Editorial

Sisyphos und die Graswurzelrevolution

Nach 22 Jahren als GWR-Koordionationsredakteur kommt der Wechsel ins afas

| Bernd Drücke

Sisyphos und die Graswurzelrevolution – Nach 22 Jahren als GWR-Koordionationsredakteur kommt der Wechsel ins afas

 

Liebe Leser*innen,

das 1985 in Duisburg gegründete archiv für alternatives schrifttum (afas) ist eines der größten Freien Archive in Deutschland. (1) Es sammelt und bewahrt Materialien aus den Neuen Sozialen Bewegungen und macht diese für die Nutzung und die Nachwelt zugänglich. Ein Gedächtnisort Sozialer Bewegungen, den wir zuletzt mit einem Interview in der Graswurzelrevolution Nr. 438 vorgestellt haben. (2)
Im Oktober 2020 hat das afas eine Stelle öffentlich ausgeschrieben, gesucht wurde ein*e Mitarbeiter*in für das afas-Leitungsteam. Vor einem Jahr hätte ich mich sicher noch nicht auf eine solch gut dotierte Stelle beworben, weil ich nicht gewusst hätte, wie es dann so schnell mit der Graswurzelrevolution weitergehen könnte, falls ich denn genommen würde. Dann kam mein Bandscheibenvorfall. Im Februar 2020 konnte deshalb keine GWR erscheinen. Anschließend habe ich die GWR-Mitherausgeber*innen Monika, Dirk und Daniel eingearbeitet. In einer schwierigen Zeit haben die „Glorreichen Drei“ mich dankenswerter Weise sehr gut vertreten, so dass ich mich auskurieren und nach der Sommernummer wieder voll übernehmen konnte. Das Layout mache ich seitdem nicht mehr alleine, sondern zusammen mit Dirk, der als Grafikdesigner eine tolle Arbeit macht. Monika und Daniel sind mittlerweile ebenfalls sehr gut in den GWR-Redaktionsalltag integriert und eingearbeitet. Diese Einarbeitung geht weiter. Ich bin nicht aus der Welt und werde weiter aktiv an der Entwicklung der Graswurzelrevolution teilnehmen.
Nachdem ich mit Monika, Daniel und Dirk gesprochen hatte und die drei sich bereit erklärt hatten, falls ich denn die Stelle im afas bekomme, ab Januar 2021 die Koordinationsredaktionsarbeit im GWR-Büro in Münster zu übernehmen, bis ein*e neue*r Koordinationsredakteur*in vom GWR-Herausgeber*innenkreis gewählt wäre (3), habe ich mich dann tatsächlich in Duisburg beworben. Und ich wurde genommen. Nach 22 Jahren als Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolution ist mir der Schritt nicht leicht gefallen. Ich liebe diese Arbeit und kann mir kaum einen befriedigenderen Beruf vorstellen. Das Klima im GWR-Autor*innen- und Herausgeber*innenkreis ist freundschaftlich, solidarisch und meistens sehr gut.
Auf die Stelle als Mitarbeiter im Leitungsteam des afas habe ich mich beworben, weil für mich das Sammeln, Zugänglichmachen und wissenschaftliche Auswerten von Grauer Literatur und anderen Materialien aus den Neuen Sozialen Bewegungen unerlässlich ist, um Geschichte von unten zu schreiben und zu bewahren. Für mich ist es eine Herausforderung, das afas, das ich seit 30 Jahren kenne und liebe, gemeinsam mit Anne Niezgodka und Jürgen Bacia zu leiten, weiter zu entwickeln und bekannter zu machen. Ich freue mich sehr auf das afas-Team und die Arbeit, die in Duisburg auf mich wartet.
Das heißt nicht, dass ich der Graswurzelrevolution den Rücken zukehre. Ich werde weiter Mitglied des GWR-Herausgeber*innenkreises sein und Monika, Dirk und Daniel helfen, um einen nahtlosen Übergang zu ermöglichen. Aber natürlich werde ich nicht mehr so intensiv dabei sein wie von 1998 bis heute. Ich hoffe, Ihr könnt meinen Schritt nachvollziehen und freut Euch mit mir.
So wehmütig wie bei dieser GWR-Endproduktion war ich noch bei keiner Ausgabe. Nach 22 Jahren, 220 regulären Graswurzelrevolution-Ausgaben und zahlreichen Extrapublikationen, die ich presserechtlich verantwortet und zusammen mit den Autor*innen und Herausgeber*innen produziert habe, ist diese GWR 455 nun meine letzte Ausgabe als GWR-Koordinationsredakteur. (4) Es war eine bewegende, unglaublich intensive, freie und produktive Zeit, in der ich meine freiheitlich-sozialistischen und graswurzelrevolutionären Ideen mit Leidenschaft in dieses faszinierende Projekt einbringen und mich auch persönlich weiterentwickeln und entfalten konnte. Nach jeder produzierten Ausgabe habe ich einen Luftsprung gemacht. Ein großartiges Gefühl, das ich ebenso vermissen werde wie die geliebten Menschen und die vielen anregenden Diskussionen und gelegentlichen Streitereien im GWR-Herausgeber*innenkreis und mit Autor*innen. In meiner Zeit als Redakteur habe ich mich ein bisschen wie Sisyphos gefühlt, der immer wieder den Stein den Berg hochrollt oder Monat für Monat eine neue Ausgabe der Graswurzelrevolution produziert. Und wir müssen uns Sisyphos bekanntlich als glücklichen Menschen vorstellen. Und vielleicht auch als einen „wahren Papst miserabler Witze“ (5)? Ein Freund ulkte mal, dass er befürchte, dass ich aufgrund der vielen durchgearbeiteten Nächte die GWR-Redaktion eines Tages mit den Füßen zuerst verlassen würde.
Daraus wird nun wohl nix. „Die Endproduktion stand unmittelbar bevor“, auch dieser Spruch, den ich mir mal für meinen eigenen Grabstein gewünscht hatte, ist ab sofort unpassend. Da muss ich mir wohl etwas ausdenken, was auf einem Grabstein ähnlich originell wäre wie das, was ein leider verstorbener Nachbar aus meinem Wohnprojekt für seinen Grabstein ausgesucht hatte: Monty Pythons Schwarzer-Ritter-Spruch „Okay, einigen wir uns auf Unentschieden“. (6) Na ja, als Optimist habe ich hoffentlich noch mindestens 30 Jahre Zeit, um mir darüber meine schwarz-roten Gedanken zu machen.

In diesem Sinne:
Alles Liebe, viel Spaß beim Lesen, Anarchie,
Gesundheit und Glück,

Bernd Drücke
(GWR-Koordinationsredakteur)

((1)) Kontakt: Archiv für alternatives Schrifttum (afas), Münzstraße 37-43, 47051 Duisburg. http://afas-archiv.de
((2)) Siehe: Gedächtnisort für Bewegung und Forschung. Ein Gespräch von Marvin Feldmann und Bernd Drücke mit Jürgen Bacia und Anne Niezgodka vom Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas), in: Graswurzelrevolution Nr. 438, April 2019, https://www.graswurzel.net/gwr/2019/04/gedaechtnisort-fuer-bewegung-und-forschung/
((3)) Siehe Stellenanzeige in dieser GWR.
((4)) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2017/06/feiern-statt-feuern/
((5)) Zitiert aus: „Statt einer Rezension. Offener Brief über Bernd Drücke und seine Dissertation ‚Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?‘“, Artikel von Joseph Steinbeiß, in: Apoplex. Schlaganfall für Münster – anarchistisch, lokal, monatlich, linksradikal“, Münster, November 1998, S. 10 f.
((6)) Siehe: https://youtu.be/7IfsjYVWNaM