kleine unterschiede

Feminismus oder Tränengas?

Eine Bewegung mit der Kraft von wütender Würde

| Lisa Kopp

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8. März (8M), Oaxaca 2025. „Gerechtigkeit für Bernarday Rosy! Schluss mit der Straflosigkeit für Femizide!“ Foto: educaoaxaca

In Mexiko-Stadt, Oaxaca de Juárez und anderen Großstädten haben die mexikanischen Regierungsbehörden anlässlich des feministischen Kampftags am 8. März Regierungspaläste, Kathedralen und andere städtische Gebäude großräumig umzäunen lassen. Dem Frauenkampftag wurde mit Tränengas begegnet. Eine Einordnung.

Der politischen Gruppe „Vivas nos queremos“ (wir wollen leben) zufolge wurden die staatlichen Barrikaden errichtet, um die Demo des 8. März einzudämmen und die Teilnahme unter anderem für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Ältere und Kinder zu erschweren. Men-schenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen wurden in ihrer Arbeit eingeschränkt.

Während die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum für sich beansprucht, alle Frauen und Minderheiten mit ihrem Amt zu repräsentieren, stehen diese Barrikaden in krassem Widerspruch zur inklusiven Rhetorik der Regierung. Sie sollen die Demonstrierenden abschirmen, abgrenzen, ausschließen. Anstatt auf Gehör für ihre Anliegen, stoßen die Demonstrierenden auf eine stumme Wand. Stumme Wände der Gleichgültigkeit angesichts der grenzenlosen Gewalt gegen Frauen. Denn in Mexiko werden jeden Tag im Durchschnitt zehn Frauen ermordet. Und während der ersten 100 Tage von Sheinbaums Regierung wurden 1.259 Frauen als vermisst gemeldet. Dabei sollte doch unter einer Präsidentin alles anders werden.

„Llegamos todas“ legt die Widersprüche eines liberalen Feminismus offen, der vor allem auf Gleichberechtigung innerhalb des Systems abzielt, ohne die Grundfeste des Herrschaftssystems zu erschüttern. Oder anders gesagt: Anstatt den patriarchalen Thron zu stürzen, wird er bestiegen.

Die als links-feministisch geltende Präsidentin Claudia Sheinbaum hatte bereits im Jahr 2020 das Aufstellen von Zäunen am Nationalpalast, an öffentlichen Gebäuden, Denkmälern, Banken und Geschäften während feministischer Demonstrationen für gültig erklärt. Trotz ihrer kämpferischen Rhetorik gegen Gewalt an Frauen lehnte sie verschiedene Vorschläge feministischer Gruppen zur Verbesserung der Lage von Frauen und Queers ab. Auch kam es zu einer aktiven Ablehnung des Dialogs mit verschiedenen feministischen Gruppen, sowie der Inhaftierung von Mitgliedern des feministischen Schwarzen Blocks.

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„Es ist nicht normal, dass jede von uns eine Missbrauchsgeschichte hat.“
Foto: Lisa Kopp

Sheinbaum zog mit der Parole „Llegamos todas“ (Wir sind alle angekommen) ins Regierungsgebäude ein und behauptete im Sinne einer neoliberalen Repräsentationslogik, mit ihr seien dort auch alle anderen Frauen eingezogen – Macht übernommen, Ziel erreicht, angekommen. Das wird mittlerweile von Feminist*innen aufgegriffen und öffentlich als uneingelöstes Versprechen kritisiert. So lautete in verschiedenen Städten Mexikos ein präsenter Demospruch des Frauenkampftages 2025: „No llegamos todas“ – wir sind nicht alle angekommen. Als Reaktion auf die Errichtung der staatlichen Barrikaden anlässlich des 8. März teilten verschiedene feministische Gruppen Bilder in den sozialen Medien, auf denen sie die Barrikaden mit dem Spruch „Llegamos todas“ (Wir sind alle angekommen) verzierten und in Klammern hinzufügten: „Pero hasta aqui“ (Aber nur bis hier).
Die satirische Kritik zielt darauf ab, dass in Mexiko aus feministischer Perspektive die progressiven Veränderungen nicht ausreichen und auch unter der scheinbar linken, feministischen Präsidentin Claudia Sheinbaum weiterhin Ungleichheit und Diskriminierung herrscht, so die Worte der feministischen Gruppe „Brujas Insurrectas“ (Aufständische Hexen).

Wütende Würde

„Gleichberechtigung ist keine Gnade, die man Ihnen gewährt, sondern ein Recht, das Ihnen gehört“, so die mexikanische Aktivistin Hermila Galindo.
Mehr als 20.000 Arbeiter*innen, Transfeminist*innen, universitäre, akademisierte Feminist*in-
nen, Indígenas und weitere feministische Gruppen liefen Schulter an Schulter für eine Ende von Femiziden und Miss-handlungen und für die Legalisierung von Abtreibungen. Feministische Forderungen wurden verbunden mit Kämpfen gegen neoliberalen Extraktivismus und neokoloniale Ausbeutung und für indigene Sprachförderung, Bildung, den Erhalt indigener Gemeinden und eine gerechte territoriale Verteilung. Die Demonstrierenden forderten auch den Schutz von Men-
schenrechtsverteidiger*innen und ein Ende des Verschwindenlassens.
Die breite Allianz der Femi-nist*innen trug ihre Forderungen kraftvoll auf die Straße, um Gerechtigkeit zu fordern, für alle, die im patriarchalen System unterdrückt, misshandelt, getötet, entführt, ignoriert, ihrer Würde beraubt werden. Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn es Konsequenzen gibt. Und für diese Gerechtigkeit zog ein großer schwarzer, feministischer, wütender Block durch die Stadt, selbstbewusst und bereit, sich vor der Polizei und dem Staat zu behaupten. Sie kleisterten die Gesichter von Tätern an Wände und hinterließen eine gigantische Spur Graffiti von konkreten Forderungen und klarer Täterbenennung hinter sich. Eine Bewegung mit der Kraft von wütender Würde.
Anders als von der Regierung geplant, hielten auch die Barrikaden die Demonstrant*innen nicht auf – in Oaxaca beispielsweise mussten sie der wütenden Würde der Feminist*innen weichen.
Die Demoteilnehmer*innen sprühten ihre Forderungen, insbesondere die Forderung für das Recht auf Abtreibung, an die Wände der Kathedralen. Bei Auseinandersetzungen mit den Demonstrierenden setzte die Polizei Feuerlöscher und Tränengasmunition ein, welche sie vom Dach der Kathedrale aus in die Menge schoss. Die Polizei ist somit, im Auftrag der Regierung, aktiv gegen die feministischen Menschen-rechtsverteidiger*innen vorgegangen.
Der Einsatz von Tränengas wird von Seiten des Staates jedoch geleugnet. Die MORENA-Partei, und somit auch Claudia Scheinbaum, wird von vielen feministischen Strömungen weiterhin befürwortet. Als erste mexikanische Präsidentin, die in der öffentlichen Sphäre feministische Werte vertritt und auch manch feministischen Fortschritt vorangetrieben hat, bleibt sie für einige eine Hoffnungsträgerin.
Seit dem vergangenen Jahr wird nicht nur die Präsidentschaft von einer Frau bekleidet, sondern auch in weiteren politischen und gesellschaftlichen Schlüsselpositionen lässt sich eine wachsende Präsenz und Einflussnahme von Frauen beobachten. Diese zunehmende Repräsentation wird als Erfolg gedeutet, fraglich bleibt aber, ob damit auch tiefgreifende strukturelle Veränderungen eingeläutet werden, oder ob es sich eher um ein Oberflächenphänomen handelt, das zur Modernisierung der Macht beiträgt. Die Teilhabe an der Macht von einzelnen Frauen stellt noch lange nicht die patriarchale Macht im Ganzen in Frage. „Llegamos todas“ legt die Widersprüche eines liberalen Feminismus offen, der vor allem auf Gleichberechtigung innerhalb des Systems abzielt, ohne die Grundfeste des Herrschaftssystems zu erschüttern. Oder anders gesagt: Anstatt den patriarchalen Thron zu stürzen, wird er bestiegen.
Die 8. März-Demonstration wurde gewaltsam von der Polizei mit Stoßtrupps, Tränengas und dem Einsatz von Feuerlöschern unterdrückt, was Ausdruck der weitergeführten massiven und strukturellen Diskriminierung ist. „Wir werden nicht akzeptieren, dass wir immer wieder zu Opfern werden, indem wir vor der Justiz, die uns immer wieder im Stich lässt, Gerechtigkeit fordern“, so die Organisator*innen des 8. März in Oaxaca. Auch die Graffitis schmücken weiterhin die Wände und sind Beweis dafür, dass sich die wütende Würde nicht aufhalten lässt. Weder von Zäunen, noch von Barrikaden.

Literaturauswahl:

– Élodie Denis / Jonas Mary: Révise ta Philo avec les Super-Héros, Edition L‘Etudiante Paris 2023.

– Valerie Estelle Frankel: Superheroines and the Epic Journey. Mythic Themes in Comics, Film and Television, MacFarland and Co. Jefferson, North Carolina 2017.

– James Kakalios: Physik der Superhelden, Rowohlt Reinbeck bei Hamburg 2008.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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