transnationales

Who the fuck needs the ESF?

| Wolfgang Hauptfleisch

Während sich im Alexandra's Palace Londons Bürgermeister vom Europäischen Sozialforum (ESF) feiern lassen will, organisierte sich vom 14.-17. Oktober außerhalb davon ein eigenes Forum. In den über ganz London verteilten Autonomous Spaces bot sich Raum zum Denken jenseits von Parteipolitik und "Verstaatlichungs"- Tendenzen. Einige Eindrücke jenseits des ESF (vgl. GWR 292).

Auf dem Podium im Camden Centre, unweit des Bahnhofs King’s Cross, sitzen VertreterInnen der Indymedia-Projekte aus Beirut und der Strasse von Gibraltar (Estrecho), “Justice for Janitors”, dem Noborder-Netzwerk und dem “Institute Of Race Relations”. Während sie in der 400 Menschen fassenden Halle über den Zusammenhang von Bewegungs- und Informationsfreiheit diskutieren, bilden sich an den unzähligen Computerterminals in den Nebenräumen und im Café spontane Arbeitsgruppen mit Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch und viele andere Sprachen gehen bunt durcheinander.

Das ESF von hinten

Während draußen der für London typische Sprühregen fällt, könnte man hier beim Tee sitzen und meinen, man wäre beim dritten europäischen Sozialforum, kurz ESF. Ist man aber nicht: Denn hier kann jeder umsonst ein- und ausgehen, keine Anmeldung, keine Tickets oder sonstwas. Hier im Camden Centre tragen viele Workshop-TeilnehmerInnen statt der roten Armbänder des ESF Buttons mit der Aufschrift: “ESF spelt backwards is SWP!” (ESF rückwärts gelesen heisst SWP, Socialist Workers Party”). Denn hier sind viele Menschen “pissed” von den seit Monaten andauernden und erfolgreichen Versuchen der SWP und Londons Labour-Bürgermeister (und partei-interner Tony-Blair-Erzfeind) Ken Livingstone, das ESF für ihre Zwecke einzubinden und die “Schirmherrschaft zu übernehmen”. Die meisten NGOs schien das wenig gekümmert zu haben.

Wie wenig sie dort bei der SWP von gemeinsamer Vorbereitung hielten, erklärt mir jemand anhand einer Anekdote: Einige SWP-VertreterInnen wurden in der Vorbereitung des ESF gefragt, ob sie eine Mailingliste hätten. “Wozu?”, war die Antwort, wenn man etwas mitzuteilen habe, schicke man das über den Adressverteiler. Irgendwann hat es vielen dann gereicht.

Nicht nur hier im Camden Centre, wo unter dem Titel “Communication Rights and Tactical Media” vier Tage über informelle Selbstbestimmung gesprochen wurde. In der London School for Economics wurde unter dem Schlagwort “Life Despite Capitalism (Leben Trotz Kapitalismus)” diskutiert. Es gibt einen “Women Space” (der vom ESF abgelehnt wurde), und die Londoner “Wombles” betreiben in der Middlesex University unter dem eindeutigen Titel “Beyond The ESF (Jenseits des ESF)” ein fünftägiges Veranstaltungsprogramm inklusive “Anarchist Teapot”.

Unter der Überschrift “Autonomous Spaces” entstand so ein Veranstaltungsprogramm, dass mehr als vier Zeitungsseiten füllt. In klarer Abgrenzung zum offiziellen ESF heißt es dort, dass “wir glauben, dass unsere Art zu organisieren und zu Handeln unsere politischen Visionen reflektieren sollte …” und zwar “gegen den falschen Konsens, in dem Macht benutzt wird, andere zum Schweigen zu bringen.”

Die ClownsArmy, die Wombles, die Yomangos (“Ich Klaue”), die SchNEWS- und Indymedia AktivistInnen aus dutzenden von Ländern haben sich hier zusammengefunden. Im Camden Centre sitzen die Hacker an ihren Rechnern und arbeiten an den praktischen Problemen der Vernetzung. Endlich sieht man Menschen, die man vorher nur aus Mail und Chat kannte, mal von Angesicht zu Angesicht.

Und überall ist es voll, die Veranstaltungen sind gut besucht, an Bücher- und Infotischen bilden sich Schlangen.

Am Freitag formiert sich spontan eine kleine Demo mit den Sambas von Rhythms of Resistance auf der Oxford-Street, Londons Shopping Meile. Später am Abend klaut eine Gruppe von AktivistInnen in den edlen Läden der Gegend genug Alkohol zusammen, um in der U-Bahn eine Gratis-Party zu feiern. London umsonst!

Kommunizieren und Bewegen

In den Diskussionen über Bewegungsfreiheit und Kommunikation steht immer wieder die Selbstorganisation von Informationsaustausch im Vordergrund: Keine Appelle an Regierungen, sondern der Aufbau von eigenen Netzwerken. Gerade in Hinsicht auf den freien Informationsaustausch beherrscht ein aktuelles Thema die Diskussionen: Am 7. Oktober, kurz vor dem ESF, beschlagnahmte das FBI – nach eigenen Angaben auf Anfragen von Behörden aus Italien und der Schweiz und nicht aus eigenem Interesse – einen der Indymediaserver in Großbritannien. Dies führte zwar dank der dezentralen Struktur von Indymedia nur teilweise zu Ausfällen, über den Hintergrund wurde aber nichts bekannt. Sowohl der Service Provider Rackspace, als auch die britischen Behörden machten keine Angaben zu dem Vorfall. Am 13. Oktober wurde die Hardware zurückgegeben. Welche Ziele mit der internationalen Polizeiaktion verfolgt wurden, ist unklar. MedienaktivistInnen prüfen jetzt, ob an den etwa 1 Millionen beschlagnahmten Artikeln Veränderungen oder Löschungen vorgenommen wurden. Erschreckend, dass dieser bisher beispiellose Einschüchterungsversuch gegen das Indymedia-Netzwerk in der übrigen Presse eher wenig Aufmerksamkeit fand.

Storming the Palace(s)

Am Samstag schließlich wird der Widerspruch zwischen dem “offiziellen” Forum und den freien Räumen im stattlichen Alexandra’s Palace, Veranstaltungsort des ESF, auf den Punkt gebracht: zwischen 200 und 300 Menschen verschaffen sich umsonst Zutritt zum Palast und besetzen für eine knappe Stunde das Podium. Dort hissen sie ein Banner mit der Aufschrift “Ken’s Party/War Party (Kens Partei/Kriegspartei)”. Die Babels, ein weltweites Netzwerk von ÜbersetzerInnen, verlesen auf dem Podium eine Erklärung, dass “einige unserer ÜbersetzerInnen nicht hier sein können, da ihnen die Einreise nach Großbritannien nicht erlaubt wurde. Dies ist eine direkte Folge der rassistischen Immigrations- und Asylpolitik der Labour Regierung. […] Die Art, wie das ESF in diesem Jahr organisiert wurde, war hier nicht hilfreich.”

Das Publikum reagiert überrascht bis abweisend, hatte man sich selbst doch bis dahin teilweise für “den Widerstand” gehalten. Ken Livingstone, der eigentlich an diesem Abend im Alexandra’s Palace zum Sozialforum reden will, sagt daraufhin erschreckt sein Kommen ab.

Am Sonntag schließlich die Abschlusskundgebung. Ob es nun 20.000 oder 70.000 waren, spielt eigentlich keine Rolle: Am Russel Square begrüßen einen hunderte – eher tausende – von Socialist Workers Party-Schildern mit Bildern von George W. Bush. Hier gelingt es der SWP vollends, die Veranstaltung in eine reine “Stop The War”-Demo umzufunktionieren. Dass sie dabei, obwohl in London, fast nur Bush im Visier haben, spricht Bände. Komplette Geschmacklosigkeiten überraschen da kaum noch: Eine Gruppe trägt Schilder mit der Aufschrift “Israel Terrorism”, daneben Davidstern und Hakenkreuz. Doch, jetzt möchte man sich übergeben. Der einsetzende Regen macht der Demo zum Glück ein rasches Ende. Die wenigen Gruppen aus den Freien Räumen, die hierher gefunden haben, versuchen ihr Bestes: Die RuferInnen von “no border, no nation!” werden von den Umstehenden aber eher fragend angeschaut. Es formiert sich ein kleiner “Media-Block”, um auf die Indymedia-Zensur durch Home Office und FBI aufmerksam zu machen. Eher ein Novum für Demonstrationen auf der Straße.

Aussichten

Gibt es einen Grund, über die Entwicklung des ESF, die eigentlich wenig überrascht, zu trauern? Wer durch die Freien Räume streift, wird wenig vermisst haben und könnte tatsächlich die Frage stellen: Wozu brauchen wir schon ein ESF, wenn wir das hier selber können? Ganz richtig ist das zwar nicht, denn eigentlich müsste man den TrotzkistInnen von der SWP dankbar sein, dass sie den Anstoß für ein eigenes Forum gegeben haben, und sicherlich wären auch ohne offizielles ESF nicht so viele Menschen nach London gekommen. Trotzdem: Es ist Teilen der globalen Bewegung gelungen, sich unabhängig von Parteien und Gewerkschaften zu organisieren.

Wie heißt es im Aufruf zu den Autonomous Spaces: “Politische Autonomie ist das Bedürfnis, […] ein gemeinsames Anliegen zu haben, ohne eine ‘gemeinsame Linie’ zu fordern.”

Das Projekt “Rettung der Vielfalt” war allemal ein Erfolg.

Anmerkungen

"Who the fuck needs the ESF?": etwa: Wer zum Teufel braucht das ESF?

Weitere Infos

www.wombles.org.uk
www.altspaces.net
www.efcr2004.net
www.lifedespitecapitalism.org
www.babels.org
www.schnews.org.uk
uk.indymedia.org