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Volk der Mobber

Was der „Anzeigehauptmeister“ über den Zustand des Landes verrät

| Sebastian Schuller

Tägliches Bild in Deutschland: Sehr falsch geparkt

Niclas M. hat ein merkwürdiges Hobby: Er meldet Ordnungswidrigkeiten von Autofahrer:in-nen und reist dazu durch ganz Deutschland. Seit Wochen erntet der 18-jährige für dieses Verhalten einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken. Vor wenigen Tagen kam es zur Eskalation: Ostdeutsche Fußballfans erkannten M., und prügelten ihn krankenhausreif. Ein Vorfall, der symptomatisch für eine enthemmte, autoritäre Gesellschaft steht.

Ein Shitstorm wird produziert

Am Anfang dieser Geschichte steht eine Online-Reportage. Einen Tag lang begleitete ein Spiegel TV-Team Niclas M. und dokumentierte seine Freizeitaktivität: Parksünder:innen bei den örtlichen Ordnungsämtern anzeigen.
Der daraus entstandene, 17-minütige Film zeichnet sich zum einen durch seinen fehlenden Nachrichtenwert aus. Ein Deutscher, der Parksünder:innen aufschreibt? Wahrlich keine Neuigkeit. Zum anderen aber ist der Tonfall der Reportage bemerkenswert: Aussagen von Niclas M. greifen die Autor:innen nur ironisch auf, seine Tätigkeit und Person wird wiederholt ins Lächerliche gezogen. Die grenzüberschreitenden Verbalattacken der Parksünder:innen werden dagegen in voller Länge und unkommentiert gezeigt. Mehrfach können aggressive Autofahrer:innen M. so unter anderem als Denunziant bezeichnen. Eine Perspektive, die sich die Reportage durchaus zu eigen macht: Aus dem Off wird M. unter anderem als „Informeller Mitarbeiter der Ordnungsmacht“, „Anschwärzer vom Dienst“, „Nervensäge im Namen von Recht und Ordnung“ tituliert.
Ein solcher journalistischer Umgang mit einer Person, kann man nur auf eine Art charakterisieren: Da wird einer zum Abschuss freigegeben. Es geht hier nicht darum ein kontroverses Thema von mehreren Seiten zu beleuchten, oder über Interessantes zu berichten. Sondern hier wird der Volkszorn kanalisiert. Der Blick, den die Reportage auf M. wirft, ist nicht journalistisch, sondern der des deutschen Wutbürgers. In einer solchen Perspektive kann M. nur verachtenswert sein. Man könnte auch sagen: Spiegel TV produziert einen Shitstorm.
Und genauso kommt es auch: Kaum ist die Reportage online abrufbar wird M. zum Meme und zum Gegenstand von üblen Anfeindungen auf den sozialen Medien. Finch Asozial macht sich in einem Lied über den 18.-jährigen lustig. Der youtube-Star Montana Black nennt ihn einen „ungeliebten, ungefickten Außenseiter“. Große wie kleine tiktok-Kanäle blasen zur Hetzjagd. Bis passiert, was Montana Black, als ‚Vorhersage‘ verpackt, ankündigte: M. wird krankenhausreif geprügelt.

Hass – nicht nur im Netz: Der autoritäre Charakter

Der eskalierende und drastische Hass im Netz erinnert an einen anderen Fall von Cybermobbing in der BRD: Das sogenannte Drachengame. Der youtuber Rainer Winkler, genannt Drachenlord, wird seit mehr als einem Jahrzehnt von zehntausenden von Anti-Fans (‚Haider‘) tyrannisiert. Diese überziehen ihn nicht nur mit üblen Hasskommentaren (sie wünschen sich seinen Tod, drohen den toten Vater auszugraben, verbreiten Vergewaltigungsfantasien gegen seine Schwester), sondern schrecken auch vor üblen Straftaten nicht zurück. Inzwischen ist Winkler obdachlos und wird von seinen ‚Haidern‘ zu deren Belustigung quer durch Deutschland gejagt. Der Hetzmob fühlt sich dabei im Recht: Sie führen an, Winkler sei erstens grundsätzlich böse und verweisen auf tatsächliche oder vermeintliche Fehltritte des Drachenlords. Zweitens aber heben sie auf seine Armut, sein Aussehen und sein teils sonderbares Verhalten ab, das ihn, in ihren Augen, zurecht verachtenswert macht. Nicht anders im Fall des ‚Anzeigenhauptmeisters‘: Auch hier entwickelt sich eine Internetkultur, die sich im Recht wähnt gegen einen der „peak Deutschtum“ (br.de) verkörpert. Doch als vermeintlicher „Falschparker-Denunziant“ (TV-Total) wird M. zugleich bösartigen Erniedrigungen preisgegeben: M. ist anders. Nicht nur weil sein Hobby etwas ungewöhnlich ist. Seine monotone Redeweise sticht hervor, seine auffällige, gelbe Warnwesten-Jacke, die etwas unbeholfene Selbstinszenierung. TV Total witzelt so über das Aussehen des jungen Mannes, der schon erwähnte Montana Black bezeichnet ihn als „einsam, ungeliebt, und ungefickt“. Die Botschaft ist eindeutig: Da ist nicht nur einer, den wir hassen können, sondern der auch weniger wert ist, als wir. Entsprechend formiert sich der autoritäre Mob und schreitet zur verbalen und offensichtlich auch körperlichen Gewalt.
Erklären lassen sich beide Fälle nicht einfach nur mit Dynamiken im Internet. Was sich hier zeigt, kann man mit Theodor W. Adorno als Folge von ‚autoritären Charakteren‘ betrachten.
Adorno und andere zeigen, dass insbesondere Personen, die in autoritäreren Umgebungen aufgewachsen und von ihnen geprägt sind, soziale und politische Widersprüche schwer aushalten können. Statt diese zu lösen, verschieben sie sie auf andere. Diese anderen werden einerseits als Feinde markiert, und andererseits als unterlegen gekennzeichnet. Als vernichtenswert und vernichtbar. Der autoritäre Charakter kann so nicht nur seine eigene Welt(sicht) stabilisieren, sondern sich in der Vernichtung des Feindes als überlegen fühlen. Immer wieder bemerken ‚Haider‘ im ‚Drachengame‘ so, wie sehr es sie provoziert, dass Winkler nicht arbeitet, faulenzt, oder als Sonderschüler youtube macht. Die Provokation besteht darin, dass einer, den sie in ihrem Weltbild als unterlegen ansehen, es wagt, nicht nach ihren Vorstellungen zu leben. Diese ‚Provokation‘ ist eigentlich ein Widerspruch gegen die strengen Leistungsnormen der Welt, in der sie sich bewegen. Statt diese Infragestellung einfach zu bearbeiten (vielleicht ist ja die Idee einer Leistungsgesellschaft falsch?), oder sie zu ignorieren, können die autoritären Charaktere nicht anders, als mit Hass auf die Provokation zu reagieren und die Stabilität ihrer Welt durch den Angriff auf und die Erniedrigung von Winkler wiederherzustellen.

Ein Neoliberalismus der Hetzmeuten

Dies gilt sicher auch im Fall von M. Dass einer, der nicht den Normen der Gesellschaft entspricht, zu Aufmerksamkeit kommt, ist sicher für viele Provokation genug. Doch kommt hier noch eine politische Ebene hinzu.
Das Ziel des ‚Anzeigenhauptmeisters‘ ist es, Regelverstöße von Autofahrer:innen zu melden. Deswegen unterzieht er sie im Grunde unangekündigten Kontrollen. Für Nutzer:innen des ÖPNV sind diese an der Tagesordnung. Dagegen können sich Autofahrer:innen sicher sein, dass ihnen so gut wie nichts passiert. Sie genießen eine gewisse, privilegierte Position, die eigentlich nur die allgemeine Verkehrspolitik Deutschlands widerspiegelt: Der Staat subventioniert das Autofahren mit Milliarden von Euros (denken wir nur an Vergünstigungen für Firmenwägen), wehrt sich gegen Verkehrsbeschränkungen zu Gunsten der Reduzierung von Feinstaub, und will, trotz Klimakatastrophe keine Verkehrswende einleiten. Während SUVs die Straßen verstopfen, wurden so letztes Jahr Aktivist:innen der Letzten Generation unter anderem als Klima-RAF bezeichnet, Bayern sperrte Mitglieder der Gruppe ohne Prozess ein, Auto-fahrer:innen misshandelten sie regelmäßig. Der motorisierte Individualverkehr in Deutschland ist alternativlos. Gesellschaftliches, wie politisches Ideal ist es, ein Auto zu besitzen, das Land ist eine Republik der Autofahrer:innen. Freie Fahrt für freie Bürger.
Genau diese herausgehobene Position unterminiert Niclas M. Sein Handeln ist im Grunde ein Widerspruch gegen unsere gesellschaftlichen Werten und politischen Strukturen, denn sie verweisen, zum Beispiel, auf das willige Versagen des Staates, der Parksünder:innen nicht verfolgt, oder auf die ungeheuren Blechlawinen, die, genauso gewollt, unsere Innenstädte vollstellen. Statt diesen Widerspruch anzuerkennen und zum Anlass zu nehmen, die Verkehrspolitik zu hinterfragen, formiert sich die Hetzmeute. Diese löst den Widerspruch dadurch auf, dass sie zur Jagd auf einen Einzelnen bläst.
Und dieser gesellschaftliche Umgang mit dem ‚Anzeigenhauptmeister‘ ist kein Einzelfall. Es zeichnet sich immer mehr die Tendenz in unserer Gesellschaft ab, jede Form der Hinterfragung des Status quo autoritär zu beantworten. Die moderaten Forderungen der schon erwähnten Letzten Generation wurden mit staatlicher Verfolgung und ebenfalls gewalttätigen Reaktionen aus dem Volk beantwortet. Während Corona mussten Menschen, die für Solidarität einstanden, mit dem Doxxing und Angriffen der Querdenken-Community rechnen. Die österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr wurde von der Meute sogar in den Selbstmord getrieben. Ein Geflüchteter, der es einmal wagte, gegen das deutsche Asylsystem Stellung zu beziehen, wurde von der Springerpresse monatelange schikaniert und rassistischen Attacken aus der Gesellschaft ausgesetzt.
Die üblen Reaktionen auf den ‚Anzeigenhauptmeister‘ sind nur eine Momentaufnahme in einem Prozess. Es scheint so, dass, je mehr unser Gesellschaftsmodell in die Krise fällt, der autoritäre Charakter und die Jagdmeute attraktiver und gesellschaftlich akzeptabler werden. Wir erleben so die Entstehung einer Gesellschaft der Hetzmeuten, in der diejenigen, die die anders denken, die herausstechen oder als schwächer erscheinen, keine Zukunft mehr haben, und kein Recht auf Partizipation.

Sebastian Schuller ist Literaturwissenschaftler. Er promovierte zum Zusammenhang von Literatur und Globalisierung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Dezember 2023 erschien bei edition assemblage sein neues Buch: „Die Freiheit, die sie meinen. Verschwörungsideologien und die Entstehung des autoritären Neoliberalismus“.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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