Max Nettlau und der Anarchismus ohne Adjektive

| Jochen Schmück

International bekannt ist Max Nettlau (1865-1944) (1) vor allem als Historiker, der sich auf die Geschichte des modernen Anarchismus spezialisiert hatte. Nettlaus historiografisches Hauptwerk ist seine ab 1925 erschienene „Geschichte der Anarchie“. (2) Mit dem auf sieben Bände angelegten Werk, von dem zu Lebzeiten des Autors nur die ersten drei Bände erschienen sind, schuf Nettlau das Fundament für eine umfassende und international ausgerichtete Geschichtsschreibung des Anarchismus, von dem in der Folgezeit die Anarchismusforschung außerordentlich profitierte. Auch 75 Jahre nach dem Tod ihres Autors ist die „Geschichte der Anarchie“ immer noch das herausragende Standardwerk zum Thema geblieben. Weitaus weniger bekannt als sein Wirken als Historiker ist Nettlaus politisches Engagement als Anarchist und sein spezifisches Anarchismusverständnis, das im Folgenden näher beschrieben werden soll.

Max Nettlaus politisches Engagement als Anarchist
Schwarzweißes Portraitphoto von Max Nettlau. Ein Mann mit Vollbart, weißem Harr und Nickelbrille
Max Nettlau. Quelle: IISG Amsterdam, Portrait, BG A10/299, Fotograf: Xavier Pellicer

Es war die Idee der Anarchie, die Vision einer herrschaftsfreien und solidarischen Gesellschaft, die das Interesse des jungen Max Nettlau am freiheitlichen Sozialismus und Anarchismus geweckt hatte. So war es nur konsequent, dass er als Historiker für die Erforschung ihrer Geschichte anfänglich einen ideengeschichtlichen Ansatz wählte. Doch Nettlau beschäftigte sich nicht nur als Historiker mit den anarchistischen Ideen anderer, sondern als Anarchist und libertärer Sozialist entwickelte und vertrat er auch eigene anarchistische Ideen, mit denen er Einfluss auf die Entwicklung der internationalen anarchistischen Bewegung zu nehmen versuchte.

Nachdem Nettlau 1885 für die Arbeit an seiner Dissertation nach London gezogen war, wurde er dort Mitglied in der Socialist League und begann sozialistische und anarchistische Publikationen zu sammeln. Zu dieser Zeit veröffentlichte er auch seine ersten eigenen anarchistischen Artikel. So gab er von Mai bis August 1890 die kostenlos verteilte Zeitschrift „The Anarchist Labour Leaf“ heraus, und er finanzierte den Druck des Blattes, das ausschließlich Artikel von ihm und Henry Davies, einem der aktivsten Anarchokommunisten der Socialist League, enthielt.

In jenen Jahren orientierte sich die internationale anarchistische Bewegung maßgeblich an den Ideen des in London im Exil lebenden russischen Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (3), der in den 1880er Jahren in seinen Veröffentlichungen das Konzept des kommunistischen Anarchismus (4) entwickelt hatte. Zumindest in den ersten Jahren seines politischen Engagements war Nettlau ebenfalls ein überzeugter Anhänger des kommunistischen Anarchismus (5), so wie dieser in der internationalen anarchistischen Bewegung damals vorherrschend war. Dementsprechend sind auch seine Veröffentlichungen in dieser Zeit, wie seine 1890 in The Anarchist Labour Leaf publizierten Beiträge oder auch der 1893 in The Commonweal ohne Verfasserangabe in Fortsetzungen veröffentlichte Artikel Why we are Anarchists erkennbar anarcho-kommunistisch geprägt. (6) In dem Artikel, der ein Jahr später auch separat als Broschüre erschien, grenzte Nettlau den kommunistischen Anarchismus vom individualistischen Anarchismus wie folgt ab:

(…) Als Anarchisten sind wir Individualisten, und wir sind Kommunisten, weil wir glauben, dass ein wahrer Individualismus, der nach der größten individuellen Erhebung und Perfektion strebt, unter dem Kommunismus am besten gedeihen kann. (…) Die Grenze zwischen Kommunismus und Individualismus wird jeweils nach den örtlichen und persönlichen Bedürfnissen gezogen. Einige werden es vorziehen, mehr für sich selbst zu leben, andere ziehen es vor, gemeinsam mit ihren Nachbarn zu leben. (…) Aus diesen Gründen betrachten wir den Kommunismus als die wahre Grundlage des Anarchismus. Wir lehnen den so genannten individualistischen Anarchismus als autoritär und zwanghaft ab.“ (7)

Später in der Rückschau allerdings beurteilte Nettlau seine damalige dogmatische anarcho-kommunistische Einstellung sehr kritisch: „Ich selbst, engstirnig und beschränkt wie ich damals war, schrieb 1890 eine Rechtfertigung des kommunistischen Anarchismus, die eine vollständige Widerlegung des Kollektivismus und des Individualismus beinhaltete, einen Artikel, den Mella übersetzte und in El Productor veröffentlichte (8), um seine Engstirnigkeit und Dummheit aufzuzeigen. […] Ich habe diese[n] Artikel erst 1929 gesehen. Um 1900 kam ich selbst zu jenen Ansichten, dass es notwendig wäre, sich über das Sektierertum in all seinen Formen zu erheben, aber selten wurde mir zugehört, und als ich diese Frage Anfang 1914 in Freedom (London) erstmals zur Diskussion stellte, wurde ich von allen bekämpft.“(9)

Nettlau bezog sich in der Erwähnung seines 1914 veröffentlichten Diskussionsbeitrages auf seinen im März 1914 in der Freedom erschienen Artikel Anarchism: Communist or Individualist? Both!, worin er schrieb:

Der Anarchismus ist nicht mehr jung, und es ist vielleicht an der Zeit, sich zu fragen, warum er sich mit all der Energie, die seiner Propaganda gewidmet wird, nicht schneller verbreitet.

Denn selbst dort, wo die lokale Aktivität am stärksten ist, sind die Ergebnisse begrenzt, während riesige Sphären noch kaum von der Propaganda berührt werden. (. . .)

Ich werde nur die Theorien des Anarchismus betrachten; und hier ist mir schon seit langem der Kontrast aufgefallen zwischen der Größe der Ziele des Anarchismus – der größtmöglichen Verwirklichung von Freiheit und Wohlstand für alle – und der Enge, sozusagen, des Wirtschaftsprogramms des Anarchismus, sei es individualistisch oder kommunistisch. Ich bin geneigt zu glauben, dass das Gefühl der Unzulänglichkeit dieser wirtschaftlichen Grundlage – exklusiver Kommunismus oder exklusiver Individualismus, so die Richtungen – die Menschen daran hindert, praktisches Vertrauen in den Anarchismus zu gewinnen, dessen allgemeine Ziele für viele als schönes Ideal gelten. Ich habe selbst das Gefühl, dass weder der Kommunismus noch der Individualismus, wenn sie denn die jeweils einzige Wirtschaftsform wären, die Freiheit verwirklichen würden, die immer eine Wahl der Wege, eine Vielzahl von Möglichkeiten erfordert. Ich weiß, dass Kommunisten, wenn man sie direkt darauf anspricht, sagen werden, dass sie nichts gegen Individualisten hätten, die auf ihre Weise leben wollten, ohne neue Monopole oder Autoritäten zu schaffen, und umgekehrt verhält sich das genauso. Aber das wird selten wirklich offen und freundlich gesagt; beide Richtungen sind viel zu sehr davon überzeugt, dass Freiheit nur dann möglich ist, wenn ihr jeweiliges Konzept umgesetzt wird. (…)

Dieser wünschenswerte Zustand der Dinge könnte von nun an vorbereitet werden, wenn man unter Anarchisten ein für alle Mal offen verstehen würde, dass sowohl der Kommunismus als auch der Individualismus gleichermaßen wichtig und dauerhaft sind und dass die ausschließliche Vorherrschaft eines der beiden das größte Unglück wäre, das der Menschheit widerfahren könnte. Vor der Isolation flüchten wir uns in Solidarität, vor zu viel Gesellschaft suchen wir Entlastung in der Isolation: Sowohl Solidarität als auch Isolation sind, jeweils im richtigen Moment, Freiheit und Hilfe für uns. Zwischen diesen beiden Polen schwingt das ganze menschliche Leben in endlosen Schwingungsarten.“ (10)

So kritisch, wie Nettlau auf sektiererische Tendenzen im Anarchismus reagierte, so kritisch beurteilte er die Rolle des Marxismus, die dieser innerhalb der sozialistischen Bewegungen spielte. Max Nettlau war einer der wenigen deutschen Anarchisten, der Ende der 1880er Jahre nicht aus der innerparteilichen Opposition der Sozialdemokratie zum Anarchismus gekommen war. Den Marxismus lernte er erst in England durch seine Mitgliedschaft in der Socialist League (11) näher kennen, aber auch durch seine Bakunin-Forschungen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse über Marx und Engels und ihre spalterische Rolle in der Ersten Internationale. Nettlau verabscheute den Größenwahn und die Machtbesessenheit von Marx und Engels, die sich einbildeten, eine für alle Zeiten gültige Formel des Sozialismus gefunden zu haben. Das, was sie und ihre AnhängerInnen anmaßend als „wissenschaftlichen Sozialismus” (12) propagierten und für dessen Programm zur Realisierung sie eine Führungsrolle innerhalb der internationalen sozialistischen Bewegung beanspruchten, waren für Nettlau schlichtweg Produkte eines fanatischen Sektengeistes.

Ebenso kritisch beurteilte Max Nettlau das Konzept des Klassenkampfes, das nach seiner Erfahrung als Sozialhistoriker noch am wenigsten geeignet war, historische Prozesse zu erklären. Für Nettlau, der die Gesellschaft als Ganzes, also als einen komplexen sozialen Organismus betrachtete, war der gesellschaftliche Fortschritt das Resultat der Anstrengungen der fortschrittlichsten Elemente jeder Klasse. Sozusagen eine menschliche Kulturfrage. Nettlau glaubte weder an die historische Mission einer Klasse noch an eine solche von ausgewählten Nationen. Dementsprechend lehnte er auch die Idee der „Diktatur des Proletariats“ ab, die unmittelbar nach der Russischen Revolution von 1917/18 selbst in anarchistischen Kreisen vereinzelte Anhänger fand. So führte er z.B. mit dem deutschen anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam (1878-1934) manche scharfe Auseinandersetzung, weil dieser die „Diktatur des Proletariats“ als notwendig für die revolutionäre Übergangsperiode betrachtete (13), während Nettlau auf Grundlage seiner historischen Kenntnisse eine solche strikt ablehnte. (14)

Obschon Nettlau nach dem Ersten Weltkrieg eine nicht unerhebliche Unterstützung von den anarchosyndikalistischen Verlagen in Deutschland (Verlag „Der Syndikalist“ / ASY-Verlag, Berlin) und Argentinien (Verlag „La Protesta“, Buenos Aires) erhielt, die seine Artikel und Bücher veröffentlichten und ihm dafür ein bescheidenes Honorar zahlten, hatte er gegenüber dem Konzept des revolutionärem Syndikalismus Vorbehalte.

Nachdem Nettlau dem marxistischen Konzept des Klassenkampfes nichts abgewinnen konnte, ist es verständlich, dass er auch für das vom Marxismus übernommene Klassenkampfpostulat der Syndikalisten keine großen Sympathien entwickeln konnte. In seinen Schriften bekämpfte Nettlau allein schon die Idee der Klassenzugehörigkeit, wie z. B. in einem 1940 in der libertären spanischen Exilzeitschrift Via Libre erschienenen Artikel:

Die ‚Klasseneinteilung‘ ist ein lächerlicher Fetischismus, denn jede Klasse ist aus denselben Elementen zusammengesetzt wie jede andere: Ehrgeiz, Falschheit und Neid – und einer Minderheit von Wissenden, Fortschreitenden und Lernenden. Ebenso steht es mit der anderen Irrlehre: dass irgendeine Klasse unterworfen, terrorisiert, in jedes beliebige System gepresst werden, aber nicht erzogen, vorbereitet werden könne auf ein bewusstes und freies Leben – denn schließt Freiheit nicht Wettstreit, Sieg der höheren Fähigkeit und höheren Kultur ein? Alles was Uniformität heißt, ist unseren Forderungen fremd! Wir Anarchisten können nur auf eine teilweise Verwirklichung unserer geistigen Ziele zuschreiten in einer Atmosphäre generöser Liberalität, guten Willens und gegenseitigen Verstehens.“ (15)

Am Syndikalismus kritisierte Nettlau ebenso wie an allen anderen größeren Organisationen der Arbeiterschaft, dass diese zu sehr in das System des vorherrschenden Kapitalismus und der Staatlichkeit eingebunden seien, ohne dass klar wäre, in welchem Maße sie sich überhaupt für den Aufbau neuer Gesellschaftseinrichtungen eignen oder nicht. Der Syndikalismus war seiner Ansicht nach als eine Bewegung zur Selbstverteidigung der ArbeiterInnen und zur Vertiefung allgemeiner sozialistischer Ideengänge nützlich. Aber was die von den Syndikalisten entwickelten Zukunftspläne für die Reorganisierung der neuen Gesellschaft betraf, so stand Nettlau diesen ebenso kritisch gegenüber wie all den anderen Richtungen des Sozialismus, die der Arbeiterklasse eine tragende Rolle im Prozess des gesellschaftlichen Wandels zuschreiben wollten.

Nettlau war dabei nicht der einzige, der innerhalb der anarchistischen Bewegung dem revolutionären Syndikalismus bzw. Anarchosyndikalismus kritisch gegenüberstand. Zwar fanden sich unter den älteren bekannten Anarchisten der ersten und zweiten Generation mit Pjotr A. Kropotkin und James Guillaume (16) prominente Befürworter des revolutionären Syndikalismus, aber es gab auch nicht minder populäre anarchistische Persönlichkeiten, die wie Errico Malatesta (17) das Konzept des Anarchosyndikalismus ähnlich kritisch beurteilten (18) wie Nettlau es tat.

Bereits als Jugendlicher hatte sich Nettlau für die Aktionen der russischen Revolutionäre der Narodnaja Wolja gegen den Zarismus begeistert, und sein Vater hatte ihn mit seinen Berichten über die 1848er Revolution beeindruckt. Seit dem revolutionären Aufstand und der Proklamation der Kommune von Lyon im September 1870 (19) hat es kaum noch eine Revolution in Europa und in der westlichen Welt gegeben, an der sich die freiheitlichen SozialistInnen und AnarchistInnen nicht beteiligt haben. Deshalb setzte sich Nettlau in seiner Erforschung der Geschichte des modernen Anarchismus intensiv mit dem Thema Revolution auseinander. Doch gerade weil er sich in seiner Erforschung der Geschichte des internationalen Anarchismus intensiv mit der Revolutionsgeschichte beschäftigt hatte, war Nettlau eher skeptisch in seiner Erwartungen, was die Chancen zur Bewahrung der gesellschaftlichen Errungenschaften von Revolutionen angeht. Den von vielen seiner anarchistischen Genossen und Genossinnen geteilten Glauben an eine Soziale Revolution, die die Menschheit aus dem Joch der kapitalistischen Knechtschaft direkt in ein ewiges Reich der Freiheit führen sollte, hielt er für naiv und für vergleichbar mit dem Messiasglauben früherer Jahrhunderte. Seine Sicht dazu beschreibt er wie folgt:

Nach meiner Auffassung (…) würde ein plötzlicher Zusammensturz, die soziale Revolution, auf jeden Fall alles zerstören und dadurch freien Raum schaffen, aber das allein ist keine Bürgschaft des sozialen und freiheitlichen Erfolgs im Wiederaufbau: dieser hängt allein von den vorhandenen Kräften, Intelligenz, Wille und innerer Tüchtigkeit ab, deren Vermehrung also unter allen Umständen unsere Hauptaufgabe ist, da ohne deren hinreichendes Vorhandensein Revolutionen einen sehr enttäuschenden Verlauf nehmen (1793, 1848, 1917 usw.).“ (20)

In seinem Revolutionsverständnis weisen Nettlaus Ideen eine Verwandtschaft mit den Ideen von Gustav Landauer (21) auf, mit dem Nettlau seit 1892 in persönlichem Kontakt stand. Für Landauer war der Sozialismus vor allem eine Kulturfrage der Menschheit, und ebenso wie Nettlau war er nicht der Ansicht, wie so viele seiner sozialistischen und auch anarchistischen ZeitgenossInnen, dass es zwangsläufige ökonomisch-historische Gesetzmäßigkeiten gebe, die den Sozialismus bzw. die Anarchie hervorbringen würden. Da auch der Übergang zum Sozialismus durch einen gesellschaftlichen Gewaltakt in Gestalt einer revolutionären Umgestaltung der sozialen Verhältnisse nicht in naher Zukunft möglich zu sein schien, sollte die sozialistische Idee nach Landauer schon in der Gegenwart exemplarisch durch den Zusammenschluss von bewussten Individuen in Bünden, Siedlungen und Genossenschaften realisiert werden. (22) Diese Sicht entsprach auch der Auffassung Nettlaus, für den der Ausgang der anarchistischen Revolution maßgeblich von den Vorbereitungen abhing, die von den Anarchistinnen und Anarchisten in der Vorrevolutionszeit getroffen wurden.

Realistischer Weise ging Nettlau davon aus, dass es in naher Zukunft keine Revolution geben werde, die exklusiv von den libertären Bewegungen realisiert werden könne. Er warnte sogar vor einer solchen Situation (23), wie sie zumindest anfänglich in den ersten Monaten der Spanischen Revolution von 1936 existierte, in der den spanischen AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen nach dem 19. Juli quasi über Nacht die politische Macht in die Hände gefallen war. Mehr noch als alle anderen vorangegangenen Revolutionen machte die Spanische Revolution ein Dilemma des Anarchismus deutlich, nämlich, dass die Anarchisten keine Antwort auf die Frage besitzen, wie sie sich in einer Revolution verhalten sollen, in der sich herausstellt, dass die Lösung keine anarchistische sein kann.

Jochen Schmück

Teil 2 dieser Artikelserie über Nettlau erscheint im Januar 2020 in der GWR 445.

 

Die Geschichte der Anarchie – zum Mitmachen!

Der Libertad Verlag plant die Werkausgabe der „Geschichte der Anarchie“ von Max Nettlau, die das für die Anarchismusforschung wichtige Werk erstmals vollständig veröffentlichen will. Die Veröffentlichung erfolgt in multimedialer Form sowohl als gedruckte Buchausgabe (Hardcover) als auch als digitale Onlineausgabe, die den Leser*innen erweiterte Nutzungsmöglichkeiten (wie Volltextsuche, freie Verschlagwortung usw.) bietet. Mit Hilfe der Onlineausgabe wird es möglich sein, dass die Leser*innen seine von ihm selbst nur als Rahmenwerk verstandene Geschichtsschreibung vertiefen können. Zugleich kann die Diskussion über den Inhalt seines Werkes online direkt geführt werden.

Infos: www.geschichte-der-anarchie.de

Anmerkungen:

1) Zu Leben und Werk von Nettlau siehe vor allem Rudolf Rocker: Max Nettlau. Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegungen, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1978, sowie Manfred Burazerovic: Max Nettlau. Der lange Weg zur Freiheit, Berlin: OPPO Verlag, 1996.

2) Die ersten drei Bände der Geschichte der Anarchie wurden in den Jahren 1925 bis 1931 im Verlag „Der Syndikalist“, Fritz Kater (Berlin), veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen Reprints der ersten drei Bände des Werkes in den Verlagen Auvermann (Glashütten i.T.), Impuls (Bremen) und Bibliothek Thélème (Münster). Als Erstveröffentlichung erschienen der vierte und fünfte Band des Werkes im Topos-Verlag (Vaduz/Liechtenstein). Der Libertad Verlag (Potsdam) arbeitet zurzeit an der Herausgabe einer multimedialen Werkausgabe der Geschichte der Anarchie. Nähere Infos: www.geschichte-der-anarchie.de

3) Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842- 1921) war ein russischer Anarchist, Geograph und Publizist. Neben Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) und Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) zählt Kropotkin zu den ideologisch einflussreichen Gründungsvätern des modernen Anarchismus. Leben und Werk von Kropotkin sind (durchaus mit kritischem Blick) beschrieben in Nettlaus Geschichte der Anarchie.

4) Zu Kropotkins Theorie des kommunistischen Anarchismus siehe Michael Lausberg: Kropotkins Philosophie des kommunistischen Anarchismus, Münster: Unrast, 2016. Wie stark der Einfluss von Kropotkin und des von ihm entwickelten Konzeptes des kommunistischen Anarchismus in der englischen und internationalen anarchistischen Bewegung noch bis zur Jahrhundertwende war, lässt sich z.B. an den Ausgaben der Schriftenreihe Freedom Pamphlets ablesen, die der englischen Zeitschrift Freedom angegliedert war. Von den 12 Nummern, die bis 1900 in der Schriftenreihe erschienen, enthielten sieben Ausgaben exklusiv Texte von Kropotkin, zwei Nummern stammten von Errico Malatesta, der zu dieser Zeit vergleichbare anarchokommunistische Ideen wie Kropotkin propagierte, die übrigen drei Ausgaben stammten von anderen Autoren, darunter als die 12. Nummer: Responsibility and Solidarity in the Labor Struggle, ohne Verfasserangabe, von Max Nettlau.

5) Nach Heiner Becker war Nettlau bis Mitte der 1890er Jahre „ein insgesamt recht dogmatischer Anarcho-Kommunist gewesen, kaum minder harsch und intolerant als eben die, die er von nun an attackiert“ habe (vgl. die Einleitung von Becker zur Neuausgabe von Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd. I: Der Vorfrühling der Anarchie. Seine historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864, Duisburg / Aßlar-Werdorf: Bibliothek Thélème, 1993 (Reprint), S. XIVf. sowie ders., Einleitung zur Neuauflage von Max Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd. III: Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880-1886, Aßlar-Werdorf; Bibliothek Thélème, 1996 (Reprint), S. XI.

6) Das gleiche gilt auch noch für seine zum 1. Mai 1895 veröffentlichte Broschüre Anarchist Manifesto, die Nettlau für die Londoner Anarchist Communist Alliance verfasst hatte.

7) Max Nettlau: Why we are Anarchists? Reprinted from the „Commonweal”, London 1894, S. 10-11 (Übers. aus d. Engl. v. Verf.).

8) Der von Nettlau erwähnte Artikel Comunismo, Individualismo y Colectivismo von Ricardo Mella (R. M.) erschien in Fortsetzungen in El Productor, Barcelona, Jg. 4, Nr. 210 (Okt. 1890) bis Nr. 217 (13. Nov. 1890). Nettlau wird in diesem Artikel nicht namentlich erwähnt, sondern Mella spricht darin von einem „Londoner Kollegen“ der Zeitschrift The Anarchist Labour Leaf, dessen dogmatisch anarcho-kommunistischen Anschauungen er anhand von Zitaten aus Nettlaus Artikeln in The Anarchist Labour Leaf kritisiert.

9) Max Nettlau: La anarquía a través de los tiempos, Madrid: Ediciones Júcar, 1978 (= Biblioteca Júcar de politica), S. 159 (Übers. aus d. Span. v. Verf.).

10) Max Nettlau, Anarchism: Communist or Individualist? Both, in: Freedom, Jg. 28, No. 299 (März 1914), S. 20 (Übers. aus d. Engl. v. Verf.). Eine im Schlussabsatz leicht veränderte Fassung dieses Artikels erschien auch in der von Emma Goldman in New York herausgegebenen Zeitschrift Mother Earth, Jg. 9, Nr. 5 (Juli 1914), S. 170-176.

11) Nettlau war eher zufällig durch seinen Wohnort in London, in der Tottenham Court Road, Mitglied in der Bloomsbury Branch geworden, die innerhalb der Socialist League quasi eine marxistischen Hochburg bildete, von der der stärkste Wiederstand gegen die ansonsten eher libertär-antiparlamentarische Politik der Liga ausging. Dadurch lernte Nettlau das marxistische Politikverständnis quasi aus der Innenansicht der marxistischen Fraktion der Sozialist League kennen.

12) Friedrich Engels hatte 1880 eine entsprechende Schrift, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, veröffentlicht, die Marx als eine „Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus“ empfahl.

13) Siehe hierzu Erich Mühsam: Die Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus, hrsg. u. eingel. von Philippe Kellermann, Münster: Unrast Verlag, 2017, bes. den auf S. 140-151 abgedruckten Aufsatz Anarchismus und Diktatur, in dem sich Mühsam explizit (im Nov. 1922 in der Zeitschrift Die Aktion, Nr. 41/42) für die „Diktatur des Proletariats“ aussprach.

14) Vgl. hierzu auch das in Rockers Nettlau-Biografie abgedruckte Streitgespräch zwischen Nettlau und Mühsam zur Frage der „Diktatur des Proletariats“, in: Rocker: Max Nettlau, a.a.O., S. 221f. Mühsam verabschiedete sich allerdings ab Mitte der 1920er Jahre von seiner leninistisch geprägten Klassenkampf-Rhetorik unter dem Eindruck der Terrorherrschaft der Bolschewiki, die zur Zerschlagung der libertären und anderer links-oppositioneller Bewegungen in Russland und zur Alleinherrschaft Stalins führte. Stattdessen propagierte er in seinen politischen Schriften wieder den alten anarchistischen Räte-Gedanken, mit dem sich jedoch Nettlau ebenso wenig anfreunden konnte wie mit der Idee der „Diktatur des Proletariats“; vgl. Max Nettlau: Minderheitenrechte im Sozialismus und das Rätesystem, in: Die Internationale, Jg. 4, H.7 (Mai 1931), S.151-155.

15) Nettlau: Gedanken zur Lage, in: Die Freie Gesellschaft, Darmstadt/Land, 3. Jg., Nr. 15 (Jan. 1951), S. 19. Nach Angaben der Redaktion war Nettlaus Artikel ursprünglich in der spanischen Zeitung Vía libre, Nr. 14, vom 15. Januar 1940 erschienen, bei der es sich vermutlich um die spanische Exilzeitschrift Vía libre. Órgano de la Federación Libertaria handelte, die in New York vom 5.3.1939 (Nr.1) bis zum 19.7.1940 (Nr. 21) erschienen ist.

16) James Guillaume (1844-1916) war ein Schweizer Anarchist, Publizist und Lehrer. Er gehörte zu den führenden Mitgliedern der Juraföderation in der Ersten Internationale, aus der – auch unter dem Einfluss von Bakunin – die erste anarchistische Bewegung der Schweiz hervorging.

17) Der italienische Anarchist Errico Malatesta (1853-1932) gehörte neben Michail A. Bakunin und Pjotr A. Kropotkin zu den einflussreichsten Persönlichkeiten und Aktivisten der italienischen und internationalen anarchistischen Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zu Leben und Werk von Malatesta siehe: Max Nettlau: Errico Malatesta: Das Leben eines Anarchisten, Berlin: Verlag „Der Syndikalist“, 1922. Neudruck unter dem Titel: Die revolutionären Aktionen des italienischen Proletariats und die Rolle Errico Malatestas, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1973. Eine erweiterte spanische Ausgabe der Biografie erschien unter dem Titel Errico Malatesta: La Vida de un Anarquista im Verlag La Protesta, Buenos Aires 1923.

18) Das zwiespältige Verhältnis der Anarchisten gegenüber dem Syndikalismus kam besonders deutlich auf dem im August 1907 in Amsterdam abgehaltenen Internationalen Anarchistischen Kongress zum Ausdruck. Nach Malatesta bewirkte gerade die von den Syndikalisten praktizierte gewerkschaftliche Tagespolitik, die auf eine sofortige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft ausgerichtet war, die Gefahr, dass das anarchistische Endziel in den Hintergrund gedrängt werden könne. In seiner Rede warnte deshalb Malatesta die Delegierten des Amsterdamer Anarchisten-Kongresses in einer Entgegnung auf die Ausführungen des französischen Syndikalisten Pierre Monatte eindringlich vor einer einseitigen Anerkennung des revolutionären Syndikalismus. Nach Malatestas Ansicht könne der Syndikalismus nur ein Mittel zur Revolution sein, während die angestrebte anarchistische Revolution weit über die Interessen einer Klasse hinausginge. Vgl. P. Monatte/E. Malatesta: Syndikalismus – Weg oder Ziel? (1907), in: Der Anarchismus, hrsg. von Erwin Oberländer, Olten und Freiburg i. Br.: Walter Verlag, 1972 (= Dokumente der Weltrevolution; Bd. 4), 325-346. Siehe auch den in Fortsetzungen abgedruckten Bericht über den Internationalen Anarchistischen Kongress von 1907 mit einem Kurzprotokoll der Redebeiträge in Freedom, London, Jg.11, Nr. 222 (Okt. 1907) bis Nr. 224 (Dez. 1907).

19) Zu dem Aufstand war es im September 1870 in Lyon gekommen, nachdem sich eine Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg abzeichnete. An der Organisierung des Aufstandes beteiligte sich auch der russische Sozialrevolutionär und Anarchist Michail A. Bakunin, der zu den Verfassern einer revolutionären Proklamation gehörte, in der die Abschaffung der machtlos gewordenen Verwaltungs- und Regierungsmaschine des Staates durch das französische Volk erklärt wurde, das von sich selbst wieder Besitz nimmt (vgl. Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiter-Assoziation, hrsg. von Jochen Schmück, mit einer Einleitung von Philippe Kellermann, Potsdam: Libertad Verlag, 2013 (= Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte; Bd. 8), S. 164f.). Zwar gelang es der Zentralregierung, den Aufstand noch im selben Monat niederzuschlagen, aber er diente der Pariser Kommune als Vorbild.

20) Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. I, a.a.O., S. 85.

21) Gustav Landauer (1870-1919) war ein jüdisch-deutscher Schriftsteller, Philosoph und Anarchist. Er gehörte zu den wichtigsten Theoretikern und Aktivisten der deutschen anarchistischen Bewegung im Kaiserreich. Zu Landauer und seinem Werk siehe die von Siegbert Wolf herausgegebene Edition der Ausgewählten Schriften Landauers, von denen bislang 15 Bände im Verlag Edition AV erschienen sind. Eingehend mit Landauers Anarchie- und Anarchismusverständnis beschäftigt sich der zweite Band der Edition: Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Anarchismus, Lich: Verlag Edition AV, 2009.

22) Der von Landauer 1908 gegründete Sozialistische Bund kann als ein solcher Versuch zur praktischen Realisierung seiner sozialistischen Genossenschafts- und Siedlungsideen gesehen werden.

23) Besonders deutlich in Nettlau: Nie wieder Diktatur, in: Die Internationale, 2. Folge, Jg. 1, H. 9 (Juli 1928), S. 211-213 u. Fortsetzungen in: H. 10 (Aug. 1928), S. 234-236; H. 11 (Sept. 1928), S. 265-268; H. 12 (Okt. 1928), S. 278-279.