Sie sah in der Pariser Commune ein Modell für eine neue freiheitlich-sozialistische GesellschaftSeit November 2024 erscheint in der Graswurzelrevolution eine Artikelserie von Gisela Notz über unbekannte und bekannte Anarchistinnen. In GWR 493 stellte sie uns Zenzl Mühsam vor, in der GWR 494 im Dezember 2024 Margarethe Hardegger. Diesmal erzählt die feministische Historikerin und Sozialwissenschaftlerin die Geschichte der Anarchistin und Pariser Communardin Nathalie Lemel. (GWR-Red.)
Bevor Nathalie Lemel 1871 auf den Barrikaden der Pariser Commune stand, war sie bereits eine radikale Anarchistin und Feministin. Sie war aktives Mitglied der Pariser Frauenclubs, hatte zwei Genossenschaften gegründet, drei Kinder bekommen, sich an großen Streiks beteiligt, war namhafte Gewerkschaftsfunktionärin geworden und der Internationalen Arbeiterassoziation beigetreten. Nach der Niederschlagung der Pariser Commune wurde sie mit Louise Michel (1830–1905) (1), Henry Rochefort (1831–1913) und anderen Kommunard*innen nach Neukaledonien im Pazifik deportiert. Im Zuge der Generalamnestie für die Revolutionär*innen kehrte sie 1879 nach Frankreich zurück und führte ihre politische Arbeit weiter.
Kindheit, Jugendjahre und erste politische Arbeit
Nathalie Duval wurde am 26. August 1827 in Brest (Finistère) in der Bretagne geboren. Ihre Eltern betrieben dort ein Café. Im Alter von zwölf Jahren verließ sie die Schule, um als Buchbinderin Geld zu verdienen. 1845 heiratete sie Jérôme Lemel, ebenfalls ein Buchbinder. Mit ihm bekam sie drei Kinder. Nachdem die gemeinsam geführte Buchbinderei in Quimper in der Bretagne 1861 bankrottgegangen war, begaben sich beide auf die Suche nach einer neuen Existenzgrundlage. Durch den Ortswechsel nach Paris hofften sie, nicht nur eine bezahlte Arbeit zu finden, sondern sich auch politisch engagieren zu können. Nathalie verkaufte Bücher und begann, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Durch dieses Engagement lernte sie die Not der Arbeiter*innen kennen. Die Erkenntnis, dass sich die Verhältnisse ändern müssten, führte dazu, dass sie in den 1860er Jahren zur aktiven revolutionären Sozialistin wurde. Während der Streiks der Mitglieder der Buchbindergewerkschaft 1864 verstärkte sie ihre Aktivitäten. Sie trat 1865 der Pariser Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), auch bekannt als Erste Internationale, bei. Als ein erneuter Streik der Pariser Buchbindergewerkschaft ausgerufen wurde, engagierte sie sich als Mitglied im Streikkomitee, wurde zur Gewerkschaftsdelegierten und zur Vertrauensperson gewählt und war bald eine führende Person der Pariser Sektion der IAA. Ihr Hauptanliegen war es, gleiche Rechte und gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer durchzusetzen. Sie ging in die Werkstätten, um die Arbeitenden, die längst nicht alle lesen und schreiben konnten, zu schulen und ihnen aus Gewerkschaftszeitungen vorzulesen.
Kämpferin der Pariser Commune
Die Trennung vom Vater ihrer Kinder schadete ihrem Ruf, denn Scheidungen waren verpönt, besonders wenn sie von Frauen ausgingen. Zudem hatten die Ordnungshüter die militante Kämpferin, die nun auch noch ohne männlichen Schutz war, schon lange im Visier. Nathalie jedoch nutzte die so erlangte Freiheit, um ihr politisches Engagement zu intensivieren. Gemeinsam mit einigen anarchistischen Buchbinder*innen und IAA-Genoss*innen gründete sie 1867 die Konsum-Genossenschaft „La Ménagère“ („Die Hausfrau“). Die Gründung wurde ein voller Erfolg, weil vor allem die Genossinnen den Vorteil, preiswerte Lebensmittel einzukaufen, für sich nutzten. 1868 folgte die Restaurant-Genossenschaft „La Marmite“ („Der Topf“), die gutes und preiswertes Essen für Arbeiterfamilien anbot und in einem Versammlungsraum politische Veranstaltungen durchführte, um Arbeitergenossenschaften zu vernetzen und für die Internationale zu werben. Nathalie Lemel war darum bemüht, der Genossenschaftsbewegung ein politisch-sozialistisches Profil zu geben. Mit ihrer anti-bourgeoisen Grundhaltung wurde sie zur wichtigen Stütze der Pariser Commune.
Die Zeit war reif, denn es rumorte schon lange in Frankreich, besonders in Paris. Die Versprechungen der großen Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – waren nicht umgesetzt. Von Schwesterlichkeit war ohnehin keine Rede. Das Proletariat hatte seit Langem für die Republik gekämpft. Aber die soziale Lage besserte sich nicht. Zuletzt führte der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 zur Niederlage Frankreichs. Unter der Belagerung der Deutschen ging es den Pariser*innen nach dem Krieg schlecht. Die Situation in Paris wurde immer bedrohlicher. Der Ruf nach einer Commune in Anlehnung an die Revolution von 1789/99 wurde unter den republikanisch, sozialistisch und anarchistisch Gesinnten immer lauter.
Am 17. März 1871 wollten Regierungstruppen Paris entwaffnen. Aber die Soldaten verweigerten den Befehl, auf die Bürger*innen zu schießen. Als am 18. März 1871, nachdem die Regierung nach Versailles geflohen war, der Aufstand der Pariser Commune begann, war Nathalie Lemel bereits überzeugte Anarchistin und engagierte sich sofort in der Commune. Sie sah in ihr ein Modell für eine neue sozialistische Gesellschaft. Sie hielt Reden, vor allem um Frauen zu aktivieren, die bald eine wichtige Rolle beim Communeaufstand spielten und mit einem eigenen Appell an die Öffentlichkeit traten.
Als der Aufstand der Pariser Commune begann, war Nathalie Lemel bereits überzeugte Anarchistin und engagierte sich sofort in der Commune. Sie sah in ihr ein Modell für eine neue sozialistische Gesellschaft.
Bereits während der Belagerung wurde das 1.800 Mitglieder zählende „Comité des Femmes“ als Zusammenschluss der politisch interessierten Frauen gegründet, dem auch Nathalie angehörte. Nachdem es zu Differenzen gekommen war und die russische Sozialistin Elisabeth Dmitrieff eine eigene Organisation gegründet hatte, die „Union des Femmes pour la défense de Paris et les soins aux blessés“, die überwiegend aus Arbeiterinnen bestand, beteiligte sich auch Nathalie an dieser Gruppe, die zur größten und einflussreichsten Frauengruppe zur Zeit der Pariser Commune wurde.
Die Commune hatte sich anspruchsvolle Ziele gesetzt, die sie in Dekreten festhielt und zügig mit deren Umsetzung begann. Es waren politische, soziale, bildungspolitische und ökonomische Maßnahmen, wie die Abschaffung des stehenden Heeres, unentgeltliche Schulbildung, Kürzung der Beamtengehälter zu einem durchschnittlichen Arbeiterlohn, Übergabe der von den Besitzern verlassenen Fabriken an Arbeitergenossenschaften, gleiche Rechte und Löhne für beide Geschlechter, Trennung von Staat und Kirche, Konfiszierung von Kirchengütern, Einführung fairer Mieten.
Mögliche und nötige Maßnahmen wurden zuerst in den Clubs und Kommissionen der Stadtbezirke, in den Genossenschaften und Gewerkschaften diskutiert und dann in der Commune beschlossen. Die neue Stadtverwaltung setzte sich zum großen Teil aus Arbeitern und kleinen Angestellten zusammen. Strenge Vorschriften gab es zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Um das Eindringen von Spitzeln aus Versailles zu unterbinden und um Trunksucht und Prostitution, die als sittenwidrig galt, einzudämmen, wurde eine nächtliche Ausgangssperre angeordnet. Nathalie Lemel organisierte während dieser umtriebigen Zeit Revolutionsküchen, brachte Essenskörbe zu den Soldaten, wurde Mitglied des Zentralkomitees der Union des femmes, verfasste Aufrufe an die Frauen zur Unterstützung der Commune, versorgte mit ihren Mitstreiterinnen Verwundete und kämpfte selbst auf den Barrikaden gegen die Polizei.
Als die Kommunard*innen Paris übernahmen, ging die Macht in die Hände von Gemeinderäten über. In der demokratisch gewählten Selbstverwaltung waren 92 Abgeordnete unterschiedlicher politischer Optionen vertreten (Sozialisten, liberale Bürgerliche, Anarchisten). Frauen hatten keine Positionen inne, sie hatten kein Wahlrecht. Die Gemeindevertretung blieb nur zehn Wochen im Amt.
Gefangenschaft und Verbannung
Nur 72 Tage konnte sich die Pariser Commune halten. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen der Versailler Regierung und dem Deutschen Kaiserreich am 10. Mai 1871 in Frankfurt am Main war der Weg für die Armee der Versailler frei, Paris zu erobern. Am 21. Mai 1871 begann die Besetzung der Stadt durch Versailler Regierungstruppen. Während dieser Zeit kämpfte Nathalie Lemel auf den Barrikaden in der Nähe des Place Blanche in der Rue Jean-Baptiste-Pigalle und versorgte Verletzte. Die französische Regierung ließ die Commune durch ihr Militär grausam zerschlagen. So begann die als „Blutwoche“ (21. bis 28. Mai 1871) in die Geschichte eingegangene letzte Phase der Pariser Commune. 582 Barrikaden wurden errichtet, einige durch Frauen, standhalten konnten sie alle nicht. Etwa 30.000 Menschen wurden umgebracht, rücksichtslos und ohne Gnade: Barrika-
denkämpfer*innen, Ärzt*innen, Sanitäter*innen, Zivilist*innen, die sich zufällig auf der Straße befanden, oder Unbeteiligte, die mit Kommunard*innen verwechselt wurden. Wer nicht umgebracht wurde, wurde eingekerkert. Die Anklagepunkte und Urteile wurden selbst aus Sicht der Bourgeoisie angezweifelt. 9.000 Menschen wurden zu Gefängnis oder Verbannung verurteilt. In den Gefangenenkolonien starben zahleiche Kämpfer*innen. Die Gerichtsakten der Prozesse im Anschluss an die Commune weisen geringere Zahlen aus: 270 Menschen wurden offiziell hingerichtet, darunter acht Frauen. Unter den 410 zur Zwangsarbeit Verurteilten waren 29 Frauen, unter den 7.496 Deportierten 36 Frauen, darunter Nathalie Lemel und Louise Michel.
Beide wurden nach langen Prozessen zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Neukaledonien nordöstlich von Australien im Pazifik verbannt. Einem Gnadengesuch, das Freunde bei den Behörden für Nathalie Lemel gestellt hatten, verweigerte sie sich. Sie wurde an Bord des Schiffes „La Virginie“ gebracht. Dort traf sie auf die Kommunard*innen Henri Rochefort und auf Louise Michel. Gemeinsam mit Louise Michel trat sie für eine Verbesserung der Haftbedingungen und für die Gleichbehandlung der Geschlechter ein. Sie kamen fünf Tage nach den Männern am 14. Dezember 1873 auf der Halbinsel Ducos an, wo sie sich dieselbe Gefängniszelle teilten.
Rückkehr nach Frankreich, Weiterarbeit und tragisches Ende
Im Zuge der Generalamnestie für die Revolutionär*innen kehrte Nathalie Lemel 1879 nach Frankreich zurück und arbeitete bei der Zeitung L’Intransigeant, die Henri Rochefort herausgab. Mit dieser Arbeit setzte sie ihren Kampf für die Rechte der Frauen fort. Als Rochefort seine revolutionäre Haltung aufgab und sich dem Boulangismus zuwandte, der mit seinem Populismus als Wegbereiter der Neuen Rechten in Frankeich galt, kündigte sie ihre Stelle und lehnte auch eine von ihm bezahlte kleine Rente ab. Im Alter lebte Nathalie in sehr bescheidenen Verhältnissen. Gänzlich erblindet starb die letzte Überlebende der Commune am 8. Mai 1921 in einem Hospiz in Ivry-sur-Seine im Val-de-Marne.
(1) Siehe Artikel zu Louise Michel in dieser Graswurzelrevolution.
Literatur:
Hella Hertzfeldt: Nathalie Lemel (1827-1921), in: Gisela Notz (Hrsg.): Wegbereiterinnen XX. Kalender 2022, Kalenderblatt Mai, AG SPAK Bücher, Neu-Ulm.
Hella Hertzfeldt /Gisela Notz: Die Frauen in der Pariser Kommune, in: Lunapark21 H.53/2021. S. 70-72.
Gisela Notz: Nathalie Lemel (1827-1921), in: Thomas Friedrich (Hrsg.): Handbuch Anarchismus, Springer, Wiesbaden, im Druck.