Seit dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA lässt sich in dramatischer Weise beobachten, warum Archive so wichtig für demokratische Systeme sind und warum sie über ein gewisses Maß an Unantastbarkeit und Resilienz gegenüber systemischen Schwankungen verfügen müssen, um autoritären Tendenzen standhalten zu können.
Ende März 2025 erließ Trump die Executive Order „Restoring Truth and Sanity to American History”, in der er formuliert, dass über die letzte Dekade der Versuch unternommen worden sei, die „großartige“ Geschichte Amerikas umzuschreiben, indem objektive Fakten durch Ideologien (2) ersetzt worden seien. Unter „Ideologie“ versteht er allerdings die Sichtbarmachung und Aufarbeitung rassistischer, sexistischer und repressiver Anteile der amerikanischen Geschichte. Dass afro-amerikanischen, indigenen, trans-Personen und Frauen ein Platz in der Vergangenheit und Gegenwart der USA eingeräumt wurde, missfällt der US-Regierung. Schon vor dem besagten Erlass von März waren von Webpräsenzen der Regierung Passagen verschwunden, die zu bestimmten Themen wie Impfungen oder der Opioid-Krise informierten. Zudem wurde die Häufigkeit verwendeter Wörter wie „Schwarz“, „Frauen“ oder „Diskriminierung“ auf den Seiten merklich ausgedünnt. Eine Datenbank, die die juristische Verfolgung der Capitol-Angriffe vom 6. Januar 2021 dokumentierte, wurde ebenfalls entfernt (und die Capitol-Angreifer wurden bereits Anfang diesen Jahres begnadigt). (3)
Für eine „MAGA“-Uminterpretation der Geschichte müssen freilich auch diejenigen Dokumente, die diese Umdeutung überprüfbar machen oder infrage stellen könnten, verbannt werden. In einem Statement vom 17. März weist die „Society of American Archivists“ besorgt darauf hin, dass es Anweisungen gibt, bestimmte behördliche Dokumente, auch Verschlusssachen, zu vernichten. Recht vorsichtig stellt sie die Unvereinbarkeit mit dem „Federal Records Act“, also dem staatlichen Archivgesetz, fest und rät den Kolleg*innen, sich an die gewählten Abgeordneten zu wenden. (4)
Bewegungen bewahren
Der Exkurs zeigt, dass Archive zu einem umkämpften Gut im gesellschaftspolitischen Feld werden können, weil sie maßgeblich mitgestalten, was, wie und wer erinnert wird. In den Beispielen oben haben wir es mit dem radikalen Umbau von staatlichen Einrichtungen zu tun, bei dem die Zeugnisse demokratischer Prozesse, aber auch die Präsenz von progressiven und pluralen Lebensweisen zerschlagen werden.
Dass hierzulande auch widerständige, utopische oder marginalisierte Geschichte dauerhaft und verlässlich bewahrt wird, ist Anliegen des Archivs für alternatives Schrifttum (afas). Es wurde vor 40 Jahren mit einem gemeinnützigen Trägerverein von politisch in verschiedenen Bereichen engagierten Menschen in Duisburg gegründet.
In den 1970er und 1980er Jahren waren Neue Soziale Bewegungen, linkspolitische oder selbstverwaltete Gruppierungen und ihre Dokumente nicht in „etablierten“ Gedächtnisinstitutionen zu finden. Staatliche und kommunale Archive fokussieren das „amtliche Schriftgut“, in dem soziale Bewegungen höchstens als Verwaltungsakt vorkommen – etwa wenn das Formblatt zur Anmeldung einer Kundgebung archiviert wird. Bei der Archivierung authentischer Selbstzeugnisse der linksalternativen Milieus klaffte eine riesige Lücke. Um solchen Überlieferungsdefiziten im Bereich der Alternativkulturen und Protestbewegungen entgegenzuwirken, wurde das afas als unabhängiges und selbstverwaltetes Archiv gegründet.
Vor 40 Jahren waren die Zeiten andere – womit befassten sich die Akteur*innen 1985? Im afas archivieren wir Zeitschriften, Broschüren, Plakate, Transparente, Objekte und natürlich die Archivalien, also Unikate wie Briefe, Handschriften und Protokolle, mit Hilfe einer Datenbank. Ein Blick in diese verrät schnell, dass die virulenten Themen 1985 vor allem „40 Jahre Kriegsende“, die Gefahr eines Atomkriegs, „Krieg der Sterne“, Friedenskongresse, die Proteste gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Bonn sowie die Mobilisierung zur Weltfrauenkonferenz in Nairobi waren. Krieg, Aufrüstung, Frieden – Themen, die angesichts der heutigen Weltlage eigentlich wieder ganz oben auf der Agenda der sozialen Bewegungen stehen müssten.
Im Mitgliederkreis bildeten 1985 allerdings nicht politische Diskussionen den Vordergrund für den Aufbau des afas. Vielmehr ging es um die formale und organisatorische Praxis: Wie werden wir gemeinnützig? Wo kann das Archiv untergebracht werden? Wo kann Geld aufgetrieben werden? Wie finden wir einmal Archiviertes wieder? Was wollen wir überhaupt sammeln, was aber nicht? Um letztere Frage zu klären, musste natürlich „Szenebeobachtung“ betrieben werden. Zum einen aus der Ferne, indem linke Zeitschriften und Flugblätter gelesen wurden. Zum anderen fuhr einer der Gründer in den ersten Jahren in sämtliche Großstädte oder auch in die hinterletzten Landkreise NRWs, um Initiativen und Projekte, Wohngemeinschaften, ASten, politische Buchläden oder Kundgebungen abzuklappern.
In die Breite und
die Tiefe sammeln
In den ersten Jahren wurde auf diese Weise vor allem „Spurensicherung“ in ganz NRW betrieben. Über die Jahrzehnte wuchs das Archiv auf 2,5 Regalkilometer heran. Es umfasst neben der Button-, Aufkleber-, Plakat-, Flugblatt- oder Zeitschriften-Sammlung auch große Vor- und Nachlässe, manchmal auch ganze Archive. Schon bald musste daher der enge Sammelschwerpunkt „Nordrhein-Westfalen“ auf das ganze Bundesgebiet erweitert werden. So konnte denn auch die überregionale „Graswurzelrevolution“ ihren Platz im afas behaupten. Ein Blick ins Editorial der Ausgaben von 1985 verrät, dass in der Graswurzelrevolution vor 40 Jahren ebenfalls das Bemühen ums Geld ein wiederkehrendes Thema war. Bereits ab der Frühlingsausgabe 1985 wird um Spenden und Abonnements geworben, in der letzten Ausgabe vor der Sommerpause wird dann sogar berichtet, dass „das Einstellen der Zeitung noch in diesem Jahr ernsthaft in Erwägung“ (5) gezogen wird. Wie wir wissen, ist dies glücklicherweise nicht geschehen: So konnte im Dezember 1985 die 100. Ausgabe herauskommen, und das, obwohl das Erscheinen durch eine weitere Widrigkeit behindert wurde. Autonome aus dem Hafenstraßen-Umfeld hatten die Lichtsatzgeräte in den Hamburger taz-Räumen zerstört, mit denen auch die Graswurzelrevolution-Fahnen erstellt wurden. Im Editorial wird dies recht unaufgeregt mit einer generellen Kritik an autoritärem Verhalten innerhalb linker Gruppierungen besprochen: „Uns bestärkt dies in unserem grundsätzlichen Mißtrauen gegen Gewalt, die antritt, um für ,Befreiung‘ zu kämpfen, und dann doch sehr schnell umschlagen kann in erneute Unterdrückung, gegen alles, was nicht auf der ,richtigen Linie‘ steht.“ (6)
Die analytischen Auseinandersetzungen der Redaktion mit den Bewegungen der Zeit sind lesenswert. Beispielsweise wird konstatiert, „daß die Friedensbewegung in ihrer Mehrheit keine anti-militaristische Orientierung hat“ (7). Feministische und frauenbewegte Themen werden ganz selbstverständlich in die Ausgaben eingewebt und in Auseinandersetzung mit den Grünen wird gefragt, inwieweit sie noch durch die sozialen Bewegungen geprägt sind oder sich „in Richtung einer stinknormalen Reformpartei“ (8) entwickeln.
Einen Blick zurück zu werfen, um Vergangenes, aber auch gegenwärtige Zustände verstehen zu können, geht nur, wenn es entsprechende Quellen gibt. Anliegen des afas ist es, verlässliche Zeugnisse vorzuhalten und multiperspektivische Zugänge zu Gesellschaft und ihrer Erforschung zu ermöglichen. Die Bandbreite des Archivmaterials ist daher denkbar groß. Einerseits kann im afas ein lokaler Bestand wie derjenige der „Rheinpreußensiedlung Duisburg“ beforscht werden. Die um 1900 erbaute Rheinpreußensiedlung wurde Mitte der 1960er Jahre von einem Duisburger „Baulöwen“ gekauft und sollte abgerissen werden, um auf dem Gelände Wohntürme zu errichten. Die Bewohner*innen wehrten sich mit Kundgebungen, Hungerstreiks vor dem Duisburger Rathaus oder auch einer Baggerbesetzung. Einige Häuser wurden abgerissen, der Rest steht heute Dank des Kampfes der Anwohner*innen um ihre Siedlung unter Denkmalschutz und wird von einer Genossenschaft verwaltet. Andererseits bewahren wir im afas auch international vernetzte Solidaritätsgruppen, wie die (deutsche) Anti-Apartheid-Bewegung (AAB), deren Büro in Bonn nach Ende der Apartheid aufgelöst wurde und zu einem großen Teil im afas gelandet ist. Neben den inhaltsdichten Akten gehören auch spannende Audiokassetten und hunderte Fotos zur Sammlung. Am viel angefragten AAB-Bestand lassen sich Forschungstrends und der Zeitgeist des politischen Diskurses ablesen: So werden seit einigen Jahren verstärkt postkoloniale Fragestellungen an die Unterlagen herangetragen. Natürlich nimmt auch die Ökologiebewegung großen Raum in der afas-Sammlung ein, von handschriftlichen Protokollen des „alteingesessenen“ Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz bis hin zu Aktionsmaterial von Fridays For Future werden im Archiv viele Aktivismus-Generationen abgebildet. Manchmal müssen ganze Archive aufgeben und landen dann geschlossen im afas: so haben wir beispielsweise das Archiv des Umweltzentrum Münster oder das Internationale Frauen Friedens-Archiv Fasia Jansen übernommen. Schön ist aber auch, wenn Organisationen fortbestehen, sie ihre „historischen“ Unterlagen aber schon einmal dem Archiv vermachen: Im afas bewahren wir die Akten des Vegetarierbund Deutschland (heute proveg), die die vegetarische Bewegung ab der Jahrhundertwende bis heute dokumentieren, sowie die Unterlagen des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Auch die genuin antimilitaristischen Bewegungen kommen nicht zu kurz: Die Unterlagen der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden sind vor rund zehn Jahren in unsere Magazine eingezogen und vollständig erschlossen. Das Archiv wächst und wächst: Wir übernehmen laufend neue Sammlungen und die Regale füllen sich beständig. Für die nächsten 500 Ausgaben Graswurzelrevolution wird aber trotzdem immer ein Platz im afas frei sein.
(1) Siehe auch: Gedächtnisort für Bewegung und Forschung. Ein Gespräch von Marvin Feldmann und Bernd Drücke mit Jürgen Bacia und Anne Niezgodka vom Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas), in: GWR 438, April 2019, https://www.graswurzel.net/gwr/2019/04/gedaechtnisort-fuer-bewegung-und-forschung/
(2) Donald J. Trump/ The White House: Restoring Truth and Sanity to American History. 27.03.2025, letztmalig abgerufen am 14.05.2025. https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/2025/03/restoring-truth-and-sanity-to-american-history/
(3) Tiffany Hsu: The White House Frames the Past by Erasing Parts of It. In: The New York Times, 5.04.2025.
(4) Society of American Archivists: SAA Statement on Media Reports Concerning Records Destruction. 17.03.2025, letztmalig abgerufen am 14.05.2025. https://www2.archivists.org/news/2025/saa-statement-on-media-reports-concerning-records-destruction
(5) Editorial GWR 96.1985
(6) Editorial GWR 100.1985
(7) Editorial GWR 96.1985
(8) Editorial GWR 92.1985
(9) Siehe: Die Vermehrung der Drückeberger. Erinnerung an die Geschichte der Selbst-organisation der Zivildienstleistenden, Artikel von Anne Niezgodka, in: GWR 424, Dezember 2017, https://www.graswurzel.net/gwr/2017/12/die-vermehrung-der-drueckeberger/
Kontakt:
https://afas-archiv.de/