Hugo Ball und der Anarchismus

| Peter Oehler

Hugo Ball wird mit dem legendären „Club Voltaire“ Anfang 1916 in Zürich und mit dem Dadaismus in Zusammenhang gebracht. Dass er sich aber auch intensiv mit dem Anarchismus auseinandergesetzt hat, dass ihn Bakunin zum Dada geführt hat, dass der Anarchismus ihm letztendlich den Weg zum Katholizismus (zurück) gezeigt hat, ist dagegen wenig bekannt.

Studio-Fotoaufnahme für Einladungspostkarte zu Hugo Balls Auftritt im Cabaret Voltaire 1916. Bildquelle: Wikipedia

Die folgenden Betrachtungen basieren auf der neuen Herausgabe von Hugo Balls „Die Flucht aus der Zeit“ (alle Zitate, soweit nicht anders vermerkt, sind dieser Ausgabe von 2018 entnommen) sowie auf der Dissertation von Manfred Steinbrenner, „Flucht aus der Zeit“? Anarchismus, Kulturkritik und christliche Mystik – Hugo Balls „Konversionen“.

Krieg und Anarchismus

Ausgangspunkt für Balls Auseinandersetzung mit dem theoretischen Anarchismus war der Beginn des Ersten Weltkrieges. Im November 1914 schreibt er: „Ich lese jetzt Krapotkin, Bakunin, Mereschkowsky. Vierzehn Tage bin ich an der Grenze gewesen. In Dieuze sah ich die ersten Soldatengräber. Im eben beschossenen Fort Manonvillers fand ich im Schutt einen zerfetzten Rabelais. Dann fuhr ich hierher nach Berlin.“ An Leontine Sagan schrieb Ball später: „Vom ersten Tag des Krieges hatte ich beschlossen, nicht mitzukämpfen […] Ich erwartete, daß sie mich erschießen würden. Meine Familie verachtet mich und schimpft mich Feigling. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber diesen blödsinnigen Massenmord, der von den Kapitalisten inszeniert und von unschuldigen Menschen ausgefochten wird, mache ich nicht mit. […] In Zürich sind Gleichgesinnte […] und viele andere Schriftsteller, wir werden mit der Feder gegen den Krieg kämpfen.“

Das stimmt zwar nicht mit der Tatsache überein, dass sich Hugo Ball zunächst freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat, wie er es in der „Flucht“ auch beschreibt, aber es ist die Haltung, die zählt. Und in der Schweiz war er dann auch sehr aktiv als politischer Journalist tätig und hat sogar eine führende Rolle in der Redaktion der „Freien Zeitung“ gespielt. Davon ist in der „Flucht“ aber überraschend wenig zu lesen. Tatsache ist auch, dass Ball bis an sein Lebensende in Deutschland als Feigling und Vaterlandsverräter geächtet worden ist.

Auch zu dem eigentlichen Auslöser seiner Kriegsgegnerschaft äußert er sich später: „Heute weiß ich es: das Bethmannwort hat mich aus Deutschland vertrieben. Vor diesem Worte war ich begeisterter Patriot und Kriegsfreiwilliger. Nachher, als ich mich entscheiden mußte, flüchtete ich. Dies war meine Not: ein Trieb zur moralischen Selbsterhaltung.“ Im Kommentar zur „Flucht“ heißt es dazu erläuternd: „In seiner Rede vor dem Reichstag vom 14. August 1914 führte Theobald von Bethmann Hollweg aus […]: ‚Wir sind jetzt in Notwehr; und Not kennt kein Gebot! Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, vielleicht auch schon belgisches Gebiet betreten. […] Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut.‘“ Es handelt sich also um eine verlogene Begründung für Deutschlands Beginn des Ersten Weltkriegs, und das von staatlicher Seite, was die Reaktion Balls verständlich macht. Balls Einstellung verfestigte sich in der Schweiz: „Der Krieg beruht auf einem krassen Irrtum […] Man sollte die Maschinen dezimieren, statt die Menschen.“ Und auch die Haltung wird dort bewusster: „Den schwarzen Adlerorden, die Tapferkeitsmedaille, das Verdienstkreuz I., II. und III. Klasse, all das habe ich heute Abend samt meiner Kriegsbeorderung in den Zürichsee versenkt.“

Mit dem Anarchismus gegen Marx

In der „Flucht“ wendet Ball sich durchgehend gegen den Marxismus, aufbauend auf seiner Auseinandersetzung mit Gustav Landauers anarchistischem Sozialismus und mit Bakunin, weil ihm das ein zu materialistischer bzw. ein rein ökonomischer Ansatz ist. „Der gehässige Charakter Marxens zeigt ihm [Bakunin], daß die Revolution von diesen Kreisen von ‚Philistern und Pedanten‘ nichts zu erwarten habe.“ Diese ablehnende Haltung basiert allerdings auf grundlegenderen Prinzipien von Jean-Jacques Rousseau: „In allen sozialistischen Systemen spukt die bedenkliche Ansicht Rousseaus, wonach man am irdischen Paradiese nur durch die verdorbene Gesellschaft gehindert wird.“ Von dieser Kritik nimmt er folgerichtig auch die Anarchisten nicht aus: „Die Anarchisten stellen die Verachtung des Gesetzes als oberstes Prinzip auf […] Voraussetzung ist der Rousseau‘sche Glaube an die natürliche Güte des Menschen und an eine immanente Ordnung der sich selbst überlassenen, ursprünglichen Natur.“

Man liest schon eine gewisse Skepsis heraus. Später in der „Flucht“ setzt er Chaos und Anarchie gleich: „Niemals würde ich das Chaos willkommen heißen […] Ich bin kein Anarchist.“ Dabei akzeptiert Ball noch nicht einmal das Proletariat als die Klasse, die die Revolution anführen sollte. Dass die herrschende Klasse besitzlos sein sollte, ist für ihn dagegen klar. „Es gibt nämlich noch eine zweite besitzlose Klasse außer dem Proletariat: die der Asketen; diese Klasse aber ist freiwillig ohne Besitz, ja sie sieht ihre Überlegenheit im Verzicht. Diese Klasse ist naturgemäß durch ihre pure Existenz die Widerlegung der proletarischen Ansprüche.“

Anarchismus und Bohème

Hugo Ball hat die meiste Zeit seines Lebens in teils existenzbedrohender Armut gelebt. Sein Interesse galt auch der Askese, also einem mehr geistigen Leben. Er hat sich also selbst zu der freiwillig besitzlosen Klasse gezählt. Deswegen ist es klar, dass er zur Bohème gezählt wird, zum Beispiel in Helmut Kreuzers Abschnitt „Boheme und Anarchismus“ in „Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. Ball lebte von 1912 bis 1914 in München zum Beispiel unter den Künstlern der Schwabinger Bohème. Dort hat er unter anderem auch die Anarchisten Erich Mühsam und Gustav Landauer getroffen. Das war kurz vor seiner Emigration bzw. Flucht in die Schweiz.

Vom Anarchismus zum Katholizismus

Die Beschäftigung mit dem Marxismus, und insbesondere mit dem Anarchismus, hat den getauften Katholiken Ball zur katholischen Kirche (zurück)geführt. „Der Marxismus hat in Deutschland als ‚Judenbewegung‘ wenig Aussicht auf Popularität […] Nur eine theologische Veränderung könnte uns vorwärtsbringen; nur eine moralische, nicht eine ökonomische.“ Damit sieht sich Ball d‘accord mit Bakunin, der „die Ökonomie nicht als einzige Basis aller Entwicklung betrachtet wissen“ möchte.

In gleicher Weise hat Ball etwas gegen den Protestantismus, die Reformation einzuwenden gehabt. Auch ist ihm die Nähe der evangelischen Kirche zum preußischen Staat suspekt. Ball lehnt also Marxismus und Protestantismus gleichermaßen ab. Stattdessen will er einen neuen, einen „integralen“ Katholizismus. Dabei hilft ihm wiederum Bakunin. Steinbrenner schreibt: „Bei Bakunin findet Hugo Ball […] die Ablehnung einer doktrinären materialistischen Philosophie (des Marxismus und des bürgerlichen Staates) vorgeprägt.“ Es ist also auch mehr das Geistige, das Asketische, das Ball wichtig ist, und nicht das Materielle: „Der Glaube an die Materie […] Die Maschine […] lügt noch flagranter als jede Zeitung, die von ihr gedruckt wird.“ Ball zeichnet dabei eine individuelle, persönliche und moralische Sicht auf den Anarchismus aus. Steinbrenner: „Im Mittelpunkt von Balls Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft des Anarchismus steht die Idee des sich selbst verantwortlichen Individuums.“

Der Ausweg für Ball liegt in seiner Hinwendung zur katholischen Kirche, deren Wurzeln im Anarchismus zu finden sind. Steinbrenner schreibt dazu: „Groteskerweise entwickelt Ball seine Vorstellung eines ‚integralen Katholizismus‘ anhand der Sozialutopie eines anarchistisch-theoretischen Systems.“ In der „Flucht“ heißt es: „Schließlich sind die Wortführer des Anarchismus […] getaufte Katholiken und im Fall der Russen Gutsbesitzer.“ Diese Aussage mag sich auch auf Leo Tolstoi mit seinem christlich geprägten Anarchismus beziehen, mit dem sich Ball ebenfalls auseinandergesetzt hat. Davon ist in der „Flucht“ aber wenig zu lesen.

Und auch schon früh in der „Flucht“ setzt sich Ball mit Jesus Christus auseinander: „Soweit sie [alle hervorragenden Dichter und Philosophen des 19. Jahrhunderts] rebellieren, berufen sie sich auf das Neue Testament. Sie betrachten es als ein revolutionäres Buch. Gegen den Vater erhebt sich der Sohn. Sie fassen Christus als Nihilisten auf. Als Sohn, als Rebell, muß er Antithesen setzen.“ Christus ist bzw. wird zu seinem einzigen Idol: „Man spricht von Christus […] ‚Er war der erste Sozialistenführer.‘“ Und: „‚Christus ist die Revolution‘: das war die Mereschkowsky-Formel meiner ‚Kritik‘.“ Die Hinwendung Hugo Balls zum Katholizismus war letztendlich konsequent, da bereits beim jungen, aufrührerischen Ball das Tiefreligiöse sichtbar war. Emmy Ball-Hennings schreibt im Vorwort zur „Flucht“ über ihren Lebensgefährten und späteren Ehemann: „Im Rebellen steckt schon der gläubige Bekenner.“ Und so ist es wohl mehr ein geistiger, und kaum ein materiell gemeinter Anarchismus, den Ball zeitlebens bis zu seinem viel zu frühen Tod 1927 (und damit acht Monate nach dem Erschienen der „Flucht“) gelebt hat.

Peter Oehler

Literatur:

Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 728 Seiten, 44 Euro, ISBN: 978-3-89244-744-3

Manfred Steinbrenner: „Flucht aus der Zeit“? Anarchismus, Kulturkritik und christliche Mystik - Hugo Balls „Konversionen“, Verlag Peter Lang, Frankfurt/M. 1995, 326 Seiten, 65,95 Euro