memorial

Nachruf auf Willi Hajek (1946–2022)

Vermittler zwischen französischen und deutschen Basisgewerkschafter*innen

| Lou Marin

Foto: privat

Willi Hajek ist am 3. Oktober 2022 im Alter von 76 Jahren nach schwerer Krankheit verstorben. In seinem Nachruf würdigt Lou Marin den transnationalen Gewerkschaftsaktivisten und seine jahrzehntelange Arbeit. (GWR-Red.)

Willi Hajek lebte, agitierte und organisierte sowohl in der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung als auch in der französischen. Er pendelte in den letzten Jahrzehnten zwischen Berlin und seinem Lebensschwerpunkt Marseille. Ich hatte das Glück, ihn in beiden Städten zu treffen. Wie kaum jemand sonst verstand er es, zwischen den organisierten Basisgewerkschaftstraditionen in Frankreich und verstreuten oppositionellen Gewerkschafter*innen in der BRD zu vermitteln, was er in unzähligen Bildungsurlauben umsetzte.
Anfang der 1960er-Jahre studierte er die französische Sprache an der Universität Heidelberg. Er ging dann nach Frankreich und erlebte wesentliche Kampfestraditionen dortiger sozialer Bewegungen in den 1970er-Jahren direkt mit: den antimilitaristischen Widerstand der Bäuer*innen im Larzac gegen die Erweiterung eines Armee-Truppenübungsplatzes (1971–1981). Aktivist*innen aus dem Umfeld der gerade gegründeten Graswurzelrevolution fuhren im transnationalen Austausch zur Arbeit und zum Ernteeinsatz dorthin und trugen so zum Erfolg dieses Widerstands bei. (1)
Willi beteiligte sich auch an den Kämpfen der Uhrenar-beiter*innen der Firma „Lip“ (2) in Besançon (1970–1976), die zum Vorbild für spätere Betriebsübernahmen durch die Produzent*innen von durch Schließung bedrohten kapitalistischen Betrieben werden sollten. „Lip“-Arbeiter*innen und Larzac-Bäuer*innen tauschten sich aus, besuchten und unterstützten sich gegenseitig bei Streiks oder direkten Aktionen. Das Konzept der „Autogestion“, der Selbstverwaltung der Betriebe, bereits im Mai 1968 Thema, wurde so erneut in die politischen Diskussionen des oppositionellen Frankreich getragen.

Von Lip und Larzac
zu Opel und Babylon

Als er gerade wieder aus Frankreich in die BRD zurückgekehrt war, mischte sich Willi in den Konflikt um die Kündigung eines Gewerkschafters der Opel-Werke in Bochum ein und nahm Kontakt mit dortigen Kolleg*innen auf. „Daraus entstand eine lebenslange politische und persönliche Freundschaft mit der Gruppe Gegenwehr ohne Grenzen (GoG), in der sich oppositionelle Gewerk-schafter*innen bei Opel Bochum organisiert hatten.“ (3)
Sein gesamtes weiteres politisches Leben setzte sich Willi für unzählige gewerkschaftliche Basiskämpfe ein. Sein Pendeln zwischen deutschen und französischen sozialen Brennpunkten führte ihn zu einem syndikalistischen Internationalismus, der sich bis zuletzt etwa in seiner Mitarbeit beim gewerkschaftlichen Netzwerk TIE (Transnationals Information Exchange) ausdrückte. (4)
So war er auch 2014 zur Stelle, als die Bundesregierung der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter*innen-Union (FAU), die damals den Streik der Angestellten des Berliner Programmkinos „Babylon“ maßgeblich mitorganisierte, den juristischen Status einer Gewerkschaft aberkennen wollte. Willi unterstützte ein „Solidaritätskomitee für Koalitionsfreiheit“, das dazu beitrug, diese Absicht zu verhindern.
Der neoliberale Kapitalismus hatte seit den 1980er-Jahren für eine Prekarisierung von Lohnarbeitsverhältnissen und Unterwanderung von Tariferrungenschaften, eine galoppierende Verarmung und eine Neuzusammensetzung dessen, was man noch immer Proletariat nannte, gesorgt. (5) Damals konnte die französische Gewerkschaftsbewegung noch durch spektakuläre Streiks und Massenbewegungen gegen zahlreiche neoliberale Arbeitsrechts- und Rentenreformen wiederholt Sozialkahlschlag verhindern. Hingegen war die Struktur der deutschen Gewerkschaftsbewegung zu bürokratisch und zentralistisch, dabei aber doch sozialpartnerschaftlich-reformistisch, und sie agierte zu wenig branchenūbergreifend, um vergleichbar schlagkräftig zu werden. In Frankreich kann es im Gegensatz zur BRD auch zu politischen Streiks kommen. Bei einem unbefristeten Streik (grève reconductible) gibt es tägliche Streikversammlungen, die über die Fortführung entscheiden.
Die französische Gewerkschaftsbewegung ist heute zwar zersplitterter als die deutsche, aber auch spontaner und stärker von Basisgruppen beeinflusst. Dies ist der Grund dafür, warum etwa in Frankreich das Renteneinstiegsalter noch immer bei 62 Jahren liegt (Präsident Emmanuel Macron versucht derzeit gerade wieder, das auszuweiten), in der BRD jedoch bei ungeheuerlichen 67 Jahren.

Transnationale Arbeiter*innenbildung

Obwohl der Internationalismus immer mehr in Vergessenheit geriet und marginalisiert wurde, hielt Willi daran fest und versuchte, ihn in neuen Formen zu beleben. Zwei Projekte im Rahmen seiner Arbeiter*innenbildung durfte ich mit Willi zusammen durchführen:
Erstens hatte ich in meinem Wohnort Marseille schon seit Jahrzehnten historisch-politische Stadtspaziergänge für deutsche Antifa-Gruppen durchgeführt. So lud mich Willi dazu ein, einen solchen Rundgang auch für Gewerkschafter*innen aus der BRD abzuhalten. Themenschwerpunkte der zwei Spaziergänge, die ich mit Willis Gruppen durchführte, waren die dramatische Zeit von 1939 bis 1945 in Marseille, d. h. das Vichy-Regime, die Nazi-Besatzung und Verfolgung, die Fluchthilfe für aus ganz Europa kommende und in Frankreich gestrandete Geflüchtete, die in die USA oder nach Mexiko weiterreisen wollten; schließlich die Geschichte der Résistance in Marseille und der Rettung jüdischer Menschen in Südfrankreich. Damals wohnte Willi im nordwestlichen Stadtteil L’Estaque, und dort brachte er auch die deutschen Gewerkschaftsgruppen unter, die mal aus Aktiven von ver.di, mal der IG Metall zusammengesetzt waren.
Später, als er in die Kleinstadt La Ciotat an der Côte d’Azur zog, brachen unser Kontakt und die bildungspolitische Zusammenarbeit leider ab. Diese Formen des Austauschs und der Arbeiter*innenbildungsurlaube organisierte er in Verbindung mit seiner Aktivität bei der Basisgewerkschaft SUD (Solidaires Unitaires Démocratiques; dt. „Solidarisch, einig, demokratisch“), deren Name seit 1998 besteht und die auf eine „groupe des dix“ (Zehnergruppe) zu Beginn der 1980er-Jahre zurückgeht. Hinzu kamen Abspaltungen der sozialdemokratischen CFDT, eine Basisgruppe bei der Post 1989 und die Eisenbahner*innen der SUD-Rail 1995. (6) Im informellen Netzwerk Rail Sans Frontières (Eisenbahner*innen ohne Grenzen), das Willi mit gegründet hat, tauschen sich aktive Gewerkschafter*innen aus der Schweiz, Italien und Mali aus. SUD hat ihr Gewerkschaftshaus in Marseille, nur drei Straßen von meiner Wohnung entfernt.
Zweitens diskutierten Willi und ich Mitte 2021 in unserem anarchistischen Forschungszentrum, dem CIRA (Centre International de Recherches sur l’Anarchisme) Marseille, zusammen mit zwei Redakteuren der Zeitschrift Sozial.Geschichte.online, über die aktuellen Aktionskampagnen der französischen Arbeiter*innenbewegung zu Beginn der Corona-Krise im Unterschied zu Deutschland. In Frankreich fanden gegen Macrons geplante Rentenreform im Winter 2019/20 unmittelbar umfangreiche Massenstreiks statt. Der Beginn der Pandemie forderte in Frankreich in den ersten Monaten 30.000 Tote, in der BRD nur 8.000. Da stellte sich in Frankreich kaum jemand die Frage, ob es diese Krankheit überhaupt gibt. Doch die zentralistisch – und nicht föderal differenzierte – couvre-feu (Ausgangssperre von 18 Uhr bis 8 Uhr) in Frankreich war viel schärfer als in der BRD und wurde von Willi auch kritisiert. Dabei hatte er vor allem die Zustände in überfüllten Wohnungen in den Banlieues und die dort besonders scharfe Polizeirepression bei Übertretungen im Blick.
SUD machte den neoliberalen Kapitalismus für die Mängel des französischen Gesundheitssystems verantwortlich und forderte gegen die kapitalistischen Interessen, den eigenen Betrieb ohne Arbeiter*innenschutz als „systemrelevant“ darzustellen, über Streiks und Gerichtsklagen recht erfolgreich ein „droit de retrait“ (Recht auf Daheimbleiben/Dienstausfall) ein, besonders bei Renault, CSA-Citroën, der Großhandelskette Cogepart/Carrefour, bei der französischen Post und bei Amazon France. (7) Im Marseiller Viertel Saint-Barthélemy entstand durch die Übernahme einer von Schließung bedrohten McDonalds-Filiale durch die organisierte Belegschaft ein selbstverwaltetes Projekt („LʼAprès M“), das zum lokalen Treffpunkt mit Solidaritätsladen geworden ist, welches Willi begleitet hat. (8)

Gelb als neues Rot?

In dieser Zeit publizierte Willi Hajek sein Buch „Gelb ist das neue Rot“ in der Berliner „Buchmacherei“. (9) Darin behandeln zehn Aktive aus der Gewerkschaftsbewegung und aus der 2019 entstandenen Bewegung der „Gelbwesten“ das zunächst spannungsgeladene Verhältnis beider Bewegungen, um danach Perspektiven örtlicher Zusammenarbeit auszuleuchten, die schon bei der Rentenreformbewegung 2019/20 zustande kam. Aber auch an die studentischen Proteste der Nuit-Debout-Platzbesetzungen von 2016 wird in dem Buch erinnert. Der traditionellen Gewerkschaftsbewegung wird hier eine generelle Ritualisierung und Berechenbarkeit bei ihren Demos attestiert, die von vielen Jugendlichen und der Gelbwestenbewegung nicht mehr akzeptiert wurde. Schriften wie „Der kommende Aufstand“ oder „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel spielten eine wichtige Rolle. Auch die Frage, ob Gewerkschaften noch in der Lage seien, auf marginalisierte Gruppen und Verhältnisse auf dem Land (Ausdünnung der Infrastruktur), Frauen* und Carearbeit einzugehen, war ihm wichtig. Peter Nowak würdigte das Buch in einer Rezension:
„Die Stärke der von Hajek herausgegebenen Texte besteht darin, dass sie keine Sicht von außerhalb der Bewegung sind. Alle Autor*innen sind an der Basis von Gewerkschaften aktiv und haben sich sehr früh an den Protesten der Gelbwesten beteiligt. Sie beschreiben auch sehr gut, warum das Verhältnis zwischen beiden so schwierig war und teilweise immer noch ist.“ (9)
Willi hat sich gegen die medial auffällig betriebene pauschale Einordnung der Gelbwestenbewegung als „rechtsoffen“ bis zuletzt entschieden gewehrt. Als jemand, der in vielen Demos präsent war, habe ich da eine andere Sicht: Hunderte französische Nationalflaggen auf Gelbwestendemos können m. E. schwerlich lügen.
Bis zuletzt engagierte sich Willi Hajek unermüdlich für die Vermittlung sozialer Bewegungen Frankreichs in den deutschsprachigen Raum hinein. Ein guter Freund, der ihn besser kannte als ich, schrieb mir: „(E)r hatte einen sehr sympathischen, bewegungsorientierten, aber zugleich nicht-sektiererischen Ansatz. (…) (A)ls ich im Frühjahr (2022) in Marseille war, musste er mir, obwohl schon ziemlich schwach, dennoch alles dort zeigen, was sich zwischen SUD und Häuserkampf entwickeln mochte. (…) Die französische Situation ist (…) manchmal recht anders als die der sozialen Bewegungen in Deutschland, Willi war da ein Vermittler (…), eine sehr wichtige Rolle – auch diesbezüglich wird er nicht so leicht zu ersetzen sein.“ (10)

(1) Der GWR Nr. 14/15 von 1975 lag ein „Sonderblatt Larzac“ bei. Zur Gesamtdarstellung dieses auch die GWR in ihrer Anfangszeit prägenden Widerstands siehe Wolfgang Hertle: Larzac (1971–1981). Der gewaltfreie Widerstand gegen die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes in Süd-Frankreich, Verlag Weber, Zucht & Co., Kassel 1982.
(2) Vgl. zum Beispiel: „Lip – Larzac – Mururoa – derselbe Kampf“, in: GWR Nr. 6 (1973), S. 1.
(3) Zit. nach Peter Nowak: „In unseren Kämpfen bleibt Willi Hajek lebendig. Ein Nachruf auf den engagierten Gewerkschaftler“, in: Direkte Aktion. Anarchosyndikalistische Zeitung, online, 19.10.2022: https://direkteaktion.org/in-unseren-kaempfen-bleibt-willi-hajek-lebendig/ .
(4) Vgl.: http://tie-germany.org/ .
(5) Untersucht etwa bereits 1994 von Karl-Heinz Roth (Hg.): „Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumentation der Debatte“, Neuer ISP-Verlag, Köln 1994.
(6) Vgl.: https://fr.wikipedia.org/wiki/Union_syndicale_Solidaires .
(7) Vgl. „Die sozialen Bewegungen in Frankreich in Zeiten der Pandemie. Ein Gespräch mit Willi Hajek und Lou Marin“, in: Sozial.Geschichte.Online, Heft 27, 2020, S. 155–179, besonders S. 171ff.; sowie: Sylvain Alias (Union Syndicale Solidaires Paris): „Arbeiter*innen gegen die Politik des Kapitalis“, in: GWR Nr. 450 (Sommer 2020), S. 14.
(8) Vgl.: https://www.fluter.de/besetzter-mcdonalds-in-marseille .
(9) Willi Hajek (Hg.): „Gelb ist das neue Rot. Gewerkschaften und Gelbwesten in Frankreich“, Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2022.
(10) Peter Nowak: „… eine Suche nach neuen kollektiven Protestformen“, in: „vorwärts“ (Schweiz), 28.3.2020.

(Vielen Dank an Lars und
Janina für ihre Infos)

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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