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Tod eines Kameramanns

Mansour Karimian, am 24.12. ermordet in Rojava

| Robert Krieg

Der Kameramann Mansour Karimian wurde 1984 in der ost-kurdischen Stadt Sine (Sanandadsch) im Iran geboren. Seit 2021 lebte er aufgrund der Repression des iranischen Regimes in Rojava. Dort und auch in allen anderen Teilen Kurdistans wirkte er an Filmprojekten mit, darunter an den Spielfilmen „Dema Dirîreşkan“ (Blackberry Season) und „Kobanê“, der Dokumentation „Briefe aus Şengal“ sowie an der Serie „Evîna Kurd“. Im Dezember 2023 wurde er bei einem Luftangriff des NATO-Staates Türkei auf eine Erdölförderanlage bei Tirbespiyê getötet. Filmemacher Robert Krieg erinnert an seinen Freund und Kameramann. (GWR-Red.)

Einen Tag vor Weihnachten 2023 wurde der Kameramann Mensour Karimian bei einem türkischen Luftangriff auf Rojava, das Gebiet der demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, getötet. Ich hatte Piro – so lautete der Spitzname von Mensour Karim – bei mehreren Videokonferenzen zur Vorbereitung unseres Films kennengelernt. Ich kannte ihn also kaum, als wir uns Anfang Oktober in einer Hotellobby in Qamişlo zum ersten Mal die Hände schüttelten. In der vierwöchigen Zusammenarbeit ist mir dann der Kollege zu einem guten Freund geworden.

Von Anfang an waren die Dreharbeiten von schweren Bombardements und Drohnenangriffen überschattet. Die türkischen Luftangriffe gelten gezielt der Zerstörung der zivilen Infrastruktur Rojavas, um den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu sabotieren und die Menschen zur Flucht zu zwingen (1). In allen Kriegen sind unabhängige Berichterstatter:innen unerwünscht und können selbst sehr schnell zum Angriffsziel werden. Seit Beginn des jüngsten Gaza-Kriegs sind dort nach Angaben des International Press Institute (IPI) mit Sitz in Wien mindestens 65 Vertreterinnen und Vertreter der Medien ums Leben gekommen. (2) Der Krieg, den die Türkei gegen die Zivilbevölkerung und ihre autonome Selbstverwaltung führt, läuft weitgehend unter dem Radar der Weltöffentlichkeit, die von den Kriegen in der Ukraine und dem Gaza-Streifen eingenommen ist. Das kommt der Politik der Nato-Staaten entgegen, die ihren Partner Türkei nicht an den Pranger stellen wollen.

Piro war ein Seelenöffner. Er verschaffte uns durch seine grundsätzliche Empathie den Zugang zu unseren Protagonistinnen, deren Leben mehr als einen Grund bereit hielt, um ihren Mitmenschen gegenüber misstrauisch zu bleiben.

Die Luftangriffe wirbelten unseren Drehplan durcheinander. In den ersten Tagen wurden uns praktisch alle Aufnahmen abgesagt, und unsere monatelangen Vorbereitungen schienen in kürzester Zeit zunichte gemacht. Ein wichtiger Drehort sollte eine landwirtschaftliche Frauenkooperative bei Tirbespiyê werden, die in unmittelbarer Nähe einer Erdölförderungsanlage liegt. Die Erdölförderung sichert der autonomen Selbstverwaltung ca. 70 Prozent ihrer Einnahmen. Auf dem Gelände der Förderanlage lebte auch Piro, wie ich überrascht feststellte. Er war mit einem ihrer Ingenieure befreundet.
Zwei Tage nach meiner Ankunft wurde die Förderanlage bombardiert. Es kam beim ersten Mal zu keinen menschlichen Verlusten, aber die Frauen der benachbarten Kooperative kehrten vorerst nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurück. Alle fortschrittlichen Projekte, die sich die Emanzipation der Frauen auf die Fahnen geschrieben haben, sind den autokratischen und diktatorischen Regimes des Nahen Ostens ein Dorn im Auge. Engagierte Frauen befürchten zu Recht, dass ihre Projekte ebenfalls Anschlagsziele sind, wie die gezielten Ermordungen von Repräsentantinnen der Frauenbewegung durch türkische Drohnen und islamistische Terroristen im Auftrag der Türkei gezeigt haben. Die zweite Bombardierung – dieses Mal nicht durch eine Drohne, sondern durch einen massiven Flugzeugangriff – setzte dem Leben meines Kameramannes und Freundes Piro ein Ende und vernichtete die Förderanlage vollständig. Piro war ein „Vogelfreier“ im besten wie ihm gefährlichsten Sinn.
Aus unseren Gesprächen entnahm ich, dass seine Gedanken frei von Macht- und Gewinnstreben waren. Er misstraute aller Politik, die sich mehr oder weniger verdeckt danach richtete. Er war ein unbarmherziger Kritiker der kurdischen Politik in den von Kurd:innen besiedelten Ländern, die sich eher gegenseitig das Leben schwer machen, als zu einem gemeinsamen politischen Ansatz zu finden. Er hatte die Schriften des US-amerikanischen öko-anarchistischen Vordenkers Murray Bookchin gelesen, die den ehemals orthodoxen Kommunisten Öcalan im Gefängnis zu einem Anarchisten geläutert zu haben scheinen (3). Piro teilte die Vision von der konföderalen Gemeinschaft der Kurd:innen und der in ihrem Siedlungsgebiet lebenden ethnischen und kulturellen Minderheiten über bestehende nationalstaatliche Grenzen hinweg.

Diese Überzeugung hat er praktisch vorgelebt: Als gebürtiger iranischer Kurde lebte er seit zwei Jahren ohne syrische Aufenthaltsgenehmigung auf offiziell syrischem Staatsgebiet und arbeitete für das Projekt Rojava. Er war vor der Repression des iranischen Regimes nach Rojava geflüchtet. Zu Recht fürchtete er sich vor Repressalien in seiner Heimat, sollte er seine Familie im Iran besuchen. Zudem hätte er große Probleme bei der Ausreise bekommen, da seine Genehmigung für den Grenzübertritt zwischen Rojava und dem Irak abgelaufen war. Er hatte nur eine Arbeitsgenehmigung seitens der Autonomie-Verwaltung, die international nicht anerkannt ist und daher keine international anerkannte Papiere oder Zeugnisse ausstellen kann, egal in welchem Bereich. Bei einer der häufigen Personenkontrollen auf den Überlandstraßen, die in erster Linie untergetauchten militanten Islamisten gelten, wurden wir für längere Zeit festgehalten. Ein iranischer Kurde mit abgelaufenen bzw. nicht vorhandenen Dokumenten und ein älterer deutscher Filmemacher im gleichen Fahrzeug, – das war zumindest ungewöhnlich. Ein schnell per Smartphone herbeigerufener kurdischer Filmemacher und Freund von Piro konnte das Missverständnis beseitigen und uns auslösen. Überhaupt war trotz schwierigster Umstände die gegenseitige Hilfsbereitschaft enorm.

Mansour Karimian mit der Bloggerin Keca Kurda – Foto: Robert Krieg

Ohne das umsichtige Verhalten meines Teams hätten wir unseren Film über die Selbstermächtigung von Frauen in einem demokratischen Gesellschaftsentwurf, der die Frauen den Männern gleichstellt, nicht drehen können. In den ersten Tagen unserer Zusammenarbeit war ich etwas irritiert über die scheinbare Gleichgültigkeit meiner Mitfahrer:innen, wenn am Horizont dicke schwarze Wolken aufstiegen und sich allmählich über der ebenen Landschaft verteilten. Sie schauten kaum von den Displays ihrer Smartphones auf, wenn ich darauf hinwies und nach den Zielobjekten der Bombardierung fragte. Nach ein paar Wochen hatte ich diese scheinbare Gleichgültigkeit bereits teilweise selbst übernommen. Sie ist ein Überlebensinstinkt angesichts drohender Gefahren, der die gleichzeitig erhöhte Wachsamkeit nicht in Frage stellt oder gar aussetzt. Ich fühlte mich sehr sicher in dieser Gemeinschaft. Unser Fahrer Hussain beobachtete und kontrollierte aus den Augenwinkeln ständig die Umgebung, während auf seinem großen Display im Armaturenbrett kurdische Hochzeitstänze in Schleife liefen. Meine Übersetzerin Rojda hielt per WhatsApp permanent Kontakt zur Außenwelt. Piro hatte zum Musikhören einen Kopfhörer aufgesetzt und strahlte souveräne Zuversicht aus. Bei unserem mehrtägigen Aufenthalt in Jinwar konnte ich ihn nicht daran hindern, mir das Frühstück zu bereiten und mich vom anschließenden Abwasch fernzuhalten. Mein Widerspruch war umsonst. Ich begriff, dass es ein Akt der Wertschätzung war. So wie freie Menschen freiwillig Arbeiten übernehmen, um ihren Mitmenschen das Leben zu erleichtern.

Piro war ein Seelenöffner. Er verschaffte uns durch seine grundsätzliche Empathie den Zugang zu unseren Protagonistinnen, deren Leben mehr als einen Grund bereit hielt, um ihren Mitmenschen gegenüber misstrauisch zu bleiben. Die Frauen hatten teilweise schwere Misshandlungen durch nahe Verwandte erlebt und eine Zuflucht in dem Frauendorf Jinwar gefunden. Wie sollten sie da gegenüber fremden und außenstehenden Männern nicht reserviert sein. Piro gelang es durch vorsichtiges Herantasten auf Augenhöhe, in wenigen Tagen Vertrauen herzustellen. Die Frauen waren bereit, auch persönliche Fragen zu beantworten.

Piro war Realist. Ich weiß nicht, ob er das Zitat von Antonio Gramsci kannte. Aber es hätte auch von ihm stammen können: „Was wir brauchen ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens“ (Antonio Gramsci, Gefängnishefte 1935). Er verschloss nicht die Augen vor den Gefahren, die das Demokratie-Projekt Rojava nicht nur von außen, sondern auch von innen bedrohen. Durch Korruption in einer Gesellschaft, deren Instanzen noch schwach ausgebildet sind. Das Hotel, in dem ich gewohnt habe, ist einige Stockwerke höher gebaut worden, als es die Bauvorschriften in Qamişlo genehmigen. Für unsere Filmarbeiten von Vorteil, denn die oberste Terrasse erlaubt einen perfekten Blick über die Stadt. Eines Tages wurde der allgemeine Straßenlärm von einem dumpfen Hämmern übertönt. Die vielbefahrene Straße vor dem Gebäude war abgesperrt worden, und mitten im Stadtzentrum ließ der Hotelbesitzer nach Wasser bohren. Er gilt als einer der reichsten Männer in Rojava und kann sich einiges erlauben. Seine Karriere begann er als Kofferträger an der syrisch-irakischen Grenze.

In Rakka lernte ich einen engen Freund von Piro kennen. Er ist der oberste Korruptionsermittler in Rojava. Die Selbstverwaltung hat ihm freie Hand gegeben, auch gegen ihre eigenen, höchsten Repräsentant:innen vorzugehen. Piro war aus erster Hand über die Widersprüche informiert, die der Aufbau einer Demokratie aushalten muss in einer Region wie dem Nahen Osten, in der die Korruption endemisch auftritt. Ich fragte ihn danach, wie er die Zukunft Rojavas sieht. Seine Antwort fiel skeptisch aus. Er befürchtete, dass die Überlebenschancen angesichts der geballten Feindschaft der benachbarten Autokraten und Diktatoren und ihrer Helfershelfer im Gestrüpp geopolitischer Interessen immer geringer würden. Piro ist gleich mehrfach ihr Opfer geworden. Der türkische Staat hat ihn getötet. Seine Freund:innen organisierten die Überführung seines Leichnams für die Beerdigung in seiner Heimatstadt Sine (Sanandadsch). Die iranische Staatsmacht verweigerte den Grenzübertritt mit der Begründung, dass Mensour Karimian in Rojava auf syrischem Staatsgebiet getötet wurde, „weil er in einen terroristischen Akt verwickelt war“. Nun wurde er 240 Kilometer westlich von Sine in Silêmanî in der autonomen kurdischen Region im Irak beerdigt.

(1) Siehe dazu: Der vergessene Krieg. Der Bombenterror des Erdoğan-Regimes gegen die Menschen in Rojava, Artikel von Michael Wilk, in: GWR 484, Dezember 2023, S. 1 u. 11
(2) Quelle: Der Spiegel, 31.12.2023
(3) Zu Öcalan, Bookchin und Rojava siehe auch: Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen. Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke im Gespräch mit Konstantin Wecker – Teil 2, in: GWR 485, Januar 2024, S. 20

Robert Krieg ist Filmemacher und promovierter Soziologe. Im Dezember 2023 erschien in der GWR 484 sein Artikel „Wenn der Terror die Oberhand gewinnt. Ein Blick aus Rojava auf den neuen Gaza-Krieg“.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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