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Algerisches Manifest gegen Gewalt

Assia Djebar reflektiert in "Weißes Algerien" die Kontinuität der Gewalt vom antikolonialen bis zum heutigen Krieg

| Lou Marin

Assia Djebar ist laut Klappentext die “bedeutendste” Schriftstellerin Algeriens – und noch dazu Feministin. Weil Leute wie sie heute von islamistischem Terror bedroht und auch vor der eigenen Regierung nicht sicher sind, wenn sie deren Repression kritisieren, lebt und schreibt sie im Exil in Paris. Doch sie leidet in jedem Absatz, jeder Zeile mit den Opfern des algerischen Bürgerkrieges, deren Zahl von 1992 bis heute auf ca.60 000 geschätzt wird.

Die laizistische Frauenbewegung Algeriens glaubte lange, sich durch Beteiligung am bewaffneten antikolonialen Kampf eigene Freiheiten gesichert zu haben, die jedoch von der institutionalisierten Befreiungsarmee im unabhängigen Algerien schnell zurückgedrängt wurden. Wenn algerische Feministinnen heute von den zweifellos brutalen und patriarchalen islamistischen Mördern reden, verdammen sie deren Gewalt entschieden und zu Recht, ohne jedoch dabei zu einer grundsätzlichen Kritik der Gewalt vorzudringen. Die antikoloniale Gewalt bleibt tabu. Die Kontinuität der Gewalt wird nicht benannt, aus welcher eine korrupte Machtclipue hervorging, die sich heute gegen die IslamistInnen richtet und diese immerhin massenhaft foltert und hinrichtet – u.a. im selben berüchtigten Gefängnis Barberousse, wie Assia Djebar betont, in dem schon die französische Kolonialarmee folterte und mordete. Die Scheu vor radikaler Gewaltkritik läßt die laizistischen Feministinnen trotz gelegentlicher Kritik der Regierungsgewalt in den Augen der IslamistInnen zum fünften Rad am Wagen der Herrschenden werden. Zuweilen kommt aus den Reihen dieser Frauen auch die Forderung nach noch kompromißloserem Vorgehen der Regierung. Eine ähnliche Struktur offenbart sich bei den ebenfalls von islamistischen Mordkommandos bedrohten SchriftstellerInnen, JournalistInnen und LehrerInnen Algeriens. In der Nachfolge von Frantz Fanons ethischer Rechtfertigung der Gewalt von Unterdrückten können sie nicht kritisieren, was einst ihre Identität ausmachte und nun auch die unterdrückten IslamistInnen wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Assia Djebar ist nun die erste laizistische algerische Intellektuelle, die die Verselbständigung der Gewalt in Algerien vom antikolonialen Krieg bis heute in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt.

Und sie macht dies auf eine nachdenkliche, im besten Sinne literarische Weise. Djebar erinnert auf sehr persönliche Art an 19 algerische Personen des öffentlichen Lebens (AktivistInnen, SchriftstellerInnen oder JournalistInnen), die seit Beginn des ersten algerischen Krieges eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Im Zentrum steht der Tag ihres Todes – von Krankheiten dahingerafft, durch Unfälle aus dem Leben gerissen, meist jedoch wurden sie ermordet, entweder von der französischen Kolonialarmee bzw. ihrem Geheimdienst (OAS), oder von der algerischen nationalen Befreiungsbewegung (FLN), oder von den IslamistInnen heute. Assia Djebar beschreibt das gesellschaftliche Klima in den Tagen vor dem Tod dieser 19 Personen, erinnert sich an eigene Gespräche mit ihnen oder an wichtige Inhalte ihres Schaffens. Sie breitet die bedrückende Atmosphäre des alltäglichen Lebens in Angst aus, welche sowohl für den ersten wie den zweiten algerischen Krieg kennzeichnend ist. Immer wieder stehen Beer- digungssequenzen im Mittelpunkt und es wird die Funktionalisierung der Totenfeiern für die Regierung deutlich, welche die Gefallenen zu Märtyrern des Vaterlands erklärt. Beispielhaft etwa schildert Djebar den Mord an Abane Ramdane, einem Unabhängigkeitskämpfer, der den Generalstreik gegen Frankreich Anfang 1957 organisiert und vor der Eskalation der Mittel innerhalb der FLN noch Skrupel hat te. Er wurde Ende 1957 von FLN-Leuten um Krim Belkacem ermordet, die einen militanteren Kurs durchsetzten. Einige Jahre nach der Unabhängigkeit wurde Ramdane in sein kabylisches Heimatdorf umgebettet und posthum zum “Helden” erklärt. Die Rede am umgebetteten Grab hielt – Krim Belkacem. Djebar schildert die Situation:

“Da trat ein junger Mann aus dem Halbkreis ganz hinten, in dem sich die bäuerliche Zuhörerschaft gesammelt hatte, die bis dahin scheinbar gehorsam, aufmerksam und gehorsam, gewesen war. Mit fester Stimme, in der die zurückgehaltene Wut mitschwang, unterbrach er die Rede von Krim. (…) ‘Hör auf, meinen Bruder mit Lob zu bedenken! Ihr habt ihn doch getötet, und jetzt besitzt ihr die Unverschämtheit, an seinem Grab Tränen zu vergießen! Das ist der Gipfel!'” (S.141)

Krim Belkacem wurde schließlich auf Befehl des nächsten Militärherrschers, Boumedienne, ermordet. Nachdem Boumedienne 78 gestorben war, wurde 1984 in Algier ein prunkvolles “Grabmal der Märtyrer” gebaut. Abane Ramdane wurde erneut umgebettet:

“Diesmal (‘der Gipfel!’ würde der Bruder von Abane sagen) bestattete man ihn ganz in der Nähe von … Krim Belkacem, seinem Mörder, und dieser ruhte nicht weit von Boumediennes gewaltigem Grab, welcher im Grunde der Mörder des Mörders war.” (S. 143)

Der für algerische Intellektuelle neue, konsequente Blick auf die Kontinuität der Gewalt ermöglicht Assia Djebar auch einen Bezug auf Albert Camus, der in Algerien lange Zeit so nicht möglich war. Djebar rehabilitiert ihn als den algerischen Camus, der den Antikolonialismus, nicht aber die Gewalt befürwortet hatte. Sie erinnert auf eindrucksvolle Weise an Camus’ von allen Seiten angefeindete Rede in Algier Anfang 1956. Bei einem Gelingen des von Camus geforderten Waffenstillstands wäre nach Djebar zu dieser Zeit noch eine Lösung nach dem heutigen Vorbild der unblutigen Apartheid- Zurückdrängung in Südafrika möglich gewesen. Es war eine Hoffnung, die schnell in der Eskalation der Gewalt zerstob, einer Eskalation, die zwar von der französischen Armee ausging, in welcher aber – das macht Djebar unmißverständlich klar – die Methoden der Folter, der Hinrichtung und des politischen Mords an Rivalen auch von der eigenen Seite sehr schnell eingeführt und dann kontinuierlich angewandt wurden. Frantz Fanon wird von Djebar nicht direkt kritisiert, dazu ist er wohl noch zu sehr Ikone, zudem kannte Djebar seine Frau Josie sehr gut. So erinnert sie nur an Josie’s Kommentar nach dem Massaker der Regierung an 600 Jugendlichen im Jahre 1988, daß man/frau gegen diese Regierung im Sinne Fanons neu rebellieren müsse. Doch in dem Kapitel über die “Prozession von vier Toten”, in denen auch Fanon auftaucht, wird von Djebar als am beeindruckendsten gerade Camus’ Rede hervorgehoben:

“Denn wir haben heute niemanden wie den anrührenden Camus im Januar 56, denn heute ist niemand zu finden, der sich mitten in die Arena begeben würde und noch einmal diese Worte einer Ohnmacht ausspricht, die nicht vollkommen machtlos ist, diese Worte eines Leidens, das ein letztes Mal zu hoffen wagt … angesichts der Tatsache, daß das scheußliche Gorgonenhaupt des Bruderkrieges weiterlebt, nicht aufzuhalten ist. (Vielleicht war Camus von allen Teilnehmern in dieser Prozession der Schriftsteller der erste, der diesen seltsamen und feinen Riß gespürt hat: einen Krieg, der zwar kolonialer Natur war, jedoch als Bürgerkrieg erlebt wurde, eine herz- zerreißende Zwietracht!).” (S.127)

Für diejenigen, die sich bisher noch nicht mit Algerien, algerischer französischsprachiger Literatur (drei Romane von Djebar sind bereits ins Deutsche übersetzt) befaßt haben, mag der Zugang zu diesem Buch ein wenig schwierig sein – viele Namen tauchen auf, Tote, Ermordete, die Djebar nicht immer ausführlich vorstellt. Doch der traurige Zauber literarisch-politischer Bilder, den Djebar entfalten kann, hat mich spätestens nach der Schil- derung der Exekution der ersten Algerier durch die Guillotine in Barberousse nicht mehr losgelassen. Zabana und Ferradj wurden von der Kolonialmacht hingerichtet, Zabana starb mit den Worten: “Ich sterbe, meine Brüder, aber Algerien wird leben!” und gilt seither als nationaler Heros, Ferradj starb in Verzweiflung: “Sie wollen mich töten! Ich möchte nicht sterben! Nein! Nein!”, und gewisse Leute – so Djebar verächtlich – fügen noch heute hinzu: “Besser, er wäre wie ein echter Algerier gestorben!” (S.40) Assia Djebar stellt sich auf die Seite von Ferradj und kritisiert dadurch ein Sterben für nationales Pathos und die darauffolgende patriarchale Heldenverehrung. Sterben ist immer sinnlos, und die verzweifelte und gleichzeitig gegen den Tod rebellierende Haltung Ferradjs ist für Djebar die Haltung der Lebendenwollenden, der Gewaltlosigkeit und der Kritik des Nationalismus. Djebars tiefe literarische Übereinstimmung mit Camus in der Rebellion gegen einen sinnlosen Tod wird hier noch einmal deutlich. Assia Djebars Utopie ist ein “weißes Algerien” – “weiß” steht für das weiße Tuch bei Bestattungen eines natürlichen Todes Gestorbener. Assia Djebar wünscht sich natürliche, “weiße” Tode, keine abrupten Tode und keine unvollendeten Leben. Im unvollendeten Leben offenbart sich Gewalt – insofern ist der Tod Camus’ durch Autounfall ebenso Gewalt wie die Morde an den anderen Personen von Djebars literarischer Totenprozession. Dieser gemeinsame Ausgangspunkt ist der Aufhänger für ein ganz besonderes, beeindruckendes literarisches Manifest gegen Gewalt in jeder Form, ob durch den Staat oder durch die von ihm Unterdrückten.

Assia Djebar: Weißes Algerien. Unionsverlag, Zürich 1996, 280 S., 36 DM.