Die Wände hoch gegen ableistische Hindernisse

Aktionstage für eine barrierefreie Mobilitätswende

| Rollfender Widerstand – direkte Aktion gegen Barrieren

Gut gelaunter Protest in der Höhe - Foto: Rolllfender Widerstand

Am 19. und 20. August 2022 veranstaltete die Gruppe „Rollfender Widerstand“ zwei Aktionstage, welche der fehlenden Barrierefreiheit der Bahn galten. Zum Auftakt gab es am nicht barrierefreien Bahnhof Köln Messe/Deutz eine Demonstration, im Anschluss eine gemeinsame Zugfahrt nach Frankfurt am Main. Am zweiten Tag wurde die Fassade des ebenfalls nicht barrierefreien Bahnhofs Frankfurt West von vier Menschen, davon zwei im Rollstuhl, beklettert.

Die Gruppe Rollfender Widerstand (der Name setzt sich zusammen aus „rollen“ und „laufen“) kämpft mit direkten Aktionen gegen ableistische Hürden und Strukturen im Alltag der Betroffenen. Ableismus beschreibt die Diskriminierung von Personen, welche aufgrund körperlicher und/oder geistiger Verfassung nicht in gesellschaftlichen Normen verortet werden und umgangssprachlich als „behindert“ bezeichnet werden. In mehreren Ausgaben der Graswurzelrevolution wurde das Thema bereits behandelt.

Bahnhöfe – eine Ansammlung von Barrieren

Am Mittag des 19. August demonstrierten Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen sowie Menschen ohne Einschränkungen am Bahnhof Köln Messe/Deutz. Es wurden verschiedene Redebeiträge gehalten und in einem Demozug durch die Bahnhofshallen auf die bestehenden Barrieren im und um den Bahnhof aufmerksam gemacht. Konkret sind dies Treppen ohne alternative Rampen oder Aufzüge: Diese können von Menschen im Rollstuhl unmöglich selbst- und eigenständig überwunden werden. Fehlende oder nicht durchgängige Blindenleitsysteme, nicht ablesbare Durchsagen für Menschen mit Hörbehinderung – all dies sind nur einige der Barrieren, vor welche sich Menschen jeden Tag gestellt sehen und deren Überwindung, wenn überhaupt möglich, viel Zeit und Kraft in Anspruch nimmt.
Im Anschluss fuhr die Gruppe mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Frankfurt am Main. Die erste Barriere, die sich ihnen stellte, war der Weg zum Abfahrtsgleis; dort gibt es nämlich keinen Aufzug. Mithilfe mehrerer Personen ohne Gehbehinderung und außerhalb dessen, was in Deutschland versichert ist, schafften es einige Rollstuhlfahrerinnen die Rolltreppe hoch. Ein Mensch mit schwerem E-Rollstuhl war ca. eine Stunde früher aufgebrochen, um auf anderen Wegen zum Hauptbahnhof zu gelangen und dort (wo es einen Aufzug gibt) zuzusteigen. Ein anderer Teil der Gruppe fuhr mit einer kollektiv finanzierten ICE-Fahrkarte. Die Fahrt in der überfüllten Regionalbahn mit vielen Umstiegen wäre für die beiden viel zu anstrengend gewesen. Wegen ihrer chronischen Erkrankungen können sie nicht lange sitzen und brauchen Platz zum Liegen oder können aufgrund von Immunschwäche nicht in überfüllten Zügen reisen.

Kletteraktion für Mobilität

Am darauffolgenden Tag kletterten vier Personen an der Außenfassade des Bahnhofs Frankfurt West: zwei der Kletternden im Rollstuhl, die anderen beiden als Seilwache im Bereich der Ankerpunkte. Zwischen den Rollstühlen ein Banner mit der Aufschrift „Mobilitätswende für alle!“, an einem Rollstuhl ein zweites Transparent mit der Forderung „nicht ohne uns“ und Rollstuhlsymbol, und auf einem weiteren Banner stand „Mobilität für alle, die Stufen müssen weg“, „freie Fahrt für alle“. Passant*innen vor dem Bahnhof staunten nicht schlecht, als sie die Menschen an der Fassade erblickten.

Foto: Rollfender Widerstand

Unterstützer*innen der Aktion verteilten Flyer, auf welchen nicht nur vieles über die Thematik der fehlenden Barrierefreiheit zu lesen war, sondern auch auf die Dringlichkeit einer die Umwelt entlastenden Verkehrs- und Mobilitätswende für alle Menschen hingewiesen und diese gefordert wurde. Es kam zu regem Austausch und Diskussionen um die fehlende Barrierefreiheit der Bahn. Einige Passant*innen erzählten von ihren eigenen Erfahrungen in Bezug auf Behinderung und Nutzung der Deutschen Bahn.

Bahnblockierer*innen in Uniform

Wie kamen die Menschen dort hoch, wie kommen sie wieder herunter, und wie lange werden sie bis dahin dort oben bleiben? Das fragten sich die herbeieilenden Ordnungshüter*innen und DB-Mitarbeitenden. Obwohl der Bahnverkehr weder behindert noch die kletternden Personen durch die Züge gefährdet wurden, entschieden sich Polizei und Deutsche Bahn, die Gleise oberhalb der Aktion in beiden Richtungen zu sperren. Zugausfälle waren die Folge.
Nach ungefähr einer Stunde am Aktionsort riefen die so genannten Helfer*innen in Uniform, vermutlich ratlos, die Kolleg*innen der Frankfurter Feuerwehr zu Hilfe. Ein Großaufgebot von Einsatzfahrzeugen reihte sich in der Kurfürstenstraße auf, Feuerwehrleute in Klettergestellen beäugten fragend, aber interessiert die Aktion. Die Aktivist*innen teilten ihnen lautstark mit, dass es ihnen gut gehe und sie weder technische oder medizinische Hilfe noch eine Bergung aus ihrer luftigen Position benötigen, worauf sich die Feuerwehr auch zurückzog und im Hintergrund in Bereitschaft blieb.

Mobilitätshindernis Deutsche Bahn

Über ein Megafon erklärten die Menschen den Begriff „Ableismus“, ihre täglichen Erfahrungen mit der Bahn und ihre Forderungen nach Gleichbehandlung und Gleichberechtigung. Denn alle Menschen haben gemäß Grundgesetz das Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben, und niemand darf wegen seiner*ihrer Behinderung benachteiligt werden. Die bereits 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Deutschland, im öffentlichen Raum einen „gleichberechtigten Zugang […] zu Transportmitteln“ zu schaffen. Seit dem 1. Januar 2022 soll laut Personenbeförderungsgesetz (PBefG) der öffentliche Nahverkehr barrierefrei sein.
Trotzdem werden viele Menschen täglich durch existierende Barrieren von einem gleichberechtigten Zugang zu Mobilität ausgeschlossen, und die gesetzliche Umsetzung wird verschoben. Nach Angaben der Deutschen Bahn sind 21 % der Bahnhöfe nicht stufenfrei erreichbar, und Menschen im Rollstuhl müssen lange Umwege in Kauf nehmen. Fernzüge sind fast ausnahmslos nicht ohne fremde Hilfe zugänglich, Fahrten mit dem Rollstuhl müssen 24 Stunden vorher beim Mobilitätsdienst der Deutschen Bahn angemeldet werden. Und auch dann kann die Fahrt oft nicht gewährleistet werden.
Und barrierefrei heißt nicht nur rollstuhlzugänglich. Für andere Formen von Behinderung gibt es andere Barrieren, die nicht so offensichtlich sind und selten mitgedacht werden. Wie oben angemerkt fehlen häufig Orientierungshilfen. Viele Menschen z. B. mit chronischen Krankheiten können nicht lange sitzen und brauchen Schlafwägen mit Liegemöglichkeiten. Eine neurodivergente Person, die auch bei der Aktion dabei war, sagt, dass sie fast nie ihre Stadt verlässt, weil Bahnfahren wegen der zu vollen Züge und damit einhergehenden Reizüberflutung für sie viel zu anstrengend ist. (Das ist besonders tragisch, weil sie wegen ihres Autismus auch nicht selber Auto fahren kann.)

Erst der Anfang …

Die Aktion dauerte zweieinhalb Stunden an. Gegen 12.30 Uhr waren alle Kletternden am Boden, doch die Aktion noch nicht ganz beendet. Eine Person aus der Seilwache wurde zur Personalienfeststellung auf die nahe gelegene Polizeiwache 13 gebracht. Die Gruppe solidarisierte sich und wartete auf die Entlassung, welche gegen 15 Uhr erfolgte. Somit konnte die Aktion für beendet erklärt werden; zwei intensive und spektakuläre Aktionstage gingen zu Ende.
Doch diese beiden Tage in Köln und Frankfurt am Main sind nur der Anfang: Es werden weitere Aktionen folgen. Darin sind sich alle Beteiligten einig.

Unsere Ideen, um Barrieren abzubauen:

  • Mobilitätsservice: Unbürokratisch und ohne Anmeldung, verfügbar solange Züge fahren
  • Berücksichtigung unterschiedlicher Behinderungen und Einschränkungen bei der Infrastruktur: z. B. (rollstuhlbefahrbare) Liegewägen und Ruhewägen für neurodivergente Menschen und für chronisch Kranke, die sich ausruhen müssen oder nicht lange sitzen können
  • Durchsagen sowohl per Lautsprecher als auch auf der Anzeigetafel
  • Unbürokratische Entschädigung von Betroffenen bei Barrieren und Diskriminierung
  • Schulung über Ableismus für alle Mitarbeitenden der Deutschen Bahn
  • Weiterhin Maskenpflicht, da wichtig für Menschen mit Immunschwäche
  • Mehr als einen Wagen mit Rollstuhlplätzen pro Zug
  • Keine neuen (Fernverkehrs-)Züge mit Stufen bestellen
  • Mehr Sitzgelegenheiten an Bahnhöfen

Forderungen für ÖPNV und Fernverkehr:

  •  Ausbau: Mehr Platz, mehr erreichbare Orte,
    direktere Verbindungen
  • Schneller barrierefreier Umbau
  • Möglichst kostenfrei (z. B. 9-Euro-Ticket)

Dies ist ein Beitaus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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