Die Avantgarde der „vaterlandslosen Gesellen“

Der Aufstand der Matrosen und die Novemberrevolution 1918

| Dieter Nelles

Fotos: Rüdiger Stehn (CC BY-SA 2.0,https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/legalcode), Hermann Knüfken, Von Kiel bis Leningrad. Erinnerungen eines revolutionären Matrosen. 1917-1930. Mit Dokumenten, 80 Fotos und Faksimiles. Hrsg. von Andreas Hansen in Zusammenarbeit mit Dieter Nelles. BasisDruck, Berlin 2008, ISBN 978-3-86163-110-1

Der Aufstand der Matrosen der kaiserlichen Marine im Oktober/November 1918 war eine der großen Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte. Er hat lange Zeit nicht die Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren, die er verdient. Das ändert sich langsam.

Mit einer großen Ausstellung und einem Festakt hat die Stadt Kiel dem Matrosenaufstand vor 100 Jahren gedacht. „Die Kieler Matrosen beschritten den Weg in eine freiheitliche, demokratische und entmilitarisierte Gesellschaft“, erklärte Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD). Die schleswig-holsteinische Bildungsministerium Karin Prien (CDU) betonte, „auch heute braucht es wieder Mut, für die richtige Sache einzustehen. Daran soll uns 1918 erinnern“.

Die Entente Kommission in Wilhelmshaven 6.12.1918 – Foto: gravitat-OFF (flickr, (CC BY 2.0))

In der öffentlichen Erinnerung rückt damit eine der vergessenen Freiheitsbewegungen in den Vordergrund, von denen es in der deutschen Geschichte nur wenige gegeben hat. Leider hat die Matrosenbewegung auch in der Linken nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient. Denn die Matrosen, schrieb der sozialdemokratische Jurist und Widerstandskämpfer Ernst Fraenkel 1943 in der New Yorker „Neuen Volkszeitung“ hätten ein Beispiel gesetzt, „dass eine Masse von 70 Millionen Menschen sich nicht sinnlos abschlachten lässt“. Auch in der wissenschaftlichen Forschung hat der Matrosenaufstand keine angemessene Beachtung gefunden. Zwar sind die Ereignisse in Kiel und Wilhelmshaven in ihren Abläufen erforscht, aber wir wissen immer noch zu wenig über die Träger dieser Bewegung, deren Herkunft und politische Zielvorstellungen.

Der Matrosenaufstand und die Novemberrevolution

Es war kein Zufall, dass die deutsche Revolution bei der Marine begann. Schon im Sommer 1917 war es zu massenhaften Befehlsverweigerungen und Friedensdemonstrationen gekommen, die drakonische Bestrafungen zur Folge hatten. Die Matrosen Max Reichpietsch und Alwin Köbes wurden exemplarisch hingerichtet, weitere 76 Matrosen und Heizer zu langen Zuchthausstrafen verurteilt. Die Vollstreckung der Todesurteile empörte und erbitterte die Matrosen und vertiefte die ohnehin bereits tiefe Kluft zwischen Offizieren und Mannschaften. Schließlich widersetzten sich Ende Oktober 1918 die Matrosen der deutschen Hochseeflotte in Wilhelmshaven dem Befehl ihrer Offiziere, gegen die englische Flotte in See zu stechen. Die anschließende Verhaftung von ca. 1000 Matrosen führte innerhalb weniger Tage zu einer offenen Aufstandsbewegung in Kiel, die schnell auf die norddeutschen Küstenstädte übergriff. Revolutionäre Matrosen bestiegen in Kiel, Bremen und Hamburg die Expresszüge, um ihre Kameraden aus den Militärzuchthäusern und Anstalten des Inlands zu befreien. Zwischen dem 5. und 7. November 1918 waren starke Gruppen von Matrosen am revolutionären Umschwung in zahlreichen deutschen Städten beteiligt. Von ihnen, den „Sturmvögeln der Revolution“, gingen die Impulse zur Gründung von lokalen Arbeiter- und Soldatenräten aus. Am 11. November, zwei Tage nach der Ausrufung der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann, bildeten revolutionäre Matrosen in Berlin die Volksmarinedivision, die dem neuen Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) als bewaffnete Ordnungsmacht unterstellt wurde.

Warum die Matrosen?

Auch im Heer war es in den letzten Monaten des Krieges zu ähnlichen Zersetzungserscheinungen wie in der Marine gekommen. Der Militärhistoriker Wilhelm Deist schrieb von einem „verdeckten Militärstreik“, der zu „einer Massenbewegung“ geworden war. Warum kam es aber nur in der Marine und nicht im Heer zu einem offenen Aufstand? Dafür waren zwei Faktoren entscheidend: Die soziale Zusammensetzung der Schiffsmannschaften und die Existenz einer illegalen Organisation unter den Matrosen. Bei den Decksmannschaften handelte es sich überwiegend um Seeleute der Handelsmarine, einer Berufsgruppe, bei der nationalistische Einstellungen nicht stark verbreitet waren. Das Maschinenpersonal rekrutierte sich meist aus qualifizierten Metallarbeitern, von denen viele schon vor dem Kriege der Arbeiterbewegung angehört hatten und deshalb viel leichter für eine politische Organisierung bereit waren. Nach den großen Januarstreiks in Berlin im Jahre 1918 wurden viele Aktivisten zum Kriegsdienst eingezogen, die die bestehende Bewegung in der Marine verstärkten. Beispielhaft dafür steht Otto Tost, der den Revolutionären Obleuten in Berlin angehörte und als einer der Streikführer zur Marine nach Cuxhaven eingezogen wurde. Tost war Mitglied des Cuxhavener Soldatenrats und nach seiner Rückkehr nach Berlin für kurze Zeit Kommandant der Volksmarinedivision.

Die Matrosenaufstand wird in der wissenschaftlichen Forschung meist als spontane Bewegung interpretiert, deren Akteure weder Leitsätze formuliert noch organisatorische Ansätze geschaffen hätten. Dieser Sichtweise widersprechen die Akten der Polizei und vor allem die wenigen schriftlichen Berichte der Zeitgenossen. So berichtete der im Zusammenhang mit der Matrosenrevolte 1917 zum Tode verurteilte – und später begnadigte Willy Sachse – von der Existenz eines schon seit 1915 bestehenden, illegalen Verbindungsnetzes mit einer zentralen Leitung, die aus den Bedingungen der Flotte selbst hervorging und durch ihre Mitglieder Kontakte zu linksradikalen Gruppen im Reich aufnahm. Ernst Schneider, der unter dem Pseudonym „Icarus“ 1943 in London eine Broschüre über die Wilhelmshavener Matrosenrevolte veröffentlichte, beschreibt ein geheimes Komitee, das sich 1916 bildete. Schneider war einer der Initiatoren eines spektakulären Streiks von Seeleuten auf dem Renomierdampfer „Vaterland“, des damals größten und schnellsten Passagierschiffs der Welt, im Mai 1914 in New York.

Die ausführlichste persönliche Schilderung der Matrosenbewegung findet sich in den Memoiren von Hermann Knüfken, den seine Kameraden Anfang November 1918 aus der Marine-Arrestanstalt in Kiel befreiten, wo er sich aufgund von Fahnenflucht und Landesverrat befunden hatte. Die Träger der Bewegung, so Knüfken, waren vor allem die jüngeren Jahrgänge. Zu Beginn des Krieges hätte es nur wenige wirkliche Kriegsgegner in der Flotte gegeben. Aber durch das „tägliche Vordemonstrieren des ‘Deutschtums’“ an Bord der Schiffe wäre die anfängliche Kriegsbegeisterung allmählich gewichen und hätte den revolutionären Matrosen „Agitationsgründe in die Hände gegeben“ die allgemeine „Disziplin zu untergraben“. Auf einzelnen Schiffen bildeten die Matrosen illegale Gruppen, deren Vertrauensmänner Verbindungen zu anderen Schiffen herstellten. Nach der Skagerrakschlacht im Mai/Juni 1916 hätte sich unter den „aktiven Elementen“ der Hochseeflotte der Gedanke durchgesetzt, „den Krieg durch offenen Widerstand zu beenden“. Überall hätten Netzwerke zwischen Matrosen und radikalen Werftarbeitern bestanden. Die Bewegung sei von keiner politischen Partei organisiert oder geleitet worden, sondern „beruhte ausschließlich auf den wenigen bewussten Elementen“. Und die hätten es verstanden, „die Unzufriedenen zusammenzufassen und sie reif zu machen für das bisschen Aktion, das dann zum Zusammenbruch Deutschlands führte“.

Gedenkafel Gewerkschaftshaus Kiel zur Novemberrevolution 1918 – Foto: Arne List (CC BY-SA 2.0)

Zwar sind die Erinnerungen der Akteure widersprüchlich, entscheidender ist aber viel mehr der Umstand, dass eine kleine, entschlossene Minderheit in der Lage war, im Oktober 1918 eine Meuterei zu entfachen, die sich dann zu einem übergreifenden Aufstand entwickelte. Was dies für das (Selbst-) Bewusstsein der Beteiligten bedeutete, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen und bislang noch nie systematisch untersucht worden. Knüfken fasste dies folgendermaßen zusammen: „Immer waren es die Matrosen, die vom Norden kamen, sie waren die Träger der Idee der Widersetzlichkeit gegen den deutschen Militarismus, mit ihren (wenn auch manchmal sinnlosen) Schießereien taten sie das einzige und allein richtige, was zu tun übrig geblieben war, sie zeigten dem deutschen Untertan die Ohnmacht der herrschenden Klasse. Es war der Aufstand der ‘vaterlandslosen Gesellen’, deren Avantgarde die Seeleute waren.“ Knüfken und Schneider und mit ihnen ein Teil der aufständischen Matrosen schlossen sicher dem radikalen Flügel der Arbeiterbewegung an und beteiligten sich Anfang 1919 an den großen Streikbewegungen und Räterepubliken, die von den Freikorps unter Verantwortung des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske blutig niedergeschlagen wurden. Bei den Märzkämpfen 1919 in Berlin ermordeten die rechten Freikorps 30 Angehörige, die eigentlich zum Schutz der Republik aufgestellte Volksmarinedivision, die in der Folge aufgelöst wurde.

Die Erinnerung an den Matrosenaufstand blieb in der Weimarer Republik stets lebendig. Symptomatisch dafür war der große Erfolg von „Des Kaisers Kuli“, des 1929 erschienenen Romans des ehemaligen Matrosen und Anarchisten Theodor Plievier, der in 18 Sprachen übersetzt wurde. Auch im Widerstand gegen den Nationalsozialismus war das Vorbild des Matrosenaufstandes präsent. Knüfken war der Leiter eine der größten gewerkschaftlichen Widerstandsgruppen von Seeleuten, die sich 1936 der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) anschlossen. Die Organisation der ITF-Gruppe orientierte sich an den illegalen Gruppen der Kriegsmarine und der „Geist von 1918“ wurde immer wieder beschworen. Den „Geist von 1918“ fassten die Matrosen in der von Hoffmann von Fallersleben stammenden Parole zusammen, die laut Knüfken in der Marine-Arrestanstalt von „Zelle zu Zelle“ ging:

Nicht betteln, nicht bitten

Nur mutig gestritten,

Nie kämpft es sich schlecht

Für Freiheit und Recht

Dieter Nelles

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier