Wobblies in Kanada

Zu Besuch bei den Industrial Workers of the World in Toronto

| Daniel Jerke

Kanada spielt in der deutschsprachigen Medienberichterstattung kaum eine Rolle. Das trifft leider auch auf die Graswurzelrevolution (GWR) zu. Der letzte GWR-Beitrag, in dem es ausdrücklich um die anarchistische Bewegung in Kanada (1) geht, erschien vor fünfzehn Jahren in der GWR 337. Nun konnte sich GWR-Autor Daniel Jerke bei seinem Aufenthalt in Kanada mit der Ortsgruppe der Industrial Workers of the World (IWW) in Toronto über die aktuelle Lage der unionistischen, basisdemokratisch organisierten Gewerkschaft in dem nordamerikanischen Land austauschen. (GWR-Red.)

Die Industrial Workers of the World (IWW) haben sich kurz nach ihrer Gründung in Chicago 1905 auch in Kanada ausgebreitett. Bereits 1906 hatten sich mehrere Ortsvereine (branches) in British Columbia gegründet, wo es die anarchosyndikalistische Gewerkschaft in den folgenden Jahren immer wieder schaffte, dem Kapital durch lokale Streiks das Fürchten zu lehren. Doch auch in Kanada waren die Wobblies, wie IWW-Mitglieder umgangssprachlich genannt werden, von Anfang an durch eine starke Fluktuation ihrer Mitgliedschaft strukturell eingeschränkt. Darüber hinaus wurde die IWW in Kanada, wie auch in den USA, mit Beginn des Ersten Weltkrieges das Ziel einer Unterdrückungskampagne, die 1918/19 in einem vorübergehenden Verbot gipfelte. In der Zwischenkriegszeit erlebte die IWW vor allem unter finnischen Arbeitern in der Holz- und Papierindustrie des nördlichen Ontario zwar wieder einen Aufschwung, langfristig blieben die Wobblies in der kanadischen Politik allerdings eine marginale Kraft. Dafür gab es verschiedene Ursachen, etwa die anhaltende staatliche Repression, die Dominanz sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien und Gewerkschaften und nicht zuletzt die sozioökonomische wie kulturelle Einbindung weiter Teile der Arbeiterschaft in die sich ausdehnende kanadische Mittelschicht (2).
Wie steht es heute um die Wobblies in Kanada?
Die Mitglieder der IWW-Ortsgruppe für den Großraum Toronto waren so freundlich, mir Ende Mai 2024 die Teilnahme an einem ihrer regulären Treffen zu ermöglichen und sich im Anschluss mit mir sehr offen auszutauschen. Zunächst musste das Zusammenkommen aber spontan von seinem eigentlichen Treffpunkt in einem Sozialzentrum in eine nahegelegene Bar verlegt werden, weil sich der erforderliche Türcode als falsch herausstellte. Das kam mir aus linken Kreisen bekannt vor.
Der Ortsgruppe gehören rund hundert offizielle Mitglieder an, die vor allem in kleineren Firmen und Betrieben des privaten Dienstleistungssektors beschäftigt sind. Wie hierzulande sind in Kanada vor allem Beschäftigte des öffentlichen Dienstes sowie in der Industrie gewerkschaftlich organisiert, während die überdurchschnittlich migrantischen, von Rassismus betroffenen sowie weiblichen Beschäftigten des privaten Dienstleistungssektors kaum erreicht werden. Auch für die Wobblies sei die gewerkschaftliche Basisarbeit in diesem Sektor langwierig und nicht immer von Erfolg gekrönt. Es gelinge leider nicht häufig, Mitglieder anzuwerben, die keinen Hintergrund in der white middle-class hätten.
Wir diskutierten über mögliche Gründe für diese Schwäche, ohne zu einem endgültigen Schluss zu kommen. Könnte beispielsweise das Gebaren von linken Gruppen auf Personen abschreckend wirken, die keine Universität besucht haben?
Die IWW habe sich zum Ziel gesetzt, alle Beschäftigten an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz zu organisieren, aber „oftmals erreiche man doch nur cultural anarchists”, räumte ein Wobbly ein. Des Weiteren diskutierten wir die These, ob Personen aus der weißen Mittelschicht höhere Erwartungshaltungen an ihren sozioökonomischen Status hätten als Einwander_innen und deren Kinder. Der tatsächliche oder zumindest befürchtete Abstieg aus der Mittelschicht führe daher unter Weißen zu einer politischen Radikalisierung, der einzelne zur IWW bringe, viel häufiger jedoch der politischen Rechten zugute komme. Gegen diese These spreche aber, dass die IWW in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders viel Anklang unter (europäischen) Einwanderer_innen fand.
Daran anschließend kam ich mit den versammelten Wobblies auf ein Phänomen zu sprechen, das die Abstiegsängste der kanadischen Mittelschicht veranschaulicht. Im Mai war nämlich auf Reddit, einem sozialen Netzwerk, das besonders häufig von jungen Männern aus englischsprachigen Ländern mit mittlerer oder höherer Bildung genutzt wird (3), zu einem Konsumboykott der größten kanadischen Supermarktkette Loblaw und mit ihr verbundenen Geschäften aufgerufen worden. Laut Medienberichten habe die Gruppe „Loblaws is out of control” anfangs nur dazu gedient, sich über die Preispolitik des Konzerns auszutauschen und auszulassen, habe sich dann aber weiterentwickelt und schließlich sei, nach einer Abstimmung, die Entscheidung gefallen, einen Boykott zu organisieren. Für Loblaw als Ziel habe man sich aufgrund der Marktmacht des Konzerns entschieden, der alleine fast dreißig Prozent der Umsätze im Lebensmittelhandel auf sich vereint (4).
Auf den ersten Blick schien sich dieser Internetaktivismus durchaus bemerkbar auszuwirken: Anstatt einfach ignoriert zu werden,wie es vermutlich Indigenen ergangen wäre, wenn sie beispielsweise zu Aktionen gegen die Erdölindustrie in Alberta aufgerufen hätten, berichteten sämtliche kanadische Medien anfänglich über die Gruppe und ihre Forderungen. Das anfängliche Urteil der Medien, die in Kanada genauso konzentriert sind wie der Einzelhandel (5), reichte dabei von einem gewissen Verständnis, offenem Interesse bis hin zu unverhohlener Ablehnung. Unabhängig von ihrer Bewertung trug die breite Berichterstattung zur Bekanntheit der Gruppe bei, die bis Ende Mai bei Reddit auf 86.000 Mitglieder anwuchs. Damit gehört die Gruppe zwar zu den obersten zwei Prozent aller weltweiten Kanäle auf Reddit, liegt aber bei den Kanälen mit einem expliziten Kanada-Bezug eher im Mittelfeld zusammen mit Kanälen, die kleineren Provinzen oder mittelgroßen Städten gewidmet sind. Darüber hinaus konnte sich die Gruppe aber darüber freuen, dass bei einer Umfrage Mitte Mai 70 Prozent der Befragten meinten, von dem Boykott gehört zu haben, und 18 Prozent gaben an, sich an ihm zu beteiligen (6).
Der Konzern wies die Anschuldigungen zurück und behauptete, bei dem Boykottaufruf handle es sich um „fehlgeleitete Kritik“, die keine Auswirkungen auf den Umsatz habe. Dennoch traf sich der Vorstandsvorsitzende mit Emily Johnson, einer Sozialarbeiterin, die die Gruppe gegründet hatte und in der Öffentlichkeit als Sprecherin der Reddit-Gruppe auftrat. Sie bezeichnete das Treffen anschließend als produktiv, sprach sich aber dennoch für die Fortführung des Boykotts aus. Während die sozialdemokratische New Democratic Party, die sich in der Opposition befindet, die Boykottbewegung nutzte, um die liberale Regierung von Justin Trudeau für ihre Untätigkeit gegenüber „corporate greed” anzugreifen, hielten sich die Regierung und die konservative Opposition auffällig zurück mit direkten Kommentaren zur Boykottbewegung. Stattdessen lobte Trudeau Mitte Mai ausdrücklich Loblaw für die Unterzeichnung eines (nicht bindenden) Verhaltenskodex für den Einzelhandel, den das Unternehmen wenige Monate zuvor noch nicht hatte unterschreiben wollen. Seine Finanzministerin war außerdem schon vor Boykottbeginn mit der Schnapsidee um die Ecke gekommen, die Regierung könne doch ausländischen Firmen den Marktzugang erleichtern, denn zunehmender Wettbewerb senke ja bekanntlich die Preise. Als mögliche Kandidatinnen galten unter anderem Unternehmen wie Aldi, Lidl, Edeka und REWE (7).
Wie mir die IWW-Mitglieder berichteten und ich selbst in alten Medienberichten nachlesen konnte (8) waren solche Boykottaufrufe in Kanada nichts Neues, aber nie war daraus eine langfristige Mobilisierung hervorgegangen. Wir kamen überein, dass sowohl in Kanada als auch in Deutschland und Österreich eine Desillusionierung mit den politischen und sozioökonomischen Gegebenheiten verbreitet sei, sich aber vor dem Hintergrund des Individualismus, der durch die Ausbreitung des Internets noch zugenommen habe, nur noch selten in kollektiven Aktionen äußere. Eine Chat-Gruppe in einem sozialen Netzwerk könne keine breite Basisbewegung ersetzen, weshalb meine Gesprächspartner*innen nicht an ein langes Fortleben der Boykottbewegung glaubten. Einer von ihnen meinte, das Internet sei nützlich, um sich zu informieren oder zu agitieren, Mobilisierung werde hingegen erschwert: „The Internet is killing organizing”. Infolgedessen seien viele Menschen trotz ihrer Entfremdung vom real existierenden Kapitalismus nicht bereit, sich in einer Gruppe wie den Industrial Workers of the World zusammenzuschließen, da kollektive Lösungen für gemeinsame Probleme bei den meisten Menschen mittlerweile außerhalb der eigenen Vorstellungswelt liegen. Doch was bleibt uns in Gruppen wie den Industrial Workers of the World, der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) oder der Graswurzelrevolution anderes übrig als weiter für unsere Überzeugungen einzutreten?
Nachtrag
Weil sie mit dem Verhalten der Firma weiterhin nicht zufrieden waren, kündigte die Gruppe „Loblaw is out of control” Ende Mai an, den Boykott unbefristet zu verlängern. Bis Ende Juli war zwar die Zahl der Mitglieder des Kanals nur leicht auf 91.000 gestiegen, dafür musste der Konzern bei der Veröffentlichung seiner Verkaufszahlen für die Monate April, Mai und Juni zugeben, dass die Boykottbewegung dazu beigetragen haben könnte, dass die Einnahmen geringer ausfielen als vorausgesagt (9).

(1) Anarchismus in Kanada. Indigener Widerstand, G8-Gipfel und Ann Hansen. Ein Interview mit Reece Sonable. Interview von Sebastian Kalicha, in GWR 337, März 2009, https://www.graswurzel.net/gwr/2009/03/anarchismus-in-kanada/
(2) Es gibt leider kaum tiefgehende Texte über die Geschichte des IWW in Kanada. Am besten fand ich noch den Text „The History of the IWW in Canada” von G. Jewell auf der Internetseite der IWW Vancouver.
(3) Exploding Topics: Reddit User Age, Gender, & Demographics (2024). Fabio Duarte, 24.04.2024; SocialChamp: Reddit Demographics: What You Need to Know in 2024. Sarah Anderson, 03.05.2024.
(4) Daily Hive: “Don’t tolerate monopolies anymore”: Canadians gear up for Loblaw boycott starting this week. Isabelle Docto, 29.04.2024.
(5) Winseck, Dwayne, 2022, “Media and Internet Concentration in Canada, 1984-2021”, Global Media and Internet Concentration Project, Carleton University.
(6) CTV News: Canadians feel grocery inflation getting worse, 18% are boycotting Loblaw, poll. The Canadian Press 22.05.2024.
(7) Now: Loblaw boycott catches international media attention and comparisons show Canadians spend more on groceries. Rachel Goodman, 06.06.2024.
(8) Zum Beispiel hatte es bereits 1966 eine (sehr kurzlebige) Boykottbewegung gegen Loblaw gegeben. Auch die Tankstellenkette Petro-Canada war in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt Ziel von Boykottaufrufen gewesen.
(9) Canadian Broadcasting Corporation: Without mentioning boycott, Loblaw execs suggest it was factor in weaker food sales. Jenna Benchetrit, 25.07.2024.