Liebe Leserinnen und Leser,
an dieser Stelle gebe ich seit 19 Jahren unmittelbar vor GWR-Drucklegung und auf Platz meinen Senf ab. Diesmal wollte ich über antimilitaristische Aktionen berichten und die Bundestagswahl kommentieren. Die Situation von Peter Steudtner, Deniz Yücel, Me?ale Tolu, 170 inhaftierten Journalist*innen und zigtausenden Menschenrechtsaktivist*innen in der Türkei sollte im Mittelpunkt stehen. Stattdessen muss ich Euch auf die Oktober-GWR 422 vertrösten, in der Ihr Beiträge u.a. zur Türkei, zur Russischen Revolution und die Libertären Buchseiten finden werdet.
Bundesinnenminister de Maizière hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der „G20-Rächer“ hat sich ein Beispiel am Autokraten Erdo?an genommen und am 25. August das linksalternative Internetportal linksunten.indymedia.org verboten.
Indymedia ist seit 1999 ein dezentral organisiertes, globales Netzwerk sozialer Bewegungen, mit vielen Ablegern weltweit. linksunten.indymedia hat sich zum meist besuchten Indymedia-Ableger in Deutschland entwickelt. Das Projekt möchte „Bewegungen die Möglichkeit bieten, frei von staatlichen Kontrollen und kapitalistischen Interessen Berichte, Erfahrungen, Analysen, Träume und Meinungen zu verbreiten, um Gegenöffentlichkeit zu schaffen“. Auf linksunten.indymedia wurden seit 2009 anonym unzählige linke Demoaufrufe, antimilitaristische Aktionsberichte und auch (bisweilen haarsträubende) Bekennerbriefe aus der autonomen Szene dokumentiert und diskutiert.
Das Portal ist zudem eines der wichtigsten Antifa-Onlinearchive der sozialen Bewegungen im deutschsprachigen Raum. Katharina König (Die Linke) kommentierte am 25. August entsprechend treffend auf Twitter: „Während #Verfassungsschutz Akten und Infos schredderte, veröffentlichte #linksunten Infos über #NSU und dessen Umfeld.“ Auch das Klimabündnis „Ende Gelände“ solidarisierte sich: „Kohlekraftwerke vom Netz nehmen – nicht @indy_linksunten“.
Mit der von der AfD und den meisten Medien begrüßten Kriminalisierung versucht der CDU-Wahlkämpfer Thomas de Maizière zur Bundestagswahl Stimmen am rechten Rand abzuschöpfen. So sollen die durch BILD und Co. im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel geschürten Rachegelüste (siehe G20-Schwerpunkt in dieser GWR) befriedigt und die von unten erkämpften Rechte auf freie Kommunikation und Meinungsäußerung ausgehebelt werden. Der Minister will den Überwachungsstaat ausbauen, u.a. mit Gesichtserkennung auf Bahnhöfen und ohne Alternativmedien und staatskritische Internetportale.
Dieser staatliche Angriff auf die Pressefreiheit ist ein Einschüchterungsversuch, der sich gegen alle linken Medienmacher*innen und kritischen Geister richtet. Als Reaktion auf das Verbot zitierten die Kriminalisierten John Perry Barlows „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von 1996 (siehe unten).
Die Graswurzelrevolution solidarisiert sich mit den Kolleg*innen von linksunten.indymedia.
Wir fordern die Rücknahme des Verbotes. Schluss mit Zensur und Repression! Pressefreiheit statt Big Brother! I.A. des GWR-HerausgeberInnenkreises,
Bernd Drücke (GWR-Red.), 26.8.2017
Wir sind bald wieder zurück
Statement auf linksunten.indymedia.org, 26.8.2017
"Regierungen der Industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes. Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln.
Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen - und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten. Regierungen leiten Ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ab. Unsere habt Ihr nicht erbeten, geschweige denn erhalten. Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. Glaubt nicht, Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentliches Projekt. Ihr könnt es nicht. Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde und wächst durch unsere kollektiven Handlungen. [...] In China, Deutschland, Frankreich, Russland, Singapur, Italien und den USA versucht Ihr, den Virus der Freiheit abzuwehren, indem Ihr Wachposten an den Grenzen des Cyberspace postiert. Sie werden die Seuche für eine Weile eindämmen können, aber sie werden ohnmächtig sein in einer Welt, die schon bald von digitalen Medien umspannt sein wird. [...]
Die zunehmenden feindlichen und kolonialen Maßnahmen versetzen uns in die Lage früherer Verteidiger von Freiheit und Selbstbestimmung, die die Autoritäten ferner und unwissender Mächte zurückweisen mussten. Wir müssen unser virtuelles Selbst Eurer Souveränität gegenüber als immun erklären, selbst wenn unsere Körper weiterhin Euren Regeln unterliegen. Wir werden uns über den gesamten Planeten ausbreiten, auf dass keiner unsere Gedanken mehr einsperren kann."