Die Kraft von Utopia – Visionen einer besseren Welt

| Konstantin Wecker

Konstantin Wecker wurde am 1. Juni 1947 in München geboren. Er ist Autor, Schauspieler und einer der bekanntesten Liedermacher im deutschsprachigen Raum. Seit Jahren liest und unterstützt der Anarchopazifist und Utopist auch die Graswurzelrevolution. Das erste, dreiteilige GWR-Interview mit ihm erschien 2010 in GWR 348 (1), GWR 349 und GWR 350. Zuletzt haben wir im Dezember 2023 und Januar 2024 unter dem Titel „Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen“ in der GWR 484 und GWR 485 ein zweiteiliges Interview (2) von Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke mit ihm abgedruckt. Für die GWR 500 hat Konstantin uns den folgenden Auszug aus seinem voraussichtlich im September 2025 erscheinenden Buch „Der Liebe zuliebe“ (3) zur Verfügung gestellt. (GWR-Red.)

„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.“ Was für ein schöner, bewegender und großartiger Satz, den Ernst Bloch uns geschenkt hat in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung. Für Bloch ist Hoffen ein philosophisches Prinzip und zugleich eine soziale Praxis. Und so werden gesellschaftliche Entwicklungen seit Jahrtausenden maßgeblich von den Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben und eine gerechtere Welt vorangetrieben. Oder wie es der Münchner Filmemacher und Autor Alexander Kluge einmal formuliert hat: „Eine aktuelle Wirklichkeit besteht aus Vergangenheit, Zukunft und dem Konjunktiv der Möglichkeit, die neben ihr einhergeht und große Gravitation hat – wie ein Echo begleitet die Möglichkeit die sogenannte Wirklichkeit.“
„Nein, ich hör nicht auf zu träumen von der herrschaftsfreien Welt, wo der Menschen Miteinander unser Sein zusammenhält“ habe ich in meinem Lied „Den Parolen keine Chance“ geschrieben. Diese Sehnsucht nach einer besseren und gerechteren Welt ist aber nicht nur ein Traum, ein Gefühl, eine Flucht aus der Realität. Sehnsucht ist die Suche nach einem sinnvollen und guten Leben für alle Menschen auf dem gesamten Globus. Sie ist eine Utopie. Eine gemeinsame Sehnsucht verbindet uns Menschen und lässt uns solidarisch miteinander und füreinander fühlen und handeln.

In den letzten Jahren habe ich mich in meinen Konzerten auf eine lange und intensive Reise nach Utopia begeben und den schrecklichen Zeiten zum Trotz am Anfang eines jeden Abends gesagt: „Ich werde weiter für eine herrschaftsfreie Welt kämpfen.“ Denn nur eine sozial gerechte Welt solidarischer Menschen wird uns von Kriegen, Klimawandel, Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus befreien. Eine weltweite Bewegung von unten ist viel wirklicher als die tödliche und zerstörerische Machtpolitik der Militärblöcke. Nur sie kann das jahrtausendealte Patriarchat stoppen, das sich vor allem auch durch Kriege und militärischen Gehorsam immer wieder aufs Neue an der Macht hält.Wer sich auf die Suche nach Utopia macht, wird in der Vergangenheit und in der Gegenwart vielen Menschen begegnen, die die Menschlichkeit und damit die Möglichkeit einer besseren Welt für uns alle durch ihr Tun lebendig gemacht und wachgehalten haben. Auch in den finstersten Stunden von Krieg, Faschismus, Folter, Hunger, Unterdrückung, Ausbeutung und Leid.
Hoffen macht Mut. Und, wenn wir uns gegenseitig Mut machen, können wir auch in diesen stürmischen Zeiten wieder zusammen das Hoffen lernen: „Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen“, schreibt Ernst Bloch, und weiter: „Wie reich wurde allzeit geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich wäre.“

Seit Jahrtausenden wollen uns Fürsten, Könige, Königinnen, Herrscher, Generäle und Politiker*innen einreden, dass eine andere, gerechtere Gesellschaft unmöglich sei: Lasst uns endlich dafür sorgen, das angeblich „nicht Verwirklichbare“ zu suchen und möglich zu machen, bevor die Reichen und Mächtigen die Welt für immer zerstört haben werden.
Folgen wir denen nach, die sich bereits vor uns auf die Suche begeben haben und ohne die wir nicht wären, was wir sind. Ab heute gibt es für uns keine Denkverbote mehr: Wir machen einfach gemeinsam, was für uns alle ein besseres Leben möglich macht. Jeden Tag, jede Nacht und überall.

„Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, dass man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien“, schrieb Oscar Wilde 1891, und ich habe diesen letzten Satz schon als junger Mensch geliebt.
Schauen wir uns jedoch im Duden oder bei Google die Bedeutung dieses Wortes an, lesen wir: Utopie sei eine Idee, die so wirklichkeitsfern sei, dass sie sich nicht verwirklichen lassen könne.
Ein undurchführbarer Plan? Ein Hirngespinst? Eine Unmöglichkeit? Ist das wirklich so? Oder stören Utopien eines gerechten, menschlichen Miteinanders nur einfach ganz banal die Interessen der Herrschenden und Reichen so sehr, dass eine Verwirklichung schon per Definition ausgeschlossen werden muss?
Nicht zuletzt deshalb haben sich so viele große Denkerinnen und Denker mit Utopien auseinandergesetzt. Walter Benjamin schreibt: „Die utopischen Träume sind oft nur vorzeitige Wahrheiten.“ Und bei Jürgen Habermas lesen wir:
„Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.“ „Utopien trösten“, sagt Michel Foucault, und Oskar Negt stellt fest: „Nur noch Utopien sind realistisch.“ Und mein verehrter Kollege Pier Paolo Pasolini sagte 1981: „Ich rede als Utopist, ich weiß. Aber entweder Utopist sein oder verschwinden.“
Die von mir sehr bewunderte Anarchistin Emma Goldman schreibt: „Wenn wir nicht länger träumen können, sterben wir.“ Wir werden weiter träumen!
„Bei Gott, wenn ich das alles überdenke, dann erscheint mir jeder der heut’gen Staaten nur eine Verschwörung der Reichen, die unter dem Vorwand des Gemeinwohls ihren eigenen Vorteil verfolgen und mit allen Kniffen und Schlichen danach trachten, sich den Besitz dessen zu sichern, was sie unrecht erworben haben“, schreibt Thomas Morus in seinem Roman Utopia – dabei gab es im Jahr 1516 noch gar keinen Neoliberalismus.

Wenn ich mich mit den Texten und Liedern antifaschistischer, pazifistischer und anarchistischer Träumerinnen und Träumer beschäftige, will ich damit zeigen, dass die Idee einer herrschaftsfreien und liebevollen Gesellschaft nur deswegen bisher unverwirklicht geblieben ist, weil sie immer wieder von der Gewalt und der Macht der Regierungen und ihren Militärapparaten unterdrückt und im Blut der hoffnungsvollen Menschen erstickt worden ist.
„Sich fügen heißt lügen“ – viele werden diese Zeile kennen. Sie stammt aus dem Gedicht „Der Gefangene“ des von mir über alles bewunderten Dichters, Pazifisten und Anarchisten Erich Mühsam. Ich habe mir erlaubt, diesen Text neu zu vertonen. Kurz nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 verhaftete die SA Erich Mühsam. Nach sechzehnmonatiger KZ-Haft und Folter ermordete ihn die SS am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg.
Lassen wir es nie wieder zu, dass Menschen wie Erich Mühsam inhaftiert und ermordet werden und Menschen wie Ernst Toller oder Walter Benjamin sich vor dem Faschismus in den Tod retten müssen.

„Das Privateigentum klammert sich an seine Existenz, obwohl es unsozial ist, vielfältig verbrecherisch. (…) Der Zusammenbruch des Finanzkapitals mit seinen Diebstählen, der makabre Tanz der Banken, die Verschwendungen der Regierungen begeben sich in ihrer Panik freiwillig in den Schutz der Armee, um die ihnen genehmen politischen Vertretungen und um auch die Festgelage ihrer Unersättlichkeit zu schützen. Alle diese Schandtaten grinsen ein letztes Mal den Armen ins Gesicht.“
Das klingt verdammt visionär und modern. Diese Zeilen schrieb die französische Revolutionärin, Autorin und Lehrerin Louise Michel 1888. In ihren Texten stecken ihre gesammelten Erfahrungen und ihre ganze Leidenschaft, die sie vor über 150 Jahren im Freiheitskampf der Pariser Commune vom 18. März bis 28. Mai 1871 zur Anarchistin und zur Streiterin für eine herrschaftsfreie Gesellschaft werden ließ. Sie wusste schon damals: „Niemand auf der Welt kann allein die gegenwärtige Lage beseitigen. Niemand allein, aber wenn es alle tun, ist es ihr Ende. Fort mit ihnen, her mit der Sozialen Revolution! Der Menschheit die Welt! (…) Die Anarchie ist die Ordnung durch Harmonie. Gleichheit, weltweite Harmonie für die Menschen, so wie für alles, was lebt. So wird alles allen gehören.“ Was für eine traumhaft schöne Sprache.
Im Sinne von Ernst Bloch ist die Utopie ein Prozess der Bewusstwerdung der Möglichkeit von Veränderung. Das utopische Bewusstsein hat für ihn die Kraft, Vorstellungen und konkrete Utopien zu schaffen, „die die bestehende Gesellschaft unterminieren und sprengen oder eine Sprengung vorbereiten mit dem Traum von einer schöneren Welt, einer besseren Gesellschaft.“
Wer die Zukunft neu und gerecht gestalten will, muss die Gegenwart verstehen: Und weil wir uns von der sich rasant ausbreitenden Dummheit der Macht nicht weiter dumm machen lassen wollen, brauchen wir heute dringend Utopien und soziale Visionen, die das Leben für alle Menschen auf der Welt besser machen und die uns Hoffnung und Mut schenken, uns überleben lassen.
Ich bin zwar ein alter Anarcho, gleichzeitig bin ich im tiefsten Herzen aber immer auch schon ein Romantiker gewesen, der die italienische Oper und die romantische Musik in Deutschland liebt. Aber zum Romantiker gehört auch, dass ich mich als einen bekennenden Utopisten bezeichne. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir dringend Utopien brauchen. Gerade an der Utopie, die nie ein festes Modell, eine starre Ideologie ist, können wir uns orientieren und unsere Herzen ausrichten, um gemeinsam mit anderen an Ideen zu arbeiten. Im Gegensatz zu Helmut Schmidt, der einmal sagte „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, bin ich der festen Überzeugung: Wer keine Visionen hat, der sollte dringend zum Therapeuten gehen!

Utopia ist eine Wortbildung aus dem Altgriechischen: Der Begriff setzt sich zusammen aus den griechischen Worten ou (nicht) und topos (Ort, Stelle, Land). Utopia ist also ein NichtLand, ein NichtOrt, eine NichtStelle, ein Nirgendwo. Also ein Ort, den es nicht oder noch nicht gibt. Ein NochNirgendwo. Ein NochNicht. Ein zukünftiger, noch zu gestaltender Ort. Keine Rede also davon, dass es diesen Ort nie geben könnte. Utopien sind Möglichkeiten, die noch keinen Ort haben.

Begriffsfragen sind immer auch Machtfragen: Als der geniale Universalgelehrte Galileo Galilei der kirchlichen und weltlichen Herrschaftsideologie widersprach, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei, da verbot ihm die katholische Kirche kurzerhand die Verbreitung seiner Lehren. Denkverbote werden erlassen aus Angst vor einem gesellschaftlichen Umsturz. Die Infragestellung des alten Weltbilds durch Galileo Galilei ließ die Mächtigen in Kirche und Politik befürchten, dass nach der Widerlegung des bisherigen theologischen Herrschaftswissens auch die weltliche Macht und damit die Herrschaft über die Armen und unterdrückten Menschen gestürzt werden könnte. Deshalb musste Utopia schon damals ins Reich der Spinner und Fantasten verbannt werden.

Hoffnung ist das „Noch-Nicht-Bewusste“, das „Noch-Nicht-Gewordene“, das utopische Bewusstsein ist fern und nah zugleich. Bloch schreibt: „Man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen.“
Wer von uns hätte 1985 in einer Zeit der Proteste gegen die ökologische Zerstörung, das Waldsterben und der Demonstrationen von Hunderttausenden gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage (WAA) im bayerischen Wackersdorf gedacht, dass die WAA gegen die autoritäre Macht von Franz Josef Strauß und seiner CSU verhindert werden kann? Wer hätte damals gedacht, dass der Ausstieg aus der Atomkraft jemals durchgesetzt werden kann? Hatte es nicht von den beiden „großen Realisten“ Strauß und Schmidt geheißen, dass sie alternativlos sei? Dass damit jede Utopie einer anderen nachhaltigen und dezentralisierten Energieversorgung einfach „unmöglich, weil unrealistisch“ sei? Wir waren also Hunderttausende „Fantasten“. Wir hatten die richtige Utopie und haben sie Wirklichkeit werden lassen.
Dass wir es schaffen konnten, lag auch daran, dass sich die Menschen trotz unterschiedlicher Vorstellungen über die Inhalte und die Formen des Protests und Widerstandes nicht haben spalten lassen. Denn Spaltung ist die Voraussetzung für Kriminalisierung. Deshalb habe ich in meinem Aufruf zur Solidarität mit Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die staatlicher Repression ausgesetzt sind, gesagt: „Kriminell ist die herrschende Politik, nicht der Widerstand dagegen!“

Der kurdische Politiker, Repräsentant und bedeutende Theoretiker Abdullah Öcalan schreibt in seinem Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“: „Attraktiv finde ich ethisch-politische Menschen, die Freundschaft mit Tieren pflegen, in Eintracht mit der Natur leben, auf einem Gleichgewicht der Geschlechter aufbauen, in Freiheit, Gleichheit und Liebe leben und die Kraft der Wissenschaft und der Technik davor bewahren, Spielzeug für Krieger und Mächtige zu sein. (…) Ich rede von einem geistig-seelischen Paradigma. Kategorisch sage ich: Das Anbeten von Kraft und Macht, das funkelnde und glitzernde Leben aller blutbesudelten Zivilisationen, ich habe es wirklich satt und hasse es. (…) Die Kindheit der Menschheit, die ins Vergessen gestoßene Geschichte der Werktätigen und der Völker, die Welten der Freiheit und der Gleichheit in den Utopien der Frauen, der Kinder und der Kind gebliebenen Greise – ich will mich lieber an ihnen beteiligen, dort einen Erfolg erzielen. All das ist Utopie. Aber manchmal sind Utopien die einzig rettende Inspiration. Aus den heutigen Bauten, die schlimmer sind als Gräber, wird man (..) durch Utopien ausbrechen.“

Öcalan sitzt seit Februar 1999 in Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer. Im Februar 2025 hat er die PKK zum Niederlegen der Waffen und zu einer nicht-bewaffneten Kampfweise in der gesamten Region aufgerufen. Eine gerechte und friedliche Lösung für die Menschen in Kurdistan setzt die Freilassung von Abdullah Öcalan voraus. Doch der Despot vom Bosporus nennt ihn bis heute einen Terroristen, so wie Nelson Mandela jahrzehntelang als Terrorist diffamiert wurde. Die Geschichte entscheidet letztlich darüber, wer Despot und wer Streiterin oder Streiter für den Frieden und eine gerechtere Welt ist.
In unserem gemeinsamen antimilitaristischen Manifest zum internationalen Antikriegstag am 1. September 2023 haben die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und ich geschrieben: „Als Künstler*innen, als Literatin und als Musiker, bestehen wir darauf, was Ernst Bloch formuliert hat: ‚Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.‘“

Ein besseres Leben für alle Menschen auf unserer Welt ist möglich – davon zu träumen, darüber zu schreiben, davon zu singen, darauf zu bestehen und sich gemeinsam dafür zu engagieren, das wollen wir alle einzeln und zusammen tun – überall und jeden Tag weltweit.
Wir werden niemals aufhören zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt ohne Kriege, Faschismus, Rassismus, Patriarchat, ohne die zerstörerische Ausbeutung von Menschen und Natur. Die Aufstandsbewegung im Iran nach der Ermordung der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini hat weltweit Hoffnung auf eine globale feministische Perspektive wachsen lassen: „Jin, Jiyan, Azadi – Frau, Leben, Freiheit – Woman, Life, Freedom!“ Diese visionäre Position hat eine lange Geschichte in der kurdischen feministischen Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit.
Unsere Träume können die Kriegsherren und Politikerinnen und Politiker dieser Welt weder verbieten, noch können sie unsere Versuche, diese Wirklichkeit werden zu lassen, auf Dauer verhindern. Weder in Ankara noch in Teheran, weder in Moskau, in Washington, Peking oder Berlin.
Der Anthropologe, Anarchist und Antifaschist David Graeber ist am 2. September 2020 viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Er, der Denker, der Forscher und Occupy-Aktivist, versichert seinen Leserinnen und Lesern stets, dass wir die Probleme der Welt überwinden können, indem wir Alternativen schaffen. Darum sollten wir nie aufhören, uns auf die Suche zu machen. So wie er selbst, der mit seinen Büchern und seinem Handeln so vielen Menschen Mut gemacht hat. Er ist mehrmals nach Rojava gereist und hat die Menschen dort aktiv unterstützt.
In einem Gespräch mit der Journalistin Pınar Öğünç über die Bedeutung der „echten Revolution“ in Rojava, einer basisdemokratisch selbstverwalteten Region in Nordsyrien, sagte David Graeber: „Es scheint mir unsere Verantwortung als Intellektuelle, oder einfach als denkende menschliche Wesen, zu sein, wenigstens darüber nachzudenken, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Menschen gibt, die tatsächlich versuchen, dieses Bessere zu erschaffen, dann ist es unsere Verantwortung, ihnen zu helfen.“
Er wusste, dass die Utopie von Rojava uns alle angeht: Die Menschen dort brauchen jetzt unsere weltweite Solidarität. Und wir brauchen die Utopie von Rojava: dieses gesellschaftliche Experiment einer basis- und rätedemokratischen, feministischen, ökologischen und sozial gerechten, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. Seit Jahren ist das selbstverwaltete Projekt in Rojava ein Hoffnungsschimmer in der gesamten Region für Frieden und es ist gelebte antirassistische Solidarität gegen Hass und Zerstörung. Heute umso mehr angesichts der Eskalation der Kriege in der gesamten Region.
Doch die deutsche Regierung, die deutschen Konzerne und die deutsche Rüstungsindustrie unterstützen weiterhin das verbrecherische und rassistische Erdoğan-Regime: Damit machen sich die regierenden Politiker*innen und die Waffenhändler mitschuldig an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – denn die türkische NATO-Armee begeht ihre Kriegsverbrechen mit deutschen Waffen und deutschen Panzern. Das ist unerträglich!
„Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, dass Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist. Durch Ungehorsam ist der Fortschritt geweckt worden, durch Ungehorsam und Rebellion“, erkannte der großartige englische Schriftsteller Oscar Wilde bereits 1881, und die brillante Denkerin Hannah Arendt forderte kurz und konsequent: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“
Die Poesie gehört uns allen, denn sie wartet schon immer darauf, gepflückt zu werden wie die Blüten eines Maulbeerbaumes, oder im Winde zu verwehen. Alle Verse sind schon geschrieben, von einer tieferen Weisheit, als unsere Schulweisheit es sich erträumen lässt. Lasst uns irre, einsame, verlassene, tatsächliche Rebellinnen und Rebellen sein. Nur so werden wir diese gierige, profitorientierte, klägliche und zerstörerische Welt in ein liebevolles Miteinander verwandeln.
In diesem Sinne möchte ich meinen kurzen Text „Die Kraft von Utopia“ mit einigen meiner Zeilen enden lassen, die mich seit vierzig Jahren begleiten:

So wie wir jetzt kurz vor dem Untergang stehen, kaum noch eine Hoffnung, in Würde zu überleben, so lasst uns jetzt mal die Möglichkeit ergreifen, alles ganz anders zu versuchen
wie einer,
der kurz vor seinem Tod noch das Leben erleben und durchleben möchte,
ohne Rücksicht auf das Gequassel der Zyniker und Drübersteher.

Dass diese Welt nie ende, nur dafür lasst uns leben.

(1) „Eine andere Gesellschaft muss auch eine liebevollere sein“ Ein Interview von Bernd Drücke mit Konstantin Wecker (Teil 1), GWR 348, April 2010, https://www.graswurzel.net/gwr/2010/04/eine-andere-gesellschaft-muss-auch-eine-liebevollere-sein/
Das vollständige Interview ist abgedruckt in: Bernd Drücke (Hg.), Anarchismus Hoch 2, Karin Kramer Verlag, Berlin 2014, S. 112-134
(2) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2023/11/utopia-2-0-wir-werden-weiter-traeumen/
(3) Vorabdruck aus: Konstantin Wecker: Der Liebe zuliebe. Originalausgabe September 2025, © 2025 bene! Verlag. Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG Maria-Luiko-Straße 54, 80636 München. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.