Wie aus Arbeiter*innen Nationalist*innen wurden

| Peter Nowak

Darko Cvijetić: Schindlers Lift, Adocs Verlag, Hamburg 2020, 100 Seiten, 15 Euro, ISBN 9783943253344

„Beim Einzug 1975 rochen die beiden Hochhäuser noch nach Baustelle. Das rote hatte 13 Etagen. Um das Unglück nicht heraufzubeschwören, benannten die Bewohner*innen die erste Etage um in ‚Galerie‘. Bevor sie zu den Hochhäusern des Todes wurden, feierte man hier gemeinsam Errungenschaften und Erfolge der Arbeiterklasse und übte sich in Solidarität. Denn dort wohnten Lehrerinnen und Ärzte neben Bergarbeitern, Bosniaken neben Serben, Kroaten … – ein phantastisch verdichtetes Bild Jugoslawiens und des multikulturellen Bosniens. Die Aufzüge waren für die Be-wohner*innen ein Zeichen der Urbanisierung und des städtischen Lebens.“
So beschreibt der bosnische Schriftsteller Darko Cvijetić in seinem Roman „Schindlers Lift“ den Einzug der jugoslawischen Moderne in den kleinen bosnischen Ort Prijedor. Bezahlbare Wohnungen mit Zentralheizung und Badezimmer waren eine Errungenschaft, die alten schwer heizbaren Bruchbuden mit Außenklo sollten endlich der Vergangenheit angehören. Es sollte weder Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufen noch zwischen den unterschiedlichen Ethnien geben. Die beiden Hochhäuser waren eine jugoslawische Welt im Kleinen. Diese Welt war nicht perfekt, es gab autoritäre Herrschaftsstrukturen um Tito und seinen Machtzirkel. Es gab aber auch das egalitäre Jugoslawien, viele Bauwerke aus dieser Zeit zeugen noch davon. Doch dieses Jugoslawien existiert nicht mehr. Wie es durch den Nationalismus im Inneren zerstört wurde, das beschreibt Cvijetić in einer sprachlichen Intensität, die die Leser*innen in ihren Bann schlägt.
Knapp 18 Jahre nach der Einweihung ist der nationalistische Terror in den Hochhäusern von Prijedor angekommen. Deren Fahrstühle begleiteten jetzt „unerwünschte Bewohner*innen zur Hinrichtung“. Auch das beschreibt Cvijetić ohne jegliche Phraseologie. „Noch vor jenem Morgen, als der Krieg eiskalt und robust in die Straße und damit in das Hochhaus kam, da hatte er für die Hälfte der Nachbarn bereits eine gute Weile gedauert – in ihren Köpfen und ihren Seelen.“
Selten kann man in solcher Klarheit lesen, wie Nationalismus und Krieg aus den Menschen Kampfmaschinen machten, die ohne zu zögern, die eigenen Nachbar*innen quälten, misshandelten, demütigten und ermordeten, nur weil sie plötzlich zur „falschen“ Ethnie gehörten.
Wenn diese Kampfmaschinen damit fertig waren, richteten sie die Aggressionen gegen sich selbst. „Sie kehrten zurück, betrunken, am Boden zerstört, halb verrückt, bewaffnet, wütend.“ Viele lebten danach nicht mehr lange. Sie fielen betrunken von Balkonen, starben jung an Herzinfarkten oder bei Autounfällen. In 32 Fragmenten beschreibt Cvijetić diesen blutigen Prozess von Zerstörung und Selbstzerstörung.
Prijedor wurde Anfang der 1990er Jahre zu einen der Zentren des nationalistischen Irrsinns.
Auf Wikipedia können wir darüber in einer sachlichen Büro-krat*innensprache lesen: „Während des Bosnienkriegs nahmen ab Mai 1992 serbische Truppen sogenannte ethnische Säuberungen an der muslimischen und kroatischen Zivilbevölkerung vor. In der Nähe befanden sich die Lager Omarska, Kereaterm und Tmopolje. In der Umgebung von Prijedor wurden 4.000 – 5.000 Bosniaken (85 %) und Kroaten (15 %) ermordet“.
Cvijetić gelingt es aus diesen nackten Fakten die beklemmende Geschichte dieser beiden Hochhäuser zu formulieren, die zu Orten des Terrors wurden. Er beschreibt auch, wie das Klassenbewusstsein vom Nationalismus zerfressen wurden. „Es gibt keine Arbeiter mehr. Es gibt nur noch Serben, Kroaten, Bosniaken und Andere. Keine Arbeiter. Die Arbeiter versanken in die Nation und blieben mit Lungen voller Wasser am Boden.“
Selten hat jemand so eindringlich beschrieben, wie der Nationalismus und Militarismus eine Gesellschaft zerstört. Die Lektüre ist auch deshalb zu empfehlen, weil es heute auf allen Kontinenten diese Prijedors gibt, Orte an denen Militarismus und Nationalismus zu triumphieren scheinen.
Das Buch liefert keine Lösungen. Aber Cvijetić findet die richtigen Worte, um den Einbruch der Barbarei zu beschreiben.