung der Grundsätze des Staates

4. Nicht nur die militärisch-bürokratische Übermacht läßt Widerstand oft zwecklos erscheinen. Gerade in den westlichen Industriestaaten organisiert sich Herrschaft über den positiven Bezug der Beherrschten auf das System. Staatliche Strategien sind dort im wesentlichen nicht auf repressive Unterdrückung angelegt, sondern auf Integration: Identitätsbildung über Teilnahme am Konsum, Aufspaltung von Interessenlagen und Vereinzelung in der Gesellschaft, Normierung von Bedürfnissen und deren bürokratische Verwaltung, sowie das Versprechen auf demokratische Beteiligung führen zu Verinnerlichung der Notwendigkeit des Staates und der Grundsätze, die seine Funktion garantieren (Gehorsam; Delegation von Verantwortung; Bereitschaft, ExpertInnen zu vertrauen). Die Solidarisierung der Betroffenen wird verhindert, die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur direkten Aktion bei den Beherrschten oft so stark eingeschränkt, daß sie real immer wieder ihre Angewiesenheit auf den Staat, auf die Verantwortlichen, SpezialistInnen usw. erfahren.

Die Ziele der AnarchistInnen

5. Im Gegensatz zu anderen Oppositionsströmungen stört es die AnarchistInnen nicht, daß sie keinen Anteil am geschäftigen Treiben der offiziellen Gesellschaft und des Staates haben. Damit verzichten sie auf taktisch günstige Positionen, auf Legitimation, aber sie wissen warum: das Ziel, von einem radikalisierten Freiheitsbegriff ausgehend, die Herrschaft anzugreifen, soll nicht unklar werden. Schließlich sind die Erfahrungen mit Reformbewegungen, die schließlich nicht etwa ihre Ziele verwirklichen konnten, sondern sich in die angeblich bekämpften Strukturen als GegnerInnen integrierten und im entscheidenden Moment halfen, die Ziele des Staates auch gegen Opposition durchzusetzen, Warnung genug gegenüber der Annahme, man könne jede Struktur benutzen, um ganz andere Ziele zu verfolgen.Ziel der AnarchistInnen ist es, die Trennung in Befehlende und Gehorchende überhaupt zu beenden. Die AnarchistInnen wollen Eigentumsmonopole und Nationalstaaten durch die Selbstorganisation der Gesellschaft und föderalistische Organisationen ersetzen. Sie erkennen keine nationalen, religiösen oder sexistischen Vorrechte und keine Gesellschaftsstrukturen, die sich mit der Überlegenheit aufgrund von Rasse, Nation, Religion, Geschlecht usw. legitimieren, an.

Kritik des autoritären Sozialismus

6. Von den autoritären SozialistInnen unterscheidet die AnarchistInnen, daß sie nicht in der Eroberung der Staatsgewalt die entscheidende Voraussetzung für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Aufhebung der Klassen sehen. Vielmehr soll der Staat als Monopol der Gewalt, der zentralisierten Verfügung über gesellschaftliche Mittel, zu denen er dreist auch die Menschen macht, durch eine libertäre Demokratie (im Gegensatz zur bürgerlichen Formaldemokratie) ersetzt werden, die die Menschenrechte achtet und unveräußerliche Minderheitenrechte garantiert. Um die Ziele der libertären Bewegung gegen Staat und Kapital durchzusetzen und errungene Positionen zu verteidigen, ist natürlich „Macht“ erforderlich. Die Formen, in denen diese Macht ausgeübt wird, dürfen keinesfalls diktatorisch sein, sie sollen zu keiner Verfestigung einer neuen Herrschaft führen, sie sollen auf physische Gewalt weitgehend verzichten.Jede Trennung in Befehlende und Gehorchende (also jede staatliche Funktion) muß notwendig zu einer neuen Klassenteilung führen, also ungleiche Verfügung über Produktionsmittel und Aneignung der Produkte zur Folge haben. Deshalb tendiert der autoritäre Scheinsozialismus immer dazu, neue politische und ökonomische Ungleichheiten zu schaffen und sogar in diktatorischen Formen festzuschreiben.

Organisationsformen und Kampfmittel als Ausdruck wirklich verfolgter Ziele

7. Auch wenn kurzfristig – für die direkte Durchsetzung bestimmter Ziele – autoritäre (auf einer oben-unten- Arbeitsteilung beruhende) Organisations- und Kampfformen Vorteile bieten und effektiv erscheinen, so kann doch nur vom Ziel her die wirkliche Effektivität der Mittel beurteilt werden. Organisations- und Kampfformen sind nicht zufällig oder beliebig, sondern sie sind Ausdruck der wirklich verfolgten Ziele, die von den proklamierten stark abweichen können. Sie nehmen oft keimförmig vorweg, was unter günstigen, verstärkenden Bedingungen dann breit entfaltet wird – im guten wie im Bösen. Basisdemokratische und föderalistische Organisationsformen, die die Verantwortung der Einzelnen und Gruppen nicht einschränken und etwa einer Mehrheit unterordnen, können die Tendenzen der Professionalisierung, der Führerherrschaft, der Bürokratisierung und der Anpassung an vorgegebene Strukturen, denen Gruppen immer unterliegen, kontrollieren und eindämmen. Es bedarf wirklicher Anstrengungen, wenn verhindert werden soll, daß in den eigenen Reihen sich Hierarchien reproduzieren. Ganz „spontan“ werden bestimmte Aufgaben immer wieder bestimmten Personen zugeordnet, die darin erfahren und befähigt sind. Ganz „spontan“ ergeben sich Männerarbeiten und Frauenarbeiten.Wenn wir von unseren Organisationen nicht verlangen, Positionen zu erobern und sie mit eigenen Leuten zu besetzen, die dann den Apparat in den Dienst anderer Politik stellen, sondern unser Ziel ist, solche Positionen unmöglich zu machen, den Apparat leerlaufen zu lassen und seine Wirksamkeit zu behindern, so ist uns der Effektivitätsmaßstab nicht unbedingt vorgegeben: um eine Volkszählung zu verhindern, braucht man/frau nicht den Apparat, der sie durchführen kann.

Die soziale Revolution

8. So wie die Selbstorganisation nur durch Selbstorganisation gelernt werden kann, wird die Fähigkeit, mit der Gewalt des Staates fertig zu werden, nur durch massenhafte direkte gewaltfreie Aktionen erworben. Da militärische Kampfformen immer auch eine militärisch-hierarchische Organisationsform bedingen, wenn sie nicht bloße Gesten, sondern wirksam sein wollen, bedeutet die Bürgerkriegskonzeption der Revolution immer die Errichtung eines Apparates, der mit den Zielen der Emanzipationsbewegung regelmäßig in Konflikt gerät und sie vom Ziel der Herrschaftslosigkeit abdrängt. Der Einsatz von Waffengewalt prägt Denken und Verhalten in autoritärer Weise: Vernichtung des Feindes ist das Ziel. Die Gewöhnung daran, sich durch physische Gewalt durchzusetzen, ist mit Moral und Menschenbild des Anarchismus unvereinbar. Ohne Selbstwiderspruch kann die Taktik der AnarchistInnen deshalb nur die direkte gewaltfreie Aktion sein. Auch in zugespitzten Situationen, wenn die Herrschenden mit Kriegsrecht oder Putsch drohen, auch gegen Interventionen, auch wenn es zu einer entscheidenden Konfrontation zwischen libertären Bewegungen und dem Staat kommt, ist die spezifische Waffe der AnarchistInnen massenhafter ziviler Ungehorsam (Boykottaktionen, massenhafter Bruch von Gesetzen, Sabotage, Massenstreiks bis zum Generalstreik, Kriegsdienstverweigerung) mit dem Ziel der Zersetzung der Machtzentren, insbesondere der bewaffneten Streitkräfte. Gegen eine genügend breite Massenbewegung, die durch gesellschaftliche und ökonomische Gegenmacht Druck ausübt und repressive Maßnahmen unterläuft, kann das herrschende Übergewicht der Waffen nicht zur Geltung kommen. Es gibt Situationen, in denen Repression nicht mehr zu Resignation, sondern zu unversöhnlichem Aufbegehren führt.Wenn die herrschende Macht erschüttert ist, und die Unterdrückten nicht mehr weiterleben wollen wie bisher, oder sie sehen, wie ihre Lage unhaltbar wird, und sie Hoffnung schöpfen, sich zu befreien, so beginnt die Phase der sozialen Revolution, die bis zur Beseitigung des Staates und der sozialen Stabilisierung der Anarchie dauert. Damit die alte Ordnung sich nicht wieder sammelt, reorganisiert, den revolutionären Elan sich abnutzen läßt und schließlich, von Schwächen, Übergriffen, Konflikten profitierend siegt, müssen gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sein, die nicht erst in der Phase der Zuspitzung entstehen können.

Die gesellschaftliche Kultur, die libertäre Bewegung, die Institutionen der Selbstorganisation müssen gefestigt sein und genug freiheitliche Impulse gegeben haben, die die Revolution dann freisetzt. Revolution ist keine Schöpfung aus dem Nichts, selbst wenn sie den Menschen erlaubt, über sich hinauszuwachsen.

Strategie des gewaltfreien Anarchismus heute

9. Wir leben heute in den westlichen Industriestaaten nicht in einer revolutionären Situation. Heute sind es kleine Minderheiten, die diese Ziele im Kopf haben, die in vielen Situationen mit ihrer Schwäche konfrontiert werden, ihrer Ohnmacht, Handlungsunfähigkeit, mit Verfolgung und Diskriminierung. Diese Minderheiten müssen begreifen, daß sie nicht auf Mehrheiten und auf BündnispartnerInnen starren dürfen. Minderheiten können eine Macht sein, wenn sie illusionslos und solidarisch mit Gleichgesinnten anfangen, sich zu verteidigen. Ihre Handlungen werden Nachahmung finden, ihre Fehler korrigiert werden, ihre Ziele werden (auch ihnen selbst) deutlicher werden. Eine anarchistische Minderheit bleibt unbedeutend, wenn sie Kompromisse mit autoritären Strömungen macht oder sich deren Themen und Kampagnen aufzwingen läßt. Dann würde sie mit Sicherheit im Abseits bleiben. Andererseits droht die sektiererische Selbstgenügsamkeit, die ohne Verbindung mit den sozialen Bewegungen bleibt. Die Spannungen, die entstehen, wenn man sich an Massenbewegungen beteiligt, deren Programme, Aktionsformen, Lebensweisen jedoch nicht übernimmt, sondern schriftlich, mündlich und durch Tat kritisiert, lassen sich nicht durch Formeln auflösen, sie müssen ertragen werden. Ziel muß es sein, eine gewaltfrei-anarchistische Massenminorität entstehen zu lassen, die in der Lage ist, zunächst einzelne Pläne der Herrschenden zu durchkreuzen (besonders jede Planung, die Kriegsführungsfähigkeit zum Ziel hat) und die eine stabile Kommunikationsstruktur, eingeübte Formen der Entscheidungsfindung und eine attraktive Gegenkultur aufbaut. Sie muß stark genug werden, um gesellschaftliche Entwicklungen insgesamt zu beeinflussen. Dazu gehört, daß die zunächst passiven Mehrheiten nicht reaktionär werden dürfen, aus Furcht vor Existenzunsicherheit, sondern daß sie die anarchistische Minderheit neutral oder mit Sympathie betrachtet, die gegen Kriegsführungspläne, die Umweltzerstörung, die alltäglichen Erniedrigungen zu handeln beginnt.Aufbrechende Krisen und gesellschaftliche Widerstandsbewegungen versucht der Staat nicht nur durch Repression, sondern auch durch Reformen zu neutralisieren: Damit sich möglichst wenig ändert, muß sich etwas ändern. Ist die Opposition dann ermattet oder gespalten in die, die weitergehen wollen und die, die mit dem Erreichten zufrieden sind, kann ja zurückgenommen werden, was zu weit geht. Oft sind Reformen auch unvermeidlich, um Kosten und Probleme der staatlichen Verwaltung oder der Kapitalreproduktion zu bewältigen. Es kann sinnvoll sein, die Widersprüche solcher Prozesse auszunutzen, um die freiheitlichen Tendenzen zu stärken, Teilziele der revolutionären Bewegung zu verwirklichen, die nur mit großem Aufwand wieder zerstört werden können. Aber wir fordern nicht Reformen vom Staat und wollen nicht staatliche Macht benutzen, um unsere Ziele durchzusetzen. Die politischen Organisationsformen der Herrschenden (Bürokratie, Parlament, Partei) sind keine Formen der Freiheit und widersprechen den Inhalten, für die wir uns einsetzen. Eine Kritik revolutionärer Konzeptionen unterstellt, sie würden konkrete Verbesserungen für die jetzt lebenden Menschen gering achten und stattdessen nur auf eine Endschlacht orientieren, auf ständige Polarisierung, Zuspitzung, Machtauseinandersetzung. Das ist falsch. Der Anarchismus als revolutionäre Theorie und Bewegung hat auch in der Vergangenheit langfristig gesellschaftliche Entwicklungen in freiheitlicher Richtung gefördert und die Revolution selbst als lang andauernden Prozeß verstanden, in dem Phasen der Aufklärung, der Experimente, der Organisation und Phasen der Kämpfe aufeinander folgen; in dem Erfahrungen verarbeitet werden. Die Frage ist weniger, ob wir uns an Tageskämpfen beteiligen, als wie. Heute ist für die Regeneration einer abgestorbenen Gesellschaft, die sich in konkurrierende, vereinzelte Individuen und deren staatlich-kapitalistische Verwaltung auflöst, eine Aktivität notwendig, die erst Grundlagen für erfolgreiche Kämpfe schafft: Entwicklung von Selbstbewußtsein und Solidarität, von sozialer Phantasie, Klarheit der Ziele.

Gesellschaftliche Entwicklungen, die die Entwicklung der Kinder, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Fähigkeiten, sich in andere Lebensweisen einzufühlen, den Horizont der Werte und die Lebenziele der Einzelnen beeinflussen, können von der anarchistischen Bewegung mitgestaltet werden. Freiheit, Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit als Leitmotive sollen die kapitalistisch-staatliche Unkultur in ihrer Rechtfertigung untergraben und Experimente mit freiheitlichen Lebensformen fördern: Kommunen, freie Schulen, Genossenschaftsprojekte, nicht-hierarchische Organisationen, selbstverwaltete Betriebe, konstruktive Arbeit für eine ökologische, dezentralisierte Produktion. Allgemeines Kriterium ist: den Staat zurückzudrängen, Selbstorganisation zu unterstützen.

Zur direkten Aktion gehört auch, im eigenen Alltag das abzustellen, was den erkannten Idealen widerspricht. Sich von Zwängen zu befreien, die straflos abgelegt werden können – das wird auch die Ausgangspunkte für unvermeidliche Konflikte mit den Mächten der Autorität verbessern. Jeden Tag eine böse Tat – in der Sicht derer, die den jetzigen Zustand der Welt für den besten aller möglichen halten!

Die große Hoffnung und der eigentliche Sinn der AnarchistInnen ist es, mit der sozialen Revolution alle autoritären Konzeptionen zum Scheitern zu bringen und eine freie, grenzlos sich föderalistisch vereinende Welt aufzubauen, in der Hunger, Folter, Krieg, Vergiftung der Umwelt und Unterdrückung der Menschen der Vergangenheit angehören. Diese Welt wäre keine konfliktfreie Idylle, und sie wäre keine totalitäre Einheit, sondern sie würde Gegensätze tolerieren und in gewaltlosen Formen austragen. Sie würde viele Experimente zulassen und müßte einen ständigen Abwehrkampf dagegen führen, daß wieder Hierarchie, Regierung, Ausbeutung entsteht. Sie würde an den jahrtausendealten Unterbauten der modernen Nationalstaaten, an patriarchalischer Herrschaft und rassistischer Ausschließung noch starke Feinde haben, die nicht verschwinden, nur weil der Staat sie nicht mehr schützt oder Konzerne nicht mehr von ihnen profitieren.

Nur eine starke gewaltfrei-anarchistische Bewegung wird in der Lage sein, solche Forderungen aufzuwerfen. Bei Bündnissen mit bürgerlichen und autoritär-sozialistischen Gruppen besteht die Gefahr, daß dadurch die anarchistische Bewegung instrumentalisiert und von ihren Zielen abgedrängt wird. Organisationsstrukturen und Politikverständnis solcher Gruppen befinden sich in prinzipiellem Widerspruch zu unseren Konzeptionen. Historische Erfahrungen in Rußland nach 1917 und Spanien nach 1936 haben gezeigt, daß herrschaftliche Strukturen von autoritären Gruppen reorganisiert werden.

Herrschaftslosigkeit oder Barbarei!

In einer Zeit, in der die jeweils neueste Katastrophe die vorigen vergessen läßt, aber die Stimmung immer mehr die einer Vorkriegszeit ist, wird die Wahl deutlich: Wahnsinn und apokalyptische Vernichtungsorgien, wenn sich die kapitalistisch-etatistischen Prinzipien grenzenlos entfalten. Oder Sieg der transnationalistischen Gegenkultur, die den Herrschenden in bestimmten Bereichen die Zusammenarbeit verweigert und sich mit den Unterdrückten in anderen Ländern solidarisiert. Wenn sich mehr Verbundenheit mit den Opfern herrschender Politik auf einem anderen Kontinent als mit der herrschenden Klasse des eigenen Landes organisieren ließe, so wären dies Vorboten der Anarchie, die Schrift an der Wand für Kapital und Staat und ihre AnbeterInnen.Der feministische Angriff auf das Patriarchat und die ökologische Kritik an der Übertragung der Herrschaftsverhältnisse auf die Natur und der Behandlung nicht-menschlichen Lebens als bloßen Rohstoff sind Bereiche, in denen die antiautoritäre Bewegung heute weiter geht als ihre VorgängerInnen. Daß uralte Gewohnheitsrechte der Ausbeutung angegriffen werden, ist ein Zeichen der Hoffnung.