Etwa die Hälfte der 110 Millionen Geflüchteten weltweit sind Mädchen* und Frauen*.
Teils fliehen sie aus den selben Gründen wie Männer, jedoch sind oftmals geschlechtsspezifische Gründe der Auslöser für ihre Flucht, wie Gewalt an Frauen*, häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel, Genitalverstümmelung, Angst vor Ehrenmorden, Transfeindlichkeit, Unterdrückung und den herrschenden patriarchalen Strukturen. Sexualisierte Gewalt wird immer wieder als Waffe genutzt, als weitere Form der Unterdrückung und um die Mobilität von Mädchen* und Frauen* einzuschränken.
So kämpfen sie oft zwei Kämpfe, den des Krieges oder der Armut, der Unfreiheit und Unterdrückung und den, der oftmals unsichtbar erscheint. Den Kampf in ihrem eigenen Zuhause, den Kampf auf den Straßen, den Kampf von vielen – vielen Schwestern, Töchtern, Müttern, Tanten und Freundinnen.
In Deutschland angekommen, ist der Kampf längst nicht vorbei. Hier stoßen geflüchtete oder flüchtende FLINTA*–Personen oft auf neue Formen von Sexismus und Diskriminierung. So sind sie neben Sexismus und patriarchalischem Verhalten ebenso Rassismus ausgesetzt, häufig gepaart mit islamfeindlicher Diskriminierung oder auch einer Überbetonung einer vermeintlichen Opferrolle, was in einer Unterschätzung ihrer Fähigkeiten und Autonomie resultiert. Auch eine Sexualisierung und Exotisierung sind Formen von Rassismus, denen weiblich und migrantisch gelesene Menschen oft ausgesetzt sind.
Geflüchtete Frauen* werden in der Gesellschaft oftmals verzerrt wahrgenommen; sie sind Ehefrauen, Mütter oder Opfer ihrer Männer, passive Begleiterinnen – sie sind vieles, aber doch kein normaler, fähiger Mensch mit einer Stimme, die laut sein kann, die wütend sein kann, die stark sein kann!
Geflüchtete FLINTA*-Personen haben oft eingeschränkten Zugang zu Schutzräumen und Frauenhäusern, insbesondere wenn sie keine Deutschkenntnisse haben oder ihr Aufenthaltsstatus unsicher ist. Hinzu kommt, dass viele nicht über ihre Rechte aufgeklärt werden und Schwierigkeiten haben, rechtlichen Beistand zu finden.
Oftmals haben FLINTA*-Personen weniger Bildung erfahren können als (cis)Männer. Laut einer Studie des Mediendienstes Integration aus dem Jahr 2021 haben nur 45% der geflüchteten Frauen* einen Schulabschluss aus ihrem Herkunftsland, im Vergleich zu 60 % der geflüchteten Männer.
Europaweite Studien zeigen, dass die Beschäftigungsquote von geflüchteten Frauen* um 17 Prozentpunkte niedriger liegt als die geflüchteter Männer und das, obwohl ein Großteil geflüchteter Frauen* angegeben hat, gerne in Deutschland (wieder) eine Arbeit aufzunehmen!
Nicht nur werden Frauen* mit Fluchthintergrund strukturell mehrfach benachteiligt, auch erfahren sie unzureichenden Schutz vor patriarchaler oder geschlechtsspezifischer Gewalt.
Betroffene häuslicher Gewalt brauchen aufenthaltsrechtlichen Schutz, um sich aus der Gewaltspirale herauszulösen und eine Strafverfolgung der Täter*innen zu ermöglichen. Hierzu muss das Aufenthaltsgesetz um einen bedingungslosen Aufenthaltstitel für Betroffene häuslicher Gewalt erweitert werden, denn Täter*innen nutzen die Angst vor Abschiebung als Druckmittel, um Betroffene davon abzuhalten, Hilfe bei den Behörden zu suchen oder ihrer gewalttätigen Umgebung zu entkommen. Um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu erlangen, müssen oftmals mehrere Kriterien erfüllt werden, wie etwa mindestens drei Jahre in einer ehelichen Lebensgemeinschaft in Deutschland gelebt zu haben. Zudem besteht der Anspruch, die häusliche Gewalt zu beweisen, was gänzlich konträr zu dem steht, wie in solchen Fällen adäquat gehandelt werden sollte. In den meisten Fällen ist ein Beweisen jedoch aus vielerlei Gründen gar nicht möglich, da es Betroffenen häufig aus Angst nicht möglich ist, Verletzungen ärztlich dokumentieren zu lassen, geschweige denn einen entsprechenden Bericht bei der Polizei anzufordern, welche als Staatsorgan Abschiebungen durchführt und erst Recht für Frauen* mit Fluchthintergrund oft eine enorme Bedrohung darstellt. Häusliche Gewalt kann sich auf vielerlei Weise äußern, welche nicht immer nachweislich ist. Es wird suggeriert, dass das Opfer in einer Bringschuld steht und es scheint, als sei das oberste Gut, eine unrechtmäßige Verurteilung des Täters zu verhindern.
Patriarchale Strukturen
werden nicht bekämpft,
sondern weiter ausgeführt
Obwohl die Hälfte aller Flüchtenden weiblich ist, gibt es kaum genderspezifische Studien, geschweige denn solche, die Daten explizit von FLINTA*- und TINA-Personen auf der Flucht erheben. Auch hier werden Mädchen* und Frauen* sowie TINA-Personen strukturell unterrepräsentiert.
Eine Studie von „Transgender Europe“ (TGEU) aus dem Jahr 2020 zeigt, dass 77 % der befragten Transpersonen in Europa psychische Gesundheitsprobleme aufgrund von Diskriminierung und sozialer Isolation erleben. Die psychischen Belastungen durch Diskriminierung, soziale Isolation und Trauma sind bei Transpersonen mit Fluchthintergrund besonders hoch. Dies führt zu einem erhöhten Risiko für Depressionen, Angststörungen und Suizid.
Transpersonen mit Fluchthintergrund haben oft keine familiäre Unterstützung und erleben es oft als sehr schwierig, neue Netzwerke aufzubauen. Soziale Isolation erhöht das Risiko für psychische und physische Gesundheitsprobleme erneut.
Es gibt nur wenige spezialisierte Angebote und Schutzräume für Transpersonen mit Fluchthintergrund, was ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen gefährdet.
Erlebtes in einer Psychotherapie aufzuarbeiten gestaltet sich oft als besonders schwierig. Es fehlt an Therapieplätzen und der Weg dahin ist voller Barrieren, von denen die Antragsprozedur nur eine ist. Psychotherapeut*innen zu finden, die eine Psychotherapie in verschiedenen Sprachen anbieten, gestaltet sich als großer bürokratischer Akt. Auch ist es abhängig von der Aufenthaltserlaubnis, ob überhaupt psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen werden kann. Insgesamt besteht eine deutliche Unterversorgung.
Zudem kommt es bei Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund exorbitant häufiger zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen, Therapieabbrüchen und Behandlungswechseln als bei Menschen ohne Flucht- oder Migrationshintergrund.
Der Zugang zu trans-spezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich Hormontherapie und geschlechtsangleichenden Operationen, ist oft eingeschränkt. Viele Transpersonen mit Fluchthintergrund haben nicht ausreichend Zugriff auf Informationen darüber, welche Angebote oder Rechte ihnen zustehen, zudem hängt auch das von dem jeweiligen Aufenthaltsstatus ab.
Transpersonen erleben in Unterkünften häufig Gewalt und Diskriminierung sowohl von den Menschen, die dort tätig sind, als auch andren Menschen, die dort leben.
Die Zahl der dokumentierten Morde an Transpersonen ist weltweit in den letzten Jahren maßgeblich gestiegen, wobei viele Fälle von transfeindlicher Gewalt nicht gemeldet oder dokumentiert werden.
Eine Umfrage der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) aus dem Jahr 2020 ergab, dass 34 % der Transpersonen in der EU, einschließlich Deutschland, in den letzten fünf Jahren physische oder sexualisierte Angriffe erlebt haben. Die Dunkelziffer hierbei wird wesentlich höher geschätzt.
Laut der EU-Qualifikationsrichtlinie und Paragraph 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ein gesetzlich anerkannter Asylgrund in der EU, denn dadurch werden die grundlegenden Menschenrechte verletzt. Jedoch birgt die Realität immense bürokratische und emotionale Hürden.
So müssen FLINTA*-Personen in ihrem Asylverfahren eben diese Verfolgung „glaubhaft“ machen. Und das ist ein enormes Problem!
Patriarchale Gewalt existiert überall und wird verdrängt und tabuisiert, Betroffene erfahren oft keine Hilfe, stattdessen wird ihnen nicht geglaubt, Erfahrungen werden abgesprochen oder verharmlost. Eine Verharmlosung oder die Tatsache, dass ihnen oft nicht geglaubt wird, kann eine enorme psychische Belastung darstellen und im schlimmsten Fall retraumatisierend wirken.
Die Schilderung traumatischer Ereignisse kann retraumatisierend sein, zudem ist es Betroffenen nicht immer möglich, ihre Erfahrung zu schildern, z. B. aufgrund von Verdrängung oder aus Selbstschutz.
Unabhängig des kritischen Aktes des „Beweisens“ von z. B. dem Erleben von Gewalt im privaten oder häuslichen Bereich oder des Queer-Seins, stellt diese Situation eine enorme psychische Belastung für die Schutzsuchenden dar, weil die eigenen traumatisierenden Erfahrungen konkret, nicht widersprüchlich und möglichst detailreich dargelegt werden sollen. Trotz detailreicher Schilderung des Erlebten bekommen z. B. viele queere Flüchtende negative Bescheide, auf die mit Folgeverfahren und Klage zur Zweit- und Drittanhörung geantwortet werden kann.
Die gewaltvollen und diskriminierenden Erfahrungen verbindend mit den traumatischen Erfahrungen auf der Flucht, erschweren es FLINTA*-Personen im Rahmen ihres Asylverfahrens also nochmal umso mehr in den sogenannten Interviews beim Bundesamt für Migration für Flüchtlinge (BaMF) ihre eigene sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität „darzulegen“.
Der Rechtsruck nimmt immer weiter zu, er ist längst keine Randerscheinung mehr und hat sich tief in das Gewebe unserer Gesellschaft eingegraben. Nationalismus, Rassismus, Antifeminismus sowie Trans- und Queerfeindlichkeit werden salonfähig gemacht und das hat Folgen. Die Statistiken, die die vielen, zum Teil tödlichen Angriffe dokumentieren (vgl. GWR 490), sprechen für sich. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, eben dies zu thematisieren und international solidarisch zu handeln!
(1) Das Gendersternchen (*) hinter einem Wort dient als Verweis auf den Konstruktionscharakter von „Geschlecht“. „Frauen*“ bezieht sich z. B. auf alle Personen, die sich unter der Bezeichnung „Frau“ definieren, definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen.
Chiara Oschika hat in der GWR 490 mit ihrem Artikel „Ich will einen Richter“ über tödliche Polizeigewalt in Mannheim berichtet.