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Kämpfen heißt Erinnern

Vorwort zum Buch ‚Ich lehre euch Gedächtnis.‘ Paul Wulf: NS-Opfer – Antifaschist – Aufklärer

| Konstantin Wecker

Foto: Monster4711, CC0, via Wikimedia Commons, Montage: gwr-online-Red.

Am 2. Mai 2021 feiert der Freundeskreis Paul Wulf den 100. Geburtstag des am 3. Juli 1999 gestorbenen Anarchisten Paul Wulf. Im März 1938 wurde Paul als 16-Jähriger von den Nazis als „lebensunwert“ stigmatisiert und zwangssterilisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einer Stimme der bis zu 400.000 zwangssterilisierten NS-Opfer. Heute erinnern eine Straße und eine Skulptur in Münster an den antiklerikalen Aktivisten, der 1991 für seine antifaschistische Aufklärungsarbeit mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. Voraussichtlich Ende März 2021 erscheint bei Unrast das vom Freundeskreis Paul Wulf herausgegebene Buch „‘Ich lehre euch Gedächtnis‘. Paul Wulf: NS-Opfer – Antifaschist – Aufklärer“. Wir veröffentlichen als Vorabdruck das Vorwort von Konstantin Wecker. (GWR-Red.)

Wer in Münster zu Fuß unterwegs ist, kann Paul Wulf heute immer noch begegnen: Mit seinem offenen Blick steht er zentral auf dem Servatiiplatz. Überlebensgroß! Das macht Sinn, denn Paul sollte zwei Mal ausgelöscht werden. Es ist sein liebenswerter, zugewandter und intensiver Blick, der uns alle zum Gespräch, zur Kommunikation und zur Auseinandersetzung einlädt. Über Paul und seine Geschichte. So haben beide überlebt. Vielleicht auch, weil Paul sein Leben lang widerständig geblieben ist und weil er Freunde und Freundinnen hat, die an ihn, seine Kämpfe und seine Geschichte erinnern und sie fortsetzen. Wie die Künstlerin Silke Wagner, die für die Skulptur Projekte Münster 2007 gemeinsam mit dem Umweltzentrum-Archiv-Verein die wunderbare 3,4-Meter-Figur von Paul Wulf geschaffen hat. Oder Menschen wie Bernd Drücke und andere Mitglieder des Freundeskreises Paul Wulf, die den Körper der Plastik, der als Litfaßsäule dient, monatlich mit Texten von und über Paul und seine Geschichte neu tapezieren.
Ich habe Paul Wulf nie persönlich getroffen. Aber ich durfte ihn durch die Erzählungen seiner Freunde und Freundinnen kennen lernen. Und durch seine Gedichte und Gedanken. Und ich durfte für den dauerhaften Verbleib von „Paul“ in Münster mit vielen anderen gemeinsam streiten, als konservative Politiker die Skulptur einfach weghaben wollten. Haben sie dabei einmal daran gedacht, dass die verantwortlichen NS-Ärzte Menschen wie Paul auch „weghaben“ wollten?
Meine „Begegnungen“ mit Paul waren und sind ein großes Geschenk für mich. Denn Paul war ein besonderer Mensch. Das konnte ich dank der Erzählungen seiner Freunde spüren. Paul war aber auch ein wichtiger Mensch für uns alle, die nicht aufhören wollen zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt. Ich bin mir sicher, wir hätten uns gut verstanden. Zumal ich mich aus verschiedenen Gründen sehr verbunden mit Paul fühle. Allein schon wegen unserer gemeinsamen Liebe für die Gedichte und den Menschen Erich Mühsam. Die Nazis wollten diesen großartigen Dichter und Revolutionär sowie sein literarisches und politisches Werk ebenfalls auslöschen – als Rache für seine Rolle bei der Revolution am 7. November 1918 und in der Bayerischen Räterepublik 1919. Kurz nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 verhaftete die SA Erich Mühsam und die SS ermordete ihn nach 16-monatiger KZ-Haft und Folter am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg. Aber sein Wirken und sein Werk konnten sie nicht auslöschen. In Anlehnung an ein Gedicht dieses von Paul und mir so verehrten und bewunderten Revolutionärs, Anarchisten und Pazifisten habe ich 1982 das Lied „Revoluzzer“ geschrieben. Darin heißt es unter anderem: „A Revoluzzer müaßt ma sei, dann war der Ärger schnei vorbei, aba wer macht si scho di Plog und revoluzzt den ganzn Dog.“*
Paul war definitiv ein solcher Revoluzzer. Er wurde schon als Kind stigmatisiert und 1938 als 16-Jähriger von den Nazis zwangssterilisiert. „Von meinem siebten Lebensjahr an war mein Leben nur noch der Heimerziehung unterworfen, was mich zu einem anderen Menschen machte. Ich lernte kritisch denken und ließ nicht alles willenlos über mich ergehen“, erinnerte sich Paul an jene Zeit. Paul machte „si scho di Plog“ und vor allem „sei Mei auf, wenn a mog“ und traute „sich mögen, wos a mog.“ * Den Anstaltsleiter und NS-Arzt haben Paul und die anderen Kinder „Menschenmetzger“ genannt. Sie haben die tödliche Gefahr des deutschen Faschismus von Anfang an gespürt und begriffen. Die meisten „Normalen“ haben weiter „Heil“ geschrien.
In der NS-Zeit haben Ärzte 400.000 Menschen wie Paul zwangssterilisiert. Dahinter stand ein mörderisches Menschenbild: Wer damals nicht als „normal“ und „gesund“ gegolten hat, lebte in ständiger Lebensgefahr. Das musste Paul am eigenen Leib erleiden. Menschen mit tatsächlichen oder angeblichen „Behinderungen“ verloren zunächst ihre Menschenrechte und dann ihre Existenzberechtigung: Ab Januar 1940 töteten Ärzte und NS-Bürokraten rund 200.000 Patienten im Rahmen der NS-Euthanasie-Aktion T4. Nach 1945 haben die Verantwortlichen geschwiegen und weiter „Karriere“ gemacht wie zum Beispiel der Psychiater Julius Hallervorden. Er war in der NS-Zeit Hirnforscher beim Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und seit 1933 förderndes Mitglied der SS. Er untersuchte mindestens 700 Gehirne von Kindern, die im Rahmen der NS-Euthanasie ermordet wurden. Nach 1945 arbeitete er als Arzt am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen und erhielt 1956 das Große Bundesverdienstkreuz.
Paul Wulf schwieg nicht. Sein Leben lang kämpfte er als Antifaschist gegen das Vergessen und für die Anerkennung aller Zwangssterilisierten als NS-Verfolgte. Er hat den Mund aufgemacht, recherchiert, aufgeklärt, angeklagt, ist vor Gericht gegangen, hat Ausstellungen organisiert. „Erinnerung war lange kein Thema. Die Überlebenden wurden ausgegrenzt, gleichzeitig kamen ehemalige Nazis wieder frei. Das gehört zu den betrüblichsten Kapiteln unserer Geschichte: Der Umgang mit den ehemaligen Verfolgten. Sie mussten sehr, sehr schnell erkennen, dass sie nicht gefragt waren“, sagt der Münchner Antifaschist Friedbert Mühldorfer in dem Radio-Feature „Der lange Kampf um die Erinnerung“ von 2020, in dem die Geschichte der KZ-Gedenkstätte Dachau aus der Sicht der Verfolgten erzählt wird.
Menschlichkeit braucht Renitenz, Veränderung braucht Hartnäckigkeit, Protest und Widerstand. Immer wieder und stets von Neuem. Dafür brauchen wir die Erinnerung an und das Wissen über die Mechanismen gesellschaftlicher und staatlicher Ausgrenzung, Stigmatisierung, Diskriminierung, Verfolgung und Auslöschung. Paul Wulf hat dazu sehr viel beigetragen. Auch deshalb haben sein lebenslanges Engagement und der gemeinsame Kampf gegen die Beseitigung der Paul-Skulptur eine sehr große Bedeutung. Kämpfen heißt Erinnerung. Wir brauchen Menschen wie Paul Wulf und wir brauchen die Erinnerung an und die Begegnung mit solchen Menschen. Sie sind unendlich wertvoll. Denn Erinnern kann uns Kraft geben für unsere aktuellen Kämpfe für eine gerechtere Welt. Sie kann uns Mut machen, überall und immer, wenn es nötig ist, „Nein“ zu sagen.

Den Anstaltsleiter und NS-Arzt haben Paul und die anderen Kinder „Menschenmetzger“ genannt. Sie haben die tödliche Gefahr des deutschen Faschismus von Anfang an gespürt und begriffen. Die meisten „Normalen“ haben weiter „Heil“ geschrien.

Die Erfassung, Kategorisierung und Überwachung von Menschen bzw. definierter Gruppen ist und war schon immer die Voraussetzung staatlicher Repression und Verfolgung. Daran sollten wir uns immer erinnern, um stets wachsam und kritisch zu bleiben. Im Jahr 2018 wurde ein Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung für ein „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ bekannt. Bei Betroffenen, AktivistInnen, kritischen TherapeutInnen, ÄrztInnen und JournalistInnen schrillten rechtzeitig die Alarmglocken. Auch das haben wir Menschen wie Paul Wulf zu verdanken, die sich nach 1945 für die Anerkennung und die Rechte von vergessenen NS-Verfolgten öffentlich eingesetzt haben. Heribert Prantl schrieb am 16. April 2018 in der SZ: „Depressive Menschen sollen in Bayern künftig registriert werden – und behandelt, als wären sie Straftäter. Das ist kein Hilfe-, sondern ein Polizeigesetz.“ Es konnte in dieser Form vorerst verhindert werden.
Nicht verhindert haben die Menschen 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zum 1. Januar 1934 in Kraft trat, um angeblich „erbkranke“ Menschen „unfruchtbar“ zu machen. Dieses Verbrechen, das Paul angetan wurde, verbindet mich bis heute in meinen Gedanken mit ihm. Wer von Ärzten damals zum Beispiel als „schizophren“ oder „manisch-depressiv“ diagnostiziert wurde, aber auch, wer „an schwerem Alkoholismus leidet“ konnte zwangssterilisiert werden. Als Süchtiger wurde ich bereits ins Gefängnis gesperrt. Was wäre damals mit mir geschehen?
Ich bin sehr dankbar, dass ich Menschen kennen lernen durfte, die ihr Leben lang antifaschistisch gehandelt haben: Ich durfte in einem Elternhaus aufwachsen mit einem Vater, der in der Nazizeit den Kriegsdienst verweigert hatte, und einer Mutter, die mit mir gemeinsam bis kurz vor ihrem Tod auf vielen Demonstrationen gegen Rassismus, Krieg sowie alte und neue Nazis war. Und ich durfte den Widerstandskämpfer und Überlebenden Martin Löwenberg über 20 Jahre lang kennen und immer wieder treffen, der ZwangsarbeiterInnen mit Lebensmittelmarken und Informationen über den Frontverlauf versorgt hatte, bevor er selbst ins KZ kam. Er hat uns sein Leben lang daran erinnert, „dass Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist“, das wir bis heute gemeinsam immer und überall verhindern müssen.
Die Begegnung und Erinnerung an solche besonderen Menschen wie Paul können unser Leben nachhaltig verändern, wenn wir es zulassen. Als ob ein Teil ihrer widerständigen Energie auf uns übergeht. Deshalb brauchen wir Menschen wie Paul Wulf. Und wir brauchen Menschen und Initiativen, die uns durch ihre aktive Erinnerungsarbeit die Möglichkeit geben, Menschen wie Paul Wulf kennen zu lernen. Dieses großartige Erinnerungsbuch, das zum 100. Geburtstag von Paul Wulf erscheint, ist mit seinen berührenden und beeindruckenden Texten ein großes Geschenk. Ein Geschenk für uns alle, die Paul bereits kennen lernen durften und für alle, die Menschen wie Paul kennen lernen wollen, weil sie spüren, dass wir alle solche Menschen wie Paul sein sollten.

* Übersetzung: „Ein Revolutionär müsste man sein, dann wäre der Ärger schnell vorbei, aber wer macht sich schon die Plage und revoluzzt den ganzen Tag“ und „aber wer macht sich schon die Plage und macht sein Maul auf, wenn er mag“ sowie „und traut sich mögen, was er mag.“

Freundeskreis Paul Wulf (Hg.): „Ich lehre euch Gedächtnis“ Paul Wulf: NS-Opfer – Antifaschist – Aufklärer. Unrast Verlag, Münster, Ende März 2021, 304 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 19,90 Euro, ISBN 978-3-89771-087-0

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.