Antimilitaristisch gegen Querfront und Staatsräson

Nicht-staatliche Perspektiven für ein entmilitarisiertes Israel-Palästina. Nationalismus verabschieden!

| Gerhard Hanloser / Wolfram Beyer

Am 2. Februar 2025 beschloss der Bundestag auf Initiative der CDU/CSU gemeinsam mit SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP eine Resolution: „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern.“ Kritiker*innen sehen in dieser Resolution, mit den vorgeschlagenen Maßnahmen, z. B. der möglichen Exmatrikulation von Studierenden, ein Eingriffsrecht des Staates gegen die Autonomie der Universitäten und die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit.

Ein Beispiel für diesen besorgniserregenden Trend folgte prompt: Nach Druck aus der Politik hat die Freie Universität Berlin die für den 19. Februar 2025 als öffentliche Präsenzveranstaltung geplanten Vorträge der Völkerrechtswissenschaftlerin und UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, und des israelischen Architekten Prof. Eyal Weizman abgesagt. Eine Woche zuvor hatte schon die Ludwig-Maximilians-Universität München einen Vortrag von Francesca Albanese untersagt.
Die oben genannte Bundestags-Resolution nimmt Bezug auf die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die 2016 verabschiedet wurde. Diese bietet eine sehr vage und unfassbare Definition von „Antisemitismus“ an. Im April 2023 kritisierten 60 Menschenrechtsorganisationen und NGOs die IHRA-Definition, da sie häufig dazu verwendet werde, Kritik an Israel als „antisemitisch“ zu verunglimpfen. Bereits im März 2021 hatten renommierte Holocaust- und Antisemitismusforscher*innen sowie Vertreter*innen anderer benachbarter Fächer eine „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA) verfasst. Sie liefert eine weit klarere Definition von Antisemitismus, die Kritik an Israel und selbst antizionistische Positionen als etwas wesentlich anderes darstellt und diskutiert. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, der neben 150 weiteren Aka-de-miker*innen aus der ganzen Welt die Jerusalemer Erklärung mitträgt, hatte in seinem Buch „Streitfall Antisemitismus“ die Einführung der IHRA-Definition genauer nachgezeichnet, wonach diese in der Alliance von mächtigen israelischen Interessenvertretern durchgesetzt wurde. Die Unterzeichner*innen des JDA-Textes konstatieren, dass „wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina“ bestehe. Indes gibt es viele Gruppen, die aus interessierten Gründen eine Verwischung gerade beabsichtigen. Dies hat sich mit dem Krieg Israels gegen Gaza nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 weiter zugespitzt. Antizionismus, Antisemitismus und Israel-Kritik werden so gerne zusammengeschoben, um laute Stimmen, die gegen das kriegsverbrecherische Vorgehen Israels in den Gebieten von Gaza und dem Westjordanland protestieren, zum Verstummen zu bringen. Der oft mit der IHRA-Definition verbundene sogenannte „3-D-Test“, den der israelische Politiker und Wissenschaftler Natan Sharansky entwickelt hat, behauptet, dass bei „Dämonisierung“, „Delegitimation“ und angelegten „Doppelstandards“ in Bezug auf Israel antisemitische Sprechhandlungen und keine legitime Kritik an Israel vorliegen würden. Dies ist alles andere als ein treffsicheres Urteil oder gar eine wissenschaftlich valide Herangehensweise an politische Positionen, die sich zu Israel äußern. Stimmen, die vor einer genozidalen Kriegsführung Israels gegen Gaza warnten und warnen, wurden so über die Behauptung, sie würden eine „Dämonisierung“ Israels betreiben, in die antisemitische Ecke geschoben.
Merkwürdige Friedensfreund*innen

Am 29. Januar 2025 veröffentlichte der Landesverband Berlin-Brandenburg der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen (DFG-VK) ein Statement gegen das bundesweite Bündnis „Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel. Das Töten endlich beenden, Waffenexporte stoppen!“ Am 15. Februar 2025 veranstaltete das Bündnis Kundgebungen in Berlin, Köln und Nürnberg.
In Berlin organisierte die Berliner DFG-VK neben ihrem Statement eine Gegenkundgebung und formulierte den Vorwurf, dass das Bündnis im Gewand des Friedens und der Menschenrechte Antisemitismus und Hass auf Israel schüre. In polemischen Vorwürfen wurden Organisationen wie Amnesty International, Pax Christi und der eigene Verband kritisiert. Das nahm der DFG-VK-Bundessprecher*innenkreis zum Anlass zu einer Erklärung, die die Vorwürfe aufs Schärfste zurückwies. Der Landesverband Berlin-Brandenburg der DFG-VK wurde dazu aufgerufen, die Vorwürfe fallen zu lassen und die Gegendemonstration abzusagen. Dieser lies jedoch nicht davon ab. In einem Flyer, den die DFG-VK Berlin-Brandenburg zusammen mit der „Mahnwache gegen jeden Antisemitismus“ und der Antimilitaristischen Aktion Berlin (amab) verfasst hat, agitiert sie gegen die Friedensdemonstration, zu der am 15. Februar knapp 1.000 Menschen vor das Bundeskanzleramt kamen. In dicken Lettern bekunden die Gruppen der Gegendemonstration, die wenige 50 Personen umfasste: „Gegen jeden Antisemitismus – Solidarität statt Hass! Gemeinsam gegen Desinformation“ und „Wir sagen NEIN zu Israelhass im Gewand des Friedens und der Menschenrechte!“
Wo allerdings in dem Aufruf von Amnesty International, medico international und anderen „Israelhass“ betrieben wird, worin die Desinformation bestehen würde, darüber schweigen sich Flyer wie der längere Aufruf aus – und stellen damit selbst Dokumente der Desinformation dar. Die Parole „Gegen jeden Antisemitismus“ folgt der klassischen Umwegskommunikation: Vordergründig spricht sie eine Banalität aus, denn natürlich ist eine Kritik aller Formen, Regungen und jeden Inhalts des Antisemitismus gerechtfertigt und notwendig. Gemeint ist mit „jeden“ jedoch, dass ganz im Geiste der IHRA-„Definition“ alles Mögliche, auch scharfe Kritik an Israel oder linker Antizionismus, zum Antisemitismus erklärt und denunziatorisch bekämpft werden darf. Die Gruppen haben sich einer anti-linken Mobilisierungspolitik verschrieben. Unter der Parole „gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit“ macht die offizielle deutsche Politik gegen internationale Anti-Kriegs-Solidarität zum Gaza-Krieg mobil. Diese Gruppen der Gegenkundgebung treiben das 2008 von der Bundeskanzlerin Merkel ausgegebene proisraelische Staatsverständnis in absurder Weise auf die Spitze: Aus Gründen deutscher Schuld sei es Staatsräson Deutschlands, sich bedingungslos hinter Israel zu stellen. Die kleine Gegendemo startete nicht ohne Grund mit dem geschichtsrevisionistischen Song der Antilopen-Gang „Oktober in Europa“. Der Songtext entsorgt deutsche Naziverbrechensgeschichte, indem er sie nach Nahost exportiert. Beliebiger Denunziationspolitik folgend klebt der Text radikalen Akti-vist*innen wie Greta Thunberg das Etikett „Antisemitin“ an.
Streng genommen stellte diese Gegendemonstration ein Statement dar, keinen gerechten Frieden in Palästina und Israel zu wollen, das Töten nicht zu beenden und Waffenexporte weiter laufen zu lassen.

Das Fortleben der
„Antideutschen“

Neu ist daran, dass diese antihumanen und autoritären Tendenzen der „deutschen Staatsraison“ von nominell pazifistischen beziehungsweise antimilitaristischen Gruppen aufgenommen wurden und verstärkt werden.
Bislang kennt man derartige Anwürfe gegen die Friedensbewegung von antideutschen Publizist*innen oder Gruppen. Diese formulierten, lange vor der Bundeskanzlerin, Merkels Bekenntnis zu Israel als „Staatsräson“, dass für sie „jede Kritik am Staat Israel antisemitisch“ sei (Joachim Bruhn) und behaupteten, die Friedensbewegung sei eine „deutsch-nationale Erweckungsbewegung“ (Wolfgang Pohrt), die nicht etwa die richtigen Lehren aus Faschismus und Zweitem Weltkrieg gezogen hätte, sondern ein antisemitisches und antiamerikanisches Anliegen verfolgen würde. Der Nahostkonflikt selbst geriet diesen „Antideutschen“ nur zur Projektionsfläche eigener Bedürfnisse. Voller Denunziationseifer unterstellten sie friedensbewegten Kräften, sie würden ganz andere, nämlich mörderisch-deutsche Absichten verfolgen. „Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder“, so eine beliebte antideutsche Parole gegen die Friedensbewegung.
Der Aufzug des DFG-VK-Landesverband Berlin-Brandenburg und der Teilnehmer*innen der Gegendemo bot so mit einer Mischung aus Israel-Fahnen, einer Antifaschistischen Aktions-Fahne und sogar einer schwarz-roten Fahne den wirren Mix, den „antideutsche“ bzw. „prozionistische Antifagruppen“ um 2003 erstmalig auf die Straße trugen. Diese Verwirrung hat Methode. Ging es damals um eine nachhaltige Zerstörung dessen, was der Inhalt antifaschistischen Handelns ist, so geht es nun um die Zerstörung des Antimilitarismus von innen heraus. Die Berliner Gruppe der DFG-VK folgt vollends einer Herrschafts- und Staatslogik, symbolisch sichtbar mit Israel-Fahnen. Sie stellt sich nicht solidarisch an die Seite der israelischen Kriegsdienst-verweiger*innen. Solidarität mit der israelischen feministisch-antimilitaristischen Organisation New Profile (siehe Artikel in GWR 496), der gemeinsamen Schwesterorganisation in der War Resisters‘ International (WRI), sucht man bei diesen merkwürdigen „Frie-densfreund*innen“ vergebens. Sie befinden sich in einer ganz anderen Bündniskonstellation, nämlich einer opportunistischen Querfront mit der Staatsräson.
Historisch betrachtet steht Querfront ursprünglich für den gescheiterten Versuch Kurt von Schleichers um 1932, gewerkschaftliche und SA-Kräfte in einer autoritären Regierung zusammenzuführen, um die Nazis zu spalten.
Weiter gefasst steht der Querfrontbegriff heute für politische Verwirrung und für das Umstülpen und Überschreiten bisheriger Lagerbildungen. Links und rechts kommt zusammen und findet sich – meist eher gedanklich-ideologisch als praktisch – in einer gemeinsamen Frontstellung. Die Berliner DFG-VK, die Mahnwache gegen jeden Antisemitismus und die Antimilitaristische Aktion Berlin (amab) sehen sich in erster Linie in harter Frontstellung zu friedenspolitisch motivierten Kampagnen und Demonstrationen. Sie befördern selbst Verwirrung, die sie bei anderen lauthals konstatieren, weil ihnen ein Verständnis von Herrschafts- und Machtstrukturen und daraus resultierender Parteilichkeit fehlt. Gegen Staatsräson, Zeitenwende und „Zeitenwende 2.0“ (Annalena Baerbock, 23. Februar 2025) haben sie nichts Prinzipielles einzuwenden. Strikt zu Ende gedacht, fallen sie nicht jenen, die die Waffen führen, liefern und bejubeln, in die Arme, sondern jenen, die sich an ziviler Konfliktlösung orientieren und einer Kritik militaristischen Denkens verschrieben haben. Sie bilden damit eine Pseudoopposition ganz nach dem Geschmack der aktuell herrschenden Politik.

Staatsräson und Nationalismus verabschieden

Staatskritik und Nationalismuskritik sind heute wichtig, insbesondere die Kritik an der autokratischen, nationalistischen und militarisierten Politik in Israel und Palästina gleichermaßen. Israelischer Nationalismus, verstärkt durch faschistische Politiker in der aktuellen israelischen Regierung und in der israelischen Gesellschaft stehen dem palästinensischen Nationalismus, verstärkt durch ultrareligiöse Politik gegenüber. Die Lage ist wenig hoffnungsvoll.
Die Zweistaatenlösung von Israel und Palästina als eine völkerrechtliche Befriedungspolitik oder „Friedensperspektive“ erscheint unrealistisch. Israels „Einstaatenlösung“ ist die Fortsetzung des Status Quo in Israel und wird gestützt von der Politik des neuen US-Präsidenten Trump, berücksichtigt dabei nicht die berechtigten Interessen der Palästinenser*innen und ist keine politische Lösung der andauernden Konfliktlage für Gaza und in den besetzten Gebieten.
Grundsätzlich anders sind dagegen nicht-staatliche Perspektiven für ein entmilitarisiertes Israel-Palästina, welche die Transformation hin zu einer Konföderation Israel-Palästina als gesellschaftspolitischen Prozess begreifen. Das ist politisch noch eine Utopie, erscheint aber als friedenspolitische Perspektive.
Diese Vorschläge sind aktuell nicht neu. Wir verweisen auf den ersten israelischen Kriegsdienstverweigerer Joseph Abileah (1915–1994), Mitglied der War Resisters‘ International (WRI). Er wollte, ähnlich wie die Gründer der Hebräischen Universität, Albert Einstein, Hannah Arendt und andere bereits mit der Staatsgründung Israels eine jüdisch-arabische Konföderation Israel-Palästina. 1947 legte J. Abileah einer UN-Kommission seine Konföderationspläne vor.
Ein föderalistischer Handlungsweg würde bestehen aus internationaler Solidarität mit israelischen und palästinensischen Basisgruppen, Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen, Kriegs-dienstverweigerer*innen, wie z. B. von New Profile. Initiativen der Versöhnung zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis als Grundlage einer auf Koexistenz basierenden Konföderation sind unerlässlich. Was schlussendlich umgesetzt wird, entscheiden die Gesellschaften in Israel-Palästina selbst.
Das Projekt von New Profile, welches die Entmilitarisierung der israelischen Gesellschaft und die Unterstützung von Kriegs-
dienstverweiger*innen zentriert, ist dringlicher denn je. Beispielhaft sind auch die direkten Aktionen der Gruppe „Anarchists against the wall“ und das palästinensische Bürgerkomitee von Bil’in, die 2008 von der Internationalen Liga für Menschenrechte mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet wurden, weil sie sich in besonderer Art und Weise für die Verwirklichung der Menschenrechte eingesetzt haben.

Gerhard Hanloser ist Historiker und wurde publizistisch bekannt mit seinen Büchern:
– Die andere Querfront, Skizzen des antideutschen Betrugs (2019)
und
– Linker Antisemitismus? (2020)

Wolfram Beyer ist Vorsitzender der Internationale der Kriegs-dienstgegner*innen (IDK), einer deutschen Sektion der War Resisters‘ International (WRI).