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Anarchist und “Gerechter unter den Völkern”

Robert Kains fulminantes Buch über den Berliner Kleinfabrikanten Otto Weidt

| Dieter Nelles

Robert Kain: Otto Weidt. Anarchist und "Gerechter unter den Völkern". Lukas Verlag, Berlin 2017, 652 Seiten, 34,90 Euro, ISBN 978-3-86732-271-3

Was denkt man über einen Menschen, der aus der anarchistischen Bewegung ausgeschlossen wurde, weil er seine Genossen beklaut hatte und zeitlebens seinen moralischen und finanziellen Verpflichtungen gegenüber seiner ersten Frau und seinen beiden Kindern nicht nachkam? Vermutlich nichts Gutes! Umso erstaunlicher ist, dass dieser Mensch später mit einer bewundernswerten Entschlossenheit, mit großem Mut und hohem Verantwortungsbewusstsein 17 jüdischen Menschen das Leben rettete und vielen anderen half. Die Überlebenden nannten ihn deshalb später “Papa” oder “Pappi”.

Dies alles kann man jetzt in der Arbeit von Robert Kain über Otto Weidt nachlesen.

Spätestens seit dem Film “Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt” mit Edgar Selge, der 2014 in der ARD ausgestrahlt wurde, ist sein Name ein Begriff. Im Zentrum Berlins wird künftig ein Platz seinen Namen tragen. Auf Initiative der Journalistin Inge Deutschkron, die ihm sein Leben verdankte, war ihm 1971 von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem der Ehrentitel “Gerechter unter den Völkern” verliehen und 1993 am Haus Nr. 39 in der Rosenthaler Straße, wo er seine Besenmacherwerkstatt betrieb, eine Gedenktafel angebracht worden. Heute ist seine ehemalige Werkstatt ein Museum, das von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand betreut wird und sich vieler Besucher*innen erfreut.

Die Biographie des 1883 geborenen Otto Weidt war bislang in weiten Teilen unbekannt. Dem hat Kain nun mit seiner akribisch recherchierten Studie abgeholfen. Er hat nicht nur wichtige Informationen zu Weidts familiärem Umfeld, seiner Militärdienstzeit im Ersten Weltkrieg, seiner Erblindung und Berufsausbildung zum Bürstenmacher zusammengetragen, sondern auch zu seinem Engagement in der anarchistischen Bewegung des Kaiserreichs, die er in einem umfangreichen Kapitel darstellt (S. 34-175). Otto Weidt hatte 1903 erste Kontakte zur anarchistischen Bewegung und schloss sich ein Jahr später in Berlin der Gruppe “Anarchist” um Rudolf Lange an. Die rund 400 Personen zählende Bewegung in Berlin war in zahlreiche Gruppen zersplittert und gruppierte sich um drei damals erscheinende anarchistische Zeitungen, die untereinander teilweise heftig zerstritten waren.

Bis 1908 war Weidt einer der führenden anarchistischen Aktivisten in Berlin. Sein Bruch mit dem organisierten Anarchismus hatte zum einen mit Enttäuschungen über die Bewegung zu tun, deren Akteuren es seiner Meinung nach oft mehr um die Austragung persönlicher Rivalitäten als um die anarchistischen Ideale ging. Zum anderen hatte er aber auch selbst “verschiedene Verfehlungen” begangen, sich an den Geldern der Redaktion des “Anarchist” und des “Freien Arbeiter” bedient und persönliche Wertgegenstände seiner engsten politischen Mitstreiter entwendet (S. 520).

Aber trotz seines Bruchs mit dem organisierten Anarchismus blieb Weidt seinen Idealen treu. Er bezeichnete sich selbst 1947 als seiner “politischen Weltanschauung nach (…) anarchistischen Individualisten” (S. 485).

Kain arbeitet überzeugend heraus, dass die Erfahrungen, “die Weidt als aktiver Anarchist zu Beginn des 20. Jahrhunderts sammelte” (S. 521), ihn dazu befähigten, im Retterwiderstand eine so herausragende Rolle zu spielen. “Das seinerzeit angeeignete Wissen und die gesammelten Erfahrungen, aber auch die erlernten Strategien und Handlungsoptionen vor allem im Umgang mit staatlichen Autoritäten machte er sich in späteren Jahren zunutze” (S. 526).

Robert Kain arbeitet differenziert das Retter-Netzwerk Otto Weidts heraus (S. 280-419) und argumentiert in seiner Zusammenfassung gegen eine “individuelle Rettungswiderstandstheorie”, die “soziale Beziehungsstrukturen oftmals in den Hintergrund treten” oder erst gar nicht sichtbar werden lasse und so dazu beitrage, “einzelne Retter zu ‚verklären’, teilweise moralisch zu ‚erhöhen’ und manchmal auch zu ‚idealisieren'” (S. 506). Otto Weidt, so Kain, hätte “die Zuschreibung des Heldentums” alleine schon aus seiner politischen Überzeugung abgelehnt, aber auch deswegen, “weil er eben nicht der ‚Einzelkämpfer’ und stets ‚selbstlose Retter’ war, sondern gemeinsam mit anderen Helfern im Rettungswiderstand agierte” (S. 596).

Robert Kain hat eine akribische und detaillierte Arbeit vorgelegt, die in jeder Hinsicht überzeugt. Ich hoffe, dass sie viele Leser*innen findet.