Camille Pissarro (1830-1903) war Anarchist und einer der bedeutendsten Maler des französischen Impressionismus. Als Maler gelang ihm erst relativ spät der Durchbruch, als Mitte Dreißigjähriger bemalte er noch Rollos und Markisen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Im Juni 2009 wäre eines von Pissaros Bildern, „Le Quai Malaquais“ (1903), im renommierten Auktionshaus Christie´s beinahe versteigert worden, taxiert war es auf 1,1 bis 1,7 Millionen Euro. Der Verkauf scheiterte an ungeklärten Besitzverhältnissen des erst zwei Jahre zuvor in einem Schweizer Banksafe aufgetauchten Bildes. Ein normaler Preis für ein Bild des Impressionisten und Abonnenten der anarchokommunistischen, von Peter Kropotkin gegründeten Zeitschrift La Révolté. Im Frühjahr 2008 war Pissarros „Match de cricket à Bedford Park“ (1897) für rund 1,5 Millionen Euro weggegangen, im Preisvergleich mit Gemälden anderer Impressionist*innen ein Schnäppchen.
In keinem der Berichte aus dem Kunstmarktgeschehen wird Pissarros politische Haltung erwähnt. Das geschieht nicht etwa deshalb, weil man die Bilder eines Staatsfeindes und libertären Sozialisten schlechter verkaufen könnte als etwa die einer Monarchistin oder einer Republikanerin. Im Gegenteil, der Ruch des Kritischen, das wusste auch schon der sozialrevolutionäre Maler Gustave Courbet (1819–1877) – wie die Kunsthistorikerin Isabelle Graw in ihrer Studie zum Verhältnis von Kunst und Markt ausführt (1) –, lässt sich mithin auch finanziell gewinnbringend ausschlachten. Auch und gerade zeitgenössische Künstler*innen, die gesellschaftskritische Positionen vertreten, können ein Lied von dieser Konvertierbarkeit von Kritik in Markterfolg singen. Manche singen es sogar gerne, schließlich will man als Künstler*in auch leben und am liebsten doch von dem, was man macht. Der Markt kann sich, wie im Falle Pissarros, aber auch vollkommen gleichgültig gegenüber der Politik verhalten, in deren Kontext die Verkaufsobjekte produziert und rezipiert werden.
Insofern ist Pissarro ein gutes Beispiel. Ein Beispiel für das schwierige Verhältnis von Kunst und Aktivismus, von Anerkennung in einem spezifischen Feld elitärer Produktions- und Rezeptionsverhältnisse auf der einen und dem universellen Anspruch auf gesellschaftliche Transformation auf der anderen Seite. Auch Pissarros Bilder können beispielhaft sein: für die verschiedenen Lesweisen, die sich je nach Standpunkt der Betrachtenden ergibt.
Autonomisierung
als Errungenschaft
Er vertrat ein Kunstverständnis, in dem Kunst nicht in Propaganda aufgehen aber dennoch politisch sein sollte. Mit ihren eigenen Mitteln. Als impressionistischer Maler war Pissarro Teil jener Revolution innerhalb der Kunst, die der Soziologie Pierre Bourdieu (2) die Autonomisierung des Kunstfeldes genannt hat: Die Künstlerinnen und Künstler hatten, mit Hilfe ihnen wohlgesonnener Journalist*innen und Schriftsteller*innen, erkämpft, dass künstlerische Produktionen nach rein künstlerischen Wertmaßstäben zu beurteilen seien – und nicht nach Tiefe moralischer und Höhe religiöser Botschaften oder gar dem finanziellen Wert der verwendeten Materialien. Auch die Verkäuflichkeit auf dem Kunstmarkt sollte kein Kriterium für gute Kunst sein.
Der Kunst ihre eigenen Maßstäbe, das war also eine Errungenschaft. Gleichzeitig aber mussten die Künstler*innen, nachdem Staat und Kirche als Auftraggeberinnen und Kunstrichter weggefallen bzw. entmachtet worden waren, sich auch um das Ausstellen und den Verkauf ihrer Bilder kümmern.
Auch das taten die Impressio-nist*innen mit zunehmendem Geschick. Sie organisierten eigene Ausstellungen und vermittelten sich gegenseitig Sammler*innen, häufig wohlhabende Bürger*innen, die, wie bis heute, ihre soziale Lage mit in Bilder materialisiertem kulturellem Kapital zu garnieren begannen. (3)
Künstler*innen als Outlaws
Dass vielen Künstler*innen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trotz bürgerlicher Herkunft, zunächst das ökonomische (im Gegensatz zum kulturellen) Kapital fehlte, entsprach durchaus dem Selbstbild: Wie gute Kunst nichts mit Verkäuflichkeit zu tun haben sollte, so sollte es auch für die Künstler*innen sein: Bis in die 1960er Jahre sahen sich am Markt erfolgreiche Künst-ler*innen diesem Selbstbild entsprechend dem Vorwurf des Verrats am Künstlerideal ausgesetzt. Aus der finanziellen Not musste also eine moralische Tugend gemacht werden. Die tendenziell strukturelle Armut wurde zur individuellen Entscheidung umgedeutet. Programmatisch setzte beispielsweise der ebenfalls dem Anarchismus sehr nahe stehende Maler Paul Signac (1863–1935) einen asketischen Lebensstil mit Tugend und moralischer Integrität gleich. Aus dem ökonomischen wird, dieser Logik folgend, zudem ein politisches Abseits konstruiert und proklamiert: „Außenseiter zu sein ist, wie er [Signac] erläutert, ein Merkmal, das die neo-impressionistischen Künstler mit den Anarchisten verbindet.“ (4)
Auch dieses Selbstbild war sicherlich in erster Linie ein Bild, eine politische Selbstverortung, die soziale aber auch kulturelle Ungleichheiten eher verschleierte als angriff. Selten konnten bürgerliche Künstler*innen, wie Michael Halfbrodt in einem Aufsatz zum Verhältnis von Kunst und Anarchismus meint, zwischen einer proletarischen, autodidaktischen und alltagsnahen „anarchistischen Kunst“ auf der einen und dem sich an der bürgerlichen Herkunftsklasse in Rebellion abarbeitenden „Kunstanarchismus“ auf der anderen Seite vermitteln. Während es den proletarischen Milieus eher um Formen „gegenkultureller Selbstvergesellschaftung“ (5) ging, hatten „Kunstanarchisten“ wie Pissarro häufig gerade mit der Aufrechterhaltung und Ausgestaltung der Kunstautonomie zu tun.
Diese Autonomie der Kunst, verstanden als nach eigenen, unabhängigen Kriterien der Wertschätzung funktionierenden Regeln, war letztlich auch, so paradox es klingt, für den Erfolg auf dem Markt grundlegend. Nur ein (nach künstlerischen Kriterien) künstlerisch wertvolles Bild kann auch finanziell wertvoll werden. („Künstlerische Kriterien“ können sich beispielsweise aus der Verarbeitung kunsthistorischer Bezüge, der Entwicklung ausgefallener Methoden, der gewieften Verwendung althergebrachter Mittel etc. speisen.)
Nicht jede finanziell wertvolle künstlerische Arbeit ist deshalb aber künstlerisch besonders wertvoll und umgekehrt ist auch nicht jedes künstlerisch anspruchsvolle Ensemble oder Bild besonders teuer. Das Verhältnis zwischen ökonomischem und symbolischem Wert künstlerischer Arbeiten ist komplex. Es muss etwas für die Wertschöpfung getan werden. Wertsteigerung geschieht nicht von selbst, sondern in einem Wechselspiel aus Kritiker*innenmeinung, Mu-seumstauglichkeit, Galerist*in-nengeschick, Anschlussfähigkeit künstlerischer Techniken u.v.a.
Anarchist*innen
als Networker
Pissarro war, wie andere Anar-chist*innen auch, ein Netzwerker, als engagierter Intellektueller organisierte er neben Ausstellungen auch politische Gesprächszirkel. Das politische Engagement ging mit einem unternehmerischen einher. (6) Der private Kunsthandel wurde besonders von den Impressio-nist*innen selbst forciert. Dieter Scholz stellt in seiner Studie zum Anarchismus im Kunstfeld Pissarros Werdegang auch als einen des zunehmenden Markterfolges dar: „So konnte etwa Camille Pissarro 1861–70 nur 9 Bilder im Salon zeigen, 1871–80 stellte er 25 bei den Impressionisten und 2 in Privatgalerien aus, 1881–90 wieder 23 bei den Impressionisten, aber 14 im Galerienzusammenhang, 1891–1900 sogar 136 in Galerien und 4 im Museum, 1901–10 schließlich 43 nur noch bei Galeristen.“ (7)
Das Prinzip des Do It Yourself hängt so einerseits an den libertär-sozialistischen Prinzipien der dezentralen Organisation und der Selbstverwaltung, ist aber auch nicht ganz loszulösen von der unternehmerischen Prämisse der Eigenverantwortlichkeit. In dieser Doppelbödigkeit liegt sicherlich auch eine Erklärung dafür, dass und inwiefern sich das Selbstbild des Künstlers bzw. der Künstlerin vom Outsider- zum Role-Modell wandeln konnte: Wie Isabelle Graw in Übereinstimmung mit Sozial-wissenschaftler*innen von Zygmunt Bauman über Luc Boltanski, Ève Chiappello bis Richard Florida formuliert, ist der Mythos des erfolgreichen Künstlers als kreativem und individualisiertem Ausnahmewesen zum Leitbild des Neoliberalismus geworden (8): Flexibel, mobil, vor allem kreativ und mit dem ganzen Leben im Einsatz.
In einem Kunstbetrieb, in dem das „unternehmerische Selbst“ (Ulrich Bröckling) zum Leitbild nicht nur im eigenen Kreise, sondern für die gesamte Gesellschaft geworden ist, und in dem alles immer schon viel informeller und deregulierter geregelt wurde als anderswo, da werden aus den ehemaligen Rebell*innen auch tendenziell Duckmäuser und Schleimerinnen. Denn wer jede Institution als potenziellen Praktikumsplatz oder Ausstellungsort und jede noch so gegenläufig arbeitende Kollegin als mögliche Projektpartnerin betrachten muss, der/die wird sich mit fundamentaler Kritik zurückhalten. Allerdings, und da schütten Leute wie Graw den Warhol mit der Siebdruckfarbe aus, sie schießen übers Ziel hinaus, wenn sie daraus schließen, die Kämpfe im Feld der Kunst – in denen Positionen ausgefochten werden nicht nur in dem Sinne, sich und anderen Arbeitsplätze zuzuschanzen oder abzuwerben, sondern auch in dem, was gute Kunst ist und was nicht – seien abgelöst worden durch Kooperationen und es gebe keine Feinde mehr.
Hier ließe sich von Pissarro lernen. Der eigene Markterfolg hielt ihn keineswegs davon ab, politisch Stellung zu beziehen. Empört äußert er sich in einem Brief über die Haltung des realistischen Malers Jean-Francois Millet (1814–1875) zur Pariser Commune 1871. Anstatt in der Kommune die „autonome lokale Einheit, eingelassen in einen internationalistischen Horizont“ (9) zu sehen, wie die Historikerin Kristin Ross sie beschrieben hat, beschimpfte Millet, den viele Sozialist*innen wegen seiner Darstellungen der Arbeit armer Leute für einen der ihren hielten, die Kommunard*innen als Barbaren und Vandalen. Pissarro verteidigt die Kommune, selbst nahm er aber – im Gegensatz zu Courbet und anderen Künstler*innen – nicht an ihr Teil. Er war nach England geflohen, nach Aussagen seines Sohnes aus Angst, wegen seiner Nähe zum Anarchismus verhaftet zu werden. (10)
Auch wenn seine bürgerlichen Privilegien selten zur Disposition standen, machte Pissarro aus seiner libertär-sozialistischen Haltung keinen Hehl: Er unterstützte, moralisch und finanziell, staatlicher Repression ausgesetzte Anarchist*innen. Und anders als andere Impressionist*innen (Degas und Renoir) machte er sich in der Dreyfuss-Affäre gegen Antisemitismus stark. Wenn also das Ansehen im künstlerischen Feld den Marktwert so sehr steigern kann, warum dann nicht auch die politischen Effekte? Pissarros Netzwerkaktivitäten dienten keinesfalls bloß dem eigenen Profit, sondern sie schufen auch Möglichkeiten für politische Artikulationen. Damit geht er in gewisser Weise über das „Modell Courbet“ (Gerald Raunig) hinaus, der Kunst und Politik eher abwechselnd statt miteinander verschmelzend betrieb. (11)
(1) Isabelle Graw: Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur. DuMont, Köln 2008.
(2) Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2001.
(3) Vgl. dazu auch Pierre Bourdieu: Manet. Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998–2000. Suhrkamp, Berlin 2015.
(4) Dieter Scholz: Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840-1920. Reimer Verlag, Frankfurt a. M. 1999, hier S. 156.
(5) Michael Halfbrodt: „Kritik der Trennungen. Eine historisch-soziologische Skizze zum Verhältnis von Anarchismus und Kunst“. In: Graswurzelrevolution (Hg.): Gewaltfreier Anarchismus. Herausforderungen und Perspektiven zur Jahrhundertwende. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 1999, S. 125-152, hier S. 127.
(6) Vgl. Ulf Wuggenig: „‘Kreativität und Innovation‘ im 19. Jahrhundert. Harrison C. White und die impressionistische Revolution – erneut betrachtet“. In: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität. Verlag Turia + Kant, Wien 2007, S. 219-236.
(7) Scholz 1999, S. 99.
(8) Vgl. Jens Kastner: „Ist die Linke schuld am Neoliberalismus? War die Revolte von ’68 eine Wellnesskur für einen müde gewordenen Kapitalismus? Über das Erbe der einstigen Avantgarde-Bewegung und die Modellfunktion des Künstlers für die moderne Arbeitsgesellschaft streiten sich die Kulturtheoretiker noch“. In: Jungle World, Berlin, Nr. 35, 27. August 2009, dschungel, S. 6-8, https://jungle.world/artikel/2009/35/ist-die-linke-schuld-am-neoliberalismus
(9) Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune. Matthes & Seitz, Berlin 2021, S. 12.
(10) Vgl. Timothy J. Clark: Der absolute Bourgeois. Künstler und Politik in Frankreich 1848 bis 1851. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 274. Hier findet sich auch der Auszug aus dem besagten Brief Pissarros, vgl. ebd. S. 109.
(11) Vgl. Gerald Raunig: Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert. Verlag Turia + Kant, Wien 2005, S. 108.
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