Die Zukunft steht gerade auf tönernen Füßen. Alles war bis gestern gut, vieles ist heute nicht mehr so gut und nichts wird morgen gut sein – so denken gegenwärtig nicht wenige von uns in Mitteleuropa, besorgt um den Verlust dessen, was wir haben und offensichtlich nicht mehr in der Lage zu erkennen, was wir tatsächlich entbehren, und zwar schon seit längerem. Um uns abzulenken ergötzen wir uns an Endzeitvisionen, die an Plausibilität gewinnen, je apokalyptischer sie daherkommen. So schlimm ist’s bei uns dann doch nicht, entfährt uns ein behaglicher Seufzer. Die Flucht ins erfundene Grauen endet in der Erleichterung, weil wir den essentiellen und realen Kämpfen, etwa gegen die ökologischen Krisen, auf diese Weise ausweichen können. All jene, die das Privileg haben, keinen Überlebenskampf führen zu müssen (und das ist hierzulande weiterhin die große Mehrheit), lassen sich gern von Dystopien einlullen.
Je größer die drohende Katastrophe, desto mickriger die Alternativen, so scheint es momentan, und unser Denken fällt entsprechend klein und eng aus. Ein wenig E-Mobilität, ein wenig CO2-Handel, sieben Prozent Bioprodukte und sieben Prozent Vegetarier*innen, zum Teil kongruente Minderheiten. Es mangelt uns nicht an Wissen über das, was in der Welt vorgeht. Keiner behauptet, es sei vernünftig, die Umwelt zu zerstören, Menschen zu entwurzeln, Ungerechtigkeiten zu vertiefen, Kriege zu entfachen. Und trotzdem: Das Bewusstsein für die sich zuspitzenden sozialen und ökologischen Probleme und die existentielle Notwendigkeit ihrer Lösung geht meist einher mit Lähmung oder selbst auferlegter Blindheit, vor allem bei jenen, die Nutznießer*innen des globalen Ungleichgewichts sind. Im politischen Diskurs herrscht das perfide Dogma der Alternativlosigkeit vor. Ausgerechnet jene Prinzipien, die die Katastrophendynamik beschleunigen – Profit, Wachstum, Konzentration von Reichtum und daher Macht – gelten als unantastbar. Und trotz offenkundiger Mängel wird die freie Marktwirtschaft als einziges effizientes Modell menschlichen Zusammenlebens präsentiert.
„Das kann doch nicht alles gewesen sein?“ fragt seither die Utopie. Zeichnet die Menschheitsgeschichte nicht ein anderes Bild? Sind die weißen Flecken der geistigen Landkarten nicht auf erstaunliche Weise, oft nur eine Generation später, neu schraffiert worden? Der „Nicht-Ort“ wird beschworen mit der kreativen Kraft der Phantasie.
Die herrschenden Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, umgestülpt, die letzten Buchstaben werden die ersten sein, was im vertrauten Alltag gilt, ist im Gedankenexperiment außer Kraft gesetzt. Utopia ist somit viel mehr als eine Insel der Seligen, auf der Frieden und Gleichheit herrschen und Bildung als höchstes Gut gilt. Utopia ist die Vorwegnahme von Veränderung im Reich der Imagination. Utopia entfaltet das freieste Denken, um Alternativen zu ersinnen.
Der oft verkündete „Untergang der Utopien“ ist ein Totengräbergesang, der alle Träume begraben will, um universelle Friedhofsruhe durchzusetzen. Begleitet von der fragwürdigen Behauptung, die Schrecken des 20. Jahrhunderts wären die Folgen utopischen Denkens gewesen, obwohl man mit besseren Argumenten althergebrachte Haltungen und Ideologien wie autoritäre Hierarchie, fanatischen Nationalismus, Rassismus, Nepotismus und exterminatorischen Imperialismus für den Staatsterror verantwortlich machen könnte. Übrigens, Lenin und Stalin verachteten die Utopie. Lenin, ein wendiger Pragmatiker, konstatierte schon Ende 1917: „Wir sind keine Utopisten … wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, mit Menschen also, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne Aufseher und Buchhalter nicht auskommen können.“
Worin besteht nun das Utopische?
Des einen Utopie sei des anderen Dystopie, wird oft behauptet. Die logische Schlussfolgerung: Da sich Menschen nicht auf eine bestimmte Utopie einigen könnten, müssten sie notgedrungen auf dem stachligen Boden der real existierenden Ungerechtigkeiten und Leiden bleiben. Wenn das stimmt, dann müssten sich die verschiedenen utopischen Visionen in wichtigen Aspekten voneinander unterscheiden. Wer sich aber mit der reichhaltigen Tradition an utopischen Texten vertraut macht, wird feststellen, dass es trotz einer Vielfalt an Ideen auch erstaunliche Übereinstimmungen gibt. Viele Sprachen und doch eine zugrundeliegende Grammatik. Wie schaut dieses Idealbild von Gesellschaft aus?
Hinsichtlich der gesellschaftlichen Organisation wird stets eine Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger imaginiert, die freie Entfaltung jedes einzelnen Menschen, eine stark ausgeprägte Selbstständigkeit im Denken und Handeln und die freie Wahl der eigenen Tätigkeit gemäß den Talenten und Bedürfnissen des Individuums. Neuere Utopien gehen von der Überwindung des Patriarchats sowie aller Formen von Rassismus aus. Die Menschen kommunizieren gleichberechtigt miteinander, es herrscht ein gegenseitiges (Zu)Hören vor, ebenso wie Toleranz und Akzeptanz gegenüber allen Lebensstilen und sexuellen Orientierungen. Altruismus ist eine selbstverständliche Grundhaltung, ebenso Hilfsbereitschaft und Solidarität, nicht zuletzt, weil die Erziehung den Fokus auf immaterielle Werte und auf Gemeinschaftssinn legt.
Was das Politische betrifft, sind flache Hierarchien das dominante Ideal, ohne rigide, verkrustete Institutionen und ohne Machtkonzentration in den Händen einiger weniger. Es gibt keine Privilegien für eine wie auch immer definierte Minderheit. Stattdessen egalitäre Netzwerke, Dezentralisierung, direkte Demokratie sowie eine universelle Teilhabe an politischen Entscheidungen. Das Militär ist abgeschafft, selbstverständlich auch die Rüstungsindustrie, manchmal auch die Polizei und die Strafjustiz – das Gefängnis existiert nicht einmal als Museum. Die Welt kennt nur mehr Frieden und Gewaltlosigkeit.
Im Bereich der Wirtschaft genießen die Menschen in unterschiedlicher Ausprägung die Segnungen eines Schlaraffenlandes, haben also freien Zugang zu allen materiellen Gütern der Grundversorgung. Es wird nirgendwo gehungert, es gibt keinen obsessiven Konsum mehr und keine unnötige Verschwendung. Statt Geld gibt es Gemeingüter, statt Wettbewerb und Profit Kooperation und Tausch. Anstelle von stumpfsinniger Arbeit sinnvolle Beschäftigung, vor allem dank kreativen und sozialen Aktivitäten, unterstützt von einer menschendienlichen Automatisierung. Wirtschaftswachstum ist kein ökonomisches Ziel mehr. Selbstorganisation und Selbstversorgung sind wesentliche Prinzipien.
Und was das Ökologische angeht (vor allem in den Utopien aus den letzten hundert Jahren), herrscht eine radikal andere Wertschätzung der Natur vor, die Natur gehört niemandem, nicht einmal Großkonzernen, Recycling ist so selbstverständlich wie die Herstellung von langlebigen, reparierbaren Produkten, die dem tatsächlichen Bedarf der Menschen entsprechen. Tiere werden geachtet und geschützt, vegetarische Ernährung ist die Norm.
Die utopischen Narrative kreisen um das Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, im Streben nach Balance zwischen individueller Freiheit und gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeit. Einerseits trägt das Individuum eine Verantwortung gegenüber seinem sozialen Umfeld. Andererseits wird die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit nur marginal eingeschränkt und niemals verhindert. Zugleich gibt es geschützte Räume, in denen der einzelne Mensch sich bei einem erwünschten Rückzug aus dem Kollektiv frei entfalten und entwickeln kann, ohne in ein antagonistisches Verhältnis zu gesellschaftlichen Interessen zu treten. In Zeiten, in denen eine starre Gegensätzlichkeit von Egoismus und Selbstaufopferung dominiert, klingt diese Quintessenz utopischen Denkens wie eine Quadratur des Kreises.
Es wäre lohnenswert, ein solches Destillat zur allgemeinen Wahl zu stellen, als Alternative zu der real existierenden Zerstörung und Ausbeutung von Planet und Mensch. Für welche Alternative würde sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger entscheiden, wenn sie frei, also gut informiert sowie ohne propagandistische Einflussnahme und Angstmacherei, entscheiden könnte?
Utopien seien diffus, wird oft behauptet. Vielleicht ist gerade dies ihre größte Stärke, die Vielfalt an Denkweisen, die Verknüpfung von Ziffern und Zeichen mit Erträumungen. Die Unterwanderung des Quantifizierbaren durch die Fantasie. Zumal das Utopische auch historischen Erfahrungen entspringt. Was seit Anbeginn der Moderne utopisch genannt wird, war einst gelebte Wirklichkeit, mal als Ausnahme, mal als Regel, mal in einer Nische oder Oase, mal auf den weiten Prärien der Selbstverständlichkeit. Utopien erwachsen aus unserem kollektiven Gedächtnis. Die längste Zeit lebte die Menschheit in egalitären Gesellschaften, in denen es keine institutionalisierte Autorität gab. Jüngste Ausgrabungen in China, Niger, Pakistan, Peru und Mali belegen, dass sich in vielen frühen Zivilisationen keine Spuren zentralisierter Macht finden, keine architektonischen Manifestationen von Herrschaft und Unterwerfung, obwohl es damals bereits Arbeitsteilung und Spezialisierung gab.
Es gibt Gründe genug, optimistisch zu sein. Trotz eines Systems, das Eigennutz und Gier belohnt, erleben wir täglich solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Lösungen. Diese kleinen und großen Handreichungen tragen mehr zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei als das profitable Funktionieren all jener quantifizierbaren Prozesse, die dazu dienen, die Macht und den Reichtum einer zunehmend kleiner werdenden Schicht zu sichern. Ohne Utopien droht uns die Hoffnungslosigkeit, und diese ist „die vorweggenommene Niederlage“ (Karl Jaspers). Und selbst wenn wenig Konkretes bei unseren Kopfreisen auf den sieben Meeren des Utopischen herauskommt, „ein Leben im Traumland macht glücklich“, so Mahatma Gandhi. Ein Verweilen im Traumland immunisiert gegen die grassierende Zukunftsangst. Ich kann es Ihnen nur ans Herz legen.
Der Schriftsteller Ilija Trojanow wurde am 23. August 1965 in Sofia, Bulgarien, geboren. 2023 ist sein aktueller Roman „Tausend und ein Morgen“ bei S. Fischer erschienen (siehe Rezension in GWR 492), 2025 „Das Buch der Macht. Wie man sie erringt und (nie) wieder loslässt“ im Verlag Andere Bibliothek. Im Sammelband „Anarchistische gesellschaftsentwürfe“ (Unrast 2024) erschien sein Beitrag „Von der Notwendigkeit von herrschaftsfreien Räumen zu erzählen.“