Die Antifaschistin, Sängerin und Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück Esther Bejarano ist am 10. Juli im Alter von 96 Jahren gestorben. Bis zu ihrem Tod war sie politisch aktiv und nicht nur bundesweit in den Medien, sondern vor allem in Hamburg auch bei vielen politischen Veranstaltungen mit Ansprachen und Gesang auf der Bühne präsent.
Esther Bejarano wurde am 15. Dezember 1924 als jüngstes Kind von Margarethe und Rudolf Loewy geboren und verbrachte ihre Kindheit in Saarbrücken und Ulm. Mit 16 Jahren bereitete sie sich in Berlin und auf zwei landwirtschaftlichen Gütern in der Nähe auf die Auswanderung nach Palästina vor. 1941 wurde sie in das Zwangsarbeitslager Neuendorf und 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo ihr die Musik das Leben rettete, indem sie im Orchester Akkordeon und später Blockflöte spielte. Im Herbst 1943 kam sie dank einer nichtjüdischen Großmutter in das Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie Zwangsarbeiterin für Siemens war, aber auch durch Sabotage Widerstand leistete. Esther Bejarano überlebte dort weitere eineinhalb Jahre und wurde schließlich im April 1945 auf den Todesmarsch geschickt. Nach ihrer Auswanderung lebte sie bis 1960 in Israel, heiratete dort Nissim Bejarano und bekam mit ihm die Kinder Edna und Joram. 1960 zog die Familie nach Hamburg, wo sich Esther Bejarano in den 1970ern angesichts von Neonazis entschloss, aktive Antifaschistin zu werden.
Über diese Zeit, ihr Leben bis 1960, schrieb sie in den 1970ern persönliche Aufzeichnungen nieder. Einen Auszug daraus veröffentlichte sie 1989 unter dem Titel „‚Man nannte mich Krümel‘“. Zehn Jahre später gab sie ihre Aufzeichnungen Birgit Gärtner, die 2004 daraus und aus mit Esther Bejarano geführten Interviews das Buch „Wir leben trotzdem“ schrieb. Warum erschien dann weitere zehn Jahre später eine zweite Biographie auf der Basis dieser persönlichen Aufzeichnungen? Und warum klingt es im Vorwort der Herausgeberin Antonella Romeo so, als habe es vorher keine Veröffentlichung der Aufzeichnungen gegeben: „Nach einer intensiven Suche sind die (…) etwas vergilbten Blätter zum Vorschein gekommen“? Romeo geht nur auf „‚Man nannte mich Krümel‘“ ein, einen Auszug aus den Aufzeichnungen mit Änderungen, und schreibt dann über ihr Buch: „Die hier vorliegende, vollständige Fassung ist mit Esther abgesprochen.“ (1)
Hierin mag der Schlüssel für die zweite Biographie liegen: Wie Marco Carini kurz nach dem Erscheinen der ersten Biographie in der Tageszeitung taz konstatierte, ist nicht nur deren Stil sehr distanziert für eine Biographie, sondern es irritiert auch an einigen Stellen, dass trockene historische Berichte eingefügt werden, bei denen manchmal kaum zu erkennen ist, worin der Bezug zu Esther Bejaranos Lebensgeschichte besteht. (2) Die Biographie von Antonella Romeo dagegen bleibt mehr an Esther Bejarano als Mensch und „Künstlerin, deren politisches Engagement ihr Publikum immer wieder neu bereichert und bewegt.“ (3)
Ich habe Esther 2003 kennengelernt, es muss bei der Veranstaltung zum 27. Januar, dem Gedenken an die Befreiung von Auschwitz 1945, oder am 9. November, dem Gedenken an die Pogromnacht 1938, gewesen sein – zwei Veranstaltungen, die das Auschwitz-Komitee Hamburg jedes Jahr in der ehemaligen Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) in der Universität Hamburg organisierte und bei der Esther Bejarano immer aktiv war und zu verschiedenen Themen sprach. Neben diesen beiden Veranstaltungen sah ich sie jedes Jahr beim Lesemarathon gegen Rechts, den Helga Obens mit Unterstützung jeden Mai zur Erinnerung an die Bücherverbrennungen der Nazis am Kaiser-Friedrich-Ufer-Mahnmal organisiert. Schüler*innen zweier benachbarter Schulen hörten dort Esther Bejaranos Berichten über die Zeit in den Konzentrationslagern und die Befreiung zu. Selbst auf den beiden Lesemarathons, die 2020 und 2021 in der Pandemie stattfanden, las und erzählte sie wie immer – es war meine schöne letzte Begegnung mit ihr am 15. Mai. Nur eine Woche vorher hatte ich sie auch gesehen und ihr zugehört – beim Audiowalk zum 76. Jahrestag der Befreiung. Dort saß sie mit Peggy Parnass auf der Bühne, und beide bekamen während einer musikalischen Darbietung Blumenketten umgehängt, was sehr schön und vergnügt aussah. Danach erzählte Esther Bejarano, wie sie am 3. Mai 1945 mit sechs Freundinnen die Befreiung vom Nationalsozialismus durch sowjetische und amerikanische Soldaten erlebte, wie sie ein Akkordeon in die Hand gedrückt bekam und spielte und alle sangen und tanzten und gemeinsam feierten.
Meine Begegnungen mit Esther Bejarano waren nicht zufällig Vorträge unter anderem vor Schüler*innen und musikalische Darbietungen. Seit den 1970ern hielt Esther Bejarano Vorträge über ihre Erfahrungen im Nationalsozialismus in Schulen und stellte sich den Fragen der Jugendlichen. Bei den Gedenkveranstaltungen in der HWP erzählte sie mehrfach, dass die Musik ihr das Leben gerettet habe, als sie sich im Konzentrationslager Auschwitz für das so genannte Mädchenorchester meldete und dort Akkordeon spielte. In den 1970ern spielte sie in der Musikgruppe Siebenschön, seit Anfang der 1990er mit ihren beiden Kindern in der von Edna gegründeten Band Coincidence, seit 2009 gehörte sie mit Joram und zunächst auch Edna zur Rap-Band Microphone Mafia von Kutlu Yurtseven und Rossi Pennino. In der HWP traten Esther, Joram und Kutlu bis zur Pandemie bei jeder Pogromnacht-Gedenkfeier mit dem Banner „Nie wieder Krieg“ und dem Lied „Bella Ciao“ im italienischen Original auf.
Zu ihrem politischen Engagement gehörten nicht nur die Arbeit im Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland, deren Mitgründerin 1986 und seitherige Vorsitzende sie war, und ihr antifaschistisches Eintreten für die Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA), sondern vor allem in den letzten Jahren die Forderung nach einem Feiertag am 8. Mai, um die Befreiung vom Nationalsozialismus zu begehen. „Wer nicht feiert, hat verloren!“, stand als sinniger Spruch 2020 auf den Postkarten und Plakaten zu den Veranstaltungen.
Aber auch ihre aktive Arbeit bei Demonstrationen möchte ich erwähnen. Ihre erste Biographie erschien direkt nach dem Wasserwerfereinsatz der Hamburger Polizei gegen die 86-jährige KZ-Überlebende und schildert auf mehreren Seiten, wie brutal die antifaschistische Gegendemonstration am 31. Januar 2004 gegen den größten Naziaufmarsch seit 30 Jahren in Hamburg von der Polizei beendet wurde. Während Esther Bejarano durch das Mikrofon die Polizei aufforderte, den Einsatz zu stoppen, wurde sie wie viele andere eingekesselt, das Stromaggregat für das Mikrofon wurde abgestellt und der Wasserstrahl minutenlang auf das Auto gerichtet, in dem sie saß. (4)
Neben ihren politischen Vorträgen und Forderungen und ihrer Musik möchte ich noch etwas nennen: ihren Humor. Immer wieder streute sie kleine trockene Witze in ihre Erzählungen. Umwerfend war auch ihr Auftritt in dem Fernsehformat „Die Anstalt“ von Max Uthoff und Claus von Wagner am 17. November 2015, als sie auf die Frage nach der Stilrichtung ihrer Band trocken antwortete, „Wir rappen. Wir sind Rapper.“ (5) Dort sagt sie auch den schönen Satz über ihre Musik: „Ich singe so lange, bis es keine Nazis mehr gibt.“
Antifaschist*innen haben nach Esther Bejaranos Tod eine Ergänzung dazu plakatiert: „Esther, wir machen weiter, wir sind da, versprochen! Aber ohne dich wird es schwerer. Deine ANTIFAS“.
(1) Antonella Romeo: Erinnerungen, S.33.
(2) Marco Carini: Porträt einer Antifaschistin/ Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat zusammen mit der Journalistin Birgit Gärtner ihre Lebensgeschichte erzählt, in: taz, 24.5.2004, S.23.
(3) Antonella Romeo: Erinnerungen, S.33.
(4) Esther Bejarano, Birgit Gärtner: Wir leben trotzdem, S. 238-243.
(5) Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=1zmaxbvePN8
Biographien:
Esther Bejarano: „Man nannte mich Krümel“. Eine jüdische Jugend in den Zeiten der Verfolgung. Hg. vom Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V., Hamburg 1989.
Esther Bejarano, Birgit Gärtner: Wir leben trotzdem. Esther Bejarano – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden. Hg. vom Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik. Bonn 2004.
Esther Bejarano: Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Hg. von Antonella Romeo. Hamburg 2013.Und zum Weiterlesen ihre Gedichte für ihre Familie und Freund*innen sowie ihre Lieblingsgerichte zum Nachkochen:
Esther Bejarano: Gedichte und Gerichte. Hg. von Rolf Becker, Hamburg 2018.