Historiker, Drucker, Archivar und Anarchist

Erinnerungen an den Mannheimer Genossen Hans-Joachim Hirsch (1951–2024)

| Bernd Elsner

Als Anfang der 1970er Jahre mehrere anarchistische Gruppen im badischen Raum, zwischen Bruchsal und Karlsruhe, die „anarchistische badische föderation“ (abf) gründeten, suchten wir auch die Verbindung mit Aktiven in Mannheim und Heidelberg.

In Mannheim fanden wir, auch über unsere damaligen, regionalen Druckereien und Literaturvertriebe, schnell Kontakt zur Druckerei Cachou in der Pozzistraße und zum anarchistischen Literaturvertrieb „Dachkammer“. Gleich um die Ecke herum war, ich denke Ecke Grillparzer- und Lenaustraße, wie bei uns, eine Siebdruckerei angesiedelt, welche von Leuten aus der situationistischen Internationalen betrieben wurde.
Hans-Joachim Hirsch und Helge Künzler betrieben die Offset-Druckerei Cachou sehr professionell, ganz im Gegensatz zu unserer eher chaotischen, selbstverwalteten Druckerei. Helge und HaJo, wie wir ihn nannten, waren auch Mitglieder der damaligen anarchistischen Gruppe „AnarChaos“. Das erschien mir befremdlich. Dennoch entstand eine enge langjährige Beziehung, allerdings nicht innerhalb der abf. Ich erinnere mich an gemeinsame Volkszählungs- und Wahlboykottaufrufe. Mannheim selbst kannte ich schon aus den Zeiten, als wir uns am Wasserturm mit der berittenen Polizei Wasserschlachten über die besetzten Häuser H7, das spätere G7, lieferten. Ebenso über die legendäre Pizzeria in der Uhlandstraße, welche von der Exilspanierin und CNT-Genossin Laura mit ihrem italienischen Lebenspartner JeanPiero, einem FAI-Mitglied betrieben wurde. Aber auch das heute noch bestehende Eiscafe und die Pizzeria „Adria“, die ich seit den sechziger Jahren durch einen meiner Väter und über die neapolitanische Gemeinde bereits kannte, war ein von uns allen immer wieder gern besuchter Mittelpunkt in der Neckarstadt. Von daher war ich etwas mit der neueren Geschichte Mannheims vertraut. Als gelernter Historiker war HaJo jedoch auch mit der Vergangenheit dieser Stadt bestens vertraut. Es war seine Idee, die Vormärzgeschichte und die badisch-pfälzische Revolution mit einem Schauspiel für Mannheim in Szene zu setzen. Er begeisterte eine Gruppe von nicht nur anarchistischen, aber libertären Genossinnen und Genossen. Es gelang mir einen langjährigen Genossen aus der abf als hervorragenden Musiker mit seinem musikalischen Partner für die Aufführungen zu gewinnen. HaJo selbst schrieb die gesamten historisch belegten Texte zu diesen „Märzfeiern“. Hans-Joachim Hirsch war als ausgezeichneter Kenner über den Vormärz sowie über die Revolution von 1848/49 weit über die Region hinaus bekannt. Viele Jahre engagierte er sich in der Geschichtswerkstatt Neckarstadt. Er leitete Führungen und Veranstaltungen wie die „Märzfeiern“. Auch über Straßenfeste in der Max-Joseph-Straße trug er maßgeblich dazu bei, dass sich die Geschichtswerkstatt als Verein etablieren konnte und im Volksbad in der Mittelstraße unterkam.
Er sprach ausgezeichnet französisch. Nach seinem Abitur in Tauberbischofsheim und seinem Studium der Geschichte und Germanistik in Mannheim und Paris arbeitete er unter anderem im Archiv der Stadt Weinheim. Weiterhin am Institut für Medien- und Kommunikationsforschung und in der Bibliothek der Universität Mannheim. Hier beschäftigte er sich mit den Werken aus der Zeit des Kurfürsten Carl-Theodor. Später wurde er hauptamtlicher Betreuer für die KZ-Gedenkstätte in Sandhofen. Er baute das bildungspädagogische Programm auf und gestaltete somit diese Stätte zu einem Erinnerungsort der Region. Zudem organisierte er Besuchsreisen ehemaliger KZ-Häftlinge nach Mannheim und Exkursionen für Jugendliche nach Gurs in Frankreich und Warschau in Polen. Hans-Joachim war von 1996 bis 2016 Angestellter beim Stadtarchiv/Institut für Stadtgeschichte. Er schuf die Grundlagen für eine aktive Erinnerungsarbeit des Stadtarchivs Mannheim, welches vom Marchivum fortgeführt wird.
Gemeinsam mit dem damaligen Direktor Nieß unterstützte er den Fotografen Luigi Toscano bei ersten Aufnahmen von ehemaligen Häftlingen, aus der die Reihe „Gegen das Vergessen“ mit Holocaust-Überlebenden entstand.
Als Historiker legte Hans-Joachim zahlreiche Publikationen vor. Diese galten etwa der Gedenkskulptur für jüdische Opfer des Nationalsozialismus aus Mannheim, dem jüdischen Literaten und Theatervisionär Moriz Lederer und der Arbeiterbewegung. Für diese Zeitabschnitte fungierte er auch als Autor in der großen „Geschichte der Stadt Mannheim“ von 2007.
Sein letztes und umfangreichstes Werk verfasste er, bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, über seinen Heimatstadtteil, die Neckarstadt. Als sein Buch über die Geschichte der Neckarstadt 2022 erschien, war Hans-Joachim Hirsch trotz seiner schweren Krankheit im Rollstuhl zur Buchpräsentation mit dem Musiker Gringo Mayer vor 150 Gästen ins jetzige Marchivum gekommen. HaJo verstarb am Freitag, den 24. Mai 2024, im Alter von 72 Jahren. Seine sterblichen Überreste wurden am 14. Juni auf dem Hauptfriedhof in Mannheim beigesetzt.
Ich konnte die Archivunterlagen von HaJo dem an-archiv Neustadt an der Weinstraße, getragen vom Horst-Stowasser-Institut e.V. übergeben. Allerdings sind noch ca. 8.000 Bücher zu diversen Themen vorhanden, welche noch eine Leihbücherei oder Bibliothek suchen.
Nachsatz für die
Graswurzelrevolution:
Gerd Klotsch war Anti-Alkoholiker, überzeugter Fahrradfahrer und ein stadtbekannter Aktiver der früheren anarchistischen Gruppe „Erich Mühsam“. Die Gruppe Anarchaos, der auch HaJo angehörte, sowie auch die gesamten Mannheimer Libertären, waren und sind teilweise heute noch der festen Überzeugung, dass Gerd Klotsch 1993 vorsätzlich durch ein Polizeifahrzeug totgefahren wurde. Es wurden einzelne Aktionen dazu durchgeführt.
Als die sterblichen Überreste von HaJo beigesetzt wurden, war auch, seltsamer „Zufall“, die kommunale Trauerfeier für einen erstochenen Polizisten (welcher nur helfen wollte).
Archivmaterial zu dem meisten befindet sich im an-archiv Neustadt