Herausforderung angenommen

Utopie statt Dystopie: 500 Jahre GWR

| Luzie Morgenstern

„Schreib doch auch was darüber, wie du dir die GWR in 500 Jahren vorstellst, etwas über deine Utopie“, so die Anfrage des GWR-Redakteurs. Ausgerechnet ich, die maximal ein halbes Jahr vorausdenkt und plant? Aber okay, Herausforderung angenommen.Und dann war da erstmal – nichts.

Bei längerem Nachdenken merkte ich, wie sich diverse Dystopien in meinen Gedanken breit machten, in denen die GWR oder Teile davon, die auf Papier erhalten geblieben waren, im Untergrund verteilt und besprochen werden. Wo waren meine früheren Utopien hin?
Also mal anders herangehen. Was war vor 500 Jahren? Welche Utopien hatten Menschen damals?
Vor 500 Jahren bestimmten Reformation und „Religionskriege“, in Deutschland vor allem auch der „Bauernkrieg“, den Alltag der Menschen. Bei genauerem Betrachten fanden sich so einige Ähnlichkeiten zur heutigen Zeit. Reiche, die reich bleiben und noch reicher werden wollen. Mächtige, die sich ihre Macht erhalten und diese ausbauen wollen. Interessensgruppen, die gegeneinander ausgespielt werden. Hetzerische Propaganda, in der Religion benutzt wird, und Religiöse, die ihrerseits hetzerische Propaganda betreiben. Wechselnde Koalitionen zwischen Unten, Mitte und Oben, je nach erhofftem persönlichen Vorteil. Und in all dem schrieb ein Thomas Morus sein „Utopia“, verbreitet durch den gerade erst aufkommenden Buchdruck.
Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, gar Herrschafts- und Gewaltfreiheit, wie wir sie heute definieren, waren damals noch undenkbar. Morus’ Gesellschaftsutopie klingt heute auch nicht gerade attraktiv.
Erste Erkenntnis: In 500 Jahren wird eine für uns heute undenkbare, viel weitergehende Freiheitsdefinition entstanden sein.
Nach und nach wird sich, trotz aller Gegenwehr, das eine und andere durchgesetzt haben und weiter entwickelt worden sein.
Doch warum brauchte ich so lange, um überhaupt wieder positiv in eine ferne Zukunft zu blicken?
Heute werden wir überall mit Dystopien zugeschüttet. Positive Visionen einer Zukunft finden sich kaum noch. Politischer Aktivismus will nur noch „das Schlimmste verhindern“.
Es scheint, als hätten autoritäre und rechtsradikale Propagan-dist*innen nach und nach den Diskurs vergiftet, so dass sich auch bei fortschrittlichen Kräften kaum noch positive Aussagen, geschweige denn positive Ausblicke finden lassen.
Dem gilt es jeden Tag, beginnend im eigenen Denken, konsequent Widerstand entgegenzusetzen, indem wünschenswerte Zukünfte formuliert werden. Also dann mal los, immer erst mal klein anfangen.
In 500 Jahren sichtet und sichert eine Graswurzelredakteurin alte Ausgaben (die energiefressende Digitalisierung ist dann längst überholt und nur noch im Museum zu bestaunen). Sie betrachtet unsere eingeschränkten Vorstellungen, entdeckt interessante Entwicklungslinien, freut sich darüber, wie weit sich die Welt-Gesellschaft entwickelt hat und dass heute die GWR weltweit gelesen wird.
Und vielleicht entdeckt sie diesen kleinen Gedankenschnipsel, während sie überlegt, wie sie bloß eine Utopie zu „1000 Jahre“ Graswurzelrevolution schreiben kann. Ihr wird sicher etwas einfallen.

Luzie Morgenstern ist GWR-Mitherausgeberin, Autorin und Gewaltfreie Aktionstrainerin.