Solidarität – das Pflänzchen Immergrün

Ein essayistisches Fragment zum Jubiläum der GWR

| Henning Melber

Fünfhundert Ausgaben der GWR seit 1972, das sind auch fünfhundert Mal Bekenntnisse zu Solidarität. Aber was wurde aus unseren Träumen? Damals skandierten wir „Hoch, die inter-nationale Soli-dari-tät“ und fühlten uns stark und siegreich. Die antikolonialen Befreiungskämpfe im Südlichen Afrika, die Tupamaros, Sandinistas, und „Kambodscha, Laos, Vietnam, Sieg im Volkskrieg“ machten uns glauben, dass die Befreiung vom Joch des Imperialismus naht. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ gehörte zum damaligen Anfangsrepertoire der „Steine“ – nicht der rollenden (die keine satisfaction kriegen konnten und deshalb bis jetzt weiter machen), sondern denen zwischen Ton und Scherben. Damals wie heute glaub(t)en wir, dass der Strand unter dem Pflaster liegt. – Nur: dass so dick gepflastert ist und wir so tief graben müssen, das hatten wir wohl nicht gedacht.

Was wurde aus unseren Träumen?

Eine Illustration aus jener Zeit ist mir bis heute vor Augen geblieben. Sie zeigt eine Mauer mit der mahnenden Inschrift: Don’t adjust your mind, the fault lies in reality (sinngemäß: Passe nicht deine Denke an, der Fehler liegt in der Wirklichkeit). Schade nur, dass leider dieser Fehler weiter die Wirklichkeit geblieben ist. Und Jene, die wir als Projektionsflächen zu unseren Hoffnungsträgern idolisiert hatten (weitgehend in der männlichen Reduzierung, denn die Frauen mussten damals zumeist noch – selbst unter uns – um die Emanzipation kämpfen), ließen uns auch im Stich.
Nachdem die antikolonialen Helden das (vermeintliche) Selbstbestimmungsrecht auch mit Unterstützung der Soli-Bewegung erkämpft hatten, wurden sie recht schnell selbst zu Unterdrückern. Die Sandinisten in Nicaragua waren wenig zimperlich im Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Weitaus schlimmer noch waren die killing fields in Kambodscha. In Simbabwe wiederum wütete Mugabes ZANU-Regime mit Hilfe Nordkoreas im Matabeleland.
Che Guevara wurde der Spruch zugeschrieben, dass Solidarität die Zärtlichkeit der Völker sei. Viel war davon nicht zu sehen oder zu spüren. Schon gar nicht mehr heute. Parteien gewinnen Wahlen, weil sie Menschenrechte mit Füßen treten und Verfassungen aushebeln. Kriege werden mehr denn je aus Gier geführt, Völkermorde ohne Konsequenzen für die Täter verübt. Demokratie wird zum Schimpfwort oder mit Diktatur verwechselt. Rechtsstaat meint Rechts-Staat.
Mehr denn je geschieht all dies auf Kosten und Missachtung eines unzureichenden globalen normativen Rahmens. Dessen Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist eine Erinnerung daran, was hätte sein können und nicht ist. – Solidarität ist auch hier kläglich gescheitert, da auf Gewalt basierende „Werteordnungen“ die Totenglocken für Mitmenschlichkeit läuteten.

Aus Verfehlungen lernen

„Der Krieg formt seine Leute“ diagnostizierte 1983 Christa Wolf in ihrer Novelle „Kassandra“. Da gab es schon mehr als ein Jahrzehnt die Einsicht, das Bewusstsein und die Weitsichtigkeit vom Schlage der GWR. Dass Gewalt ein probates Mittel ist, um dauerhaften Frieden unter den Menschen (und mit der Natur) zu erreichen, das wurde in deren Beiträgen damals bereits bezweifelt und hinterfragt. Denn egal mit welcher Absicht geführt: Krieg befreit nicht, er deformiert.
Auch, dass Emanzipationskämpfe nicht als nationale Identitätspolitik daherkommen müssen, war seinerzeit in libertären Kreisen schon eine wesentliche Einsicht. Die Soli-Bewegung mit „Befreiungsbewegungen“ hinkte da meist hinterher. Ernüchtert ob der Grenzen einer von ihnen unterstützten Befreiung (so sie denn für Viele überhaupt eine war), zogen sich die meisten seither aus diesen Zusammenhängen zurück, statt sich mit deren Fallstricken und sich selbst kritisch zu befassen.
Dass hingegen die GWR jetzt die fünfhundertste Nummer feiern kann, zeichnet das Projekt aus. Nicht nur, weil es auch Ergebnis einer Solidarität mit den eigenen Vorstellungen ist. Der Glaube an und das Vertrauen in diese hat genügend Menschen motiviert, um das Projekt, durch unterschiedliche Formen von Unterstützung, trotz aller Widernisse lebendig zu halten. Es ist auch gelungen, Positionen weiterzuentwickeln, ohne romantisierende Heroisierung und Nostalgie aus Geschichte zu lernen, sowie Unterschiede in der Verortung zu diskutieren.
Vielleicht ist der allzu früh verstorbene Rio Reiser ein gutes Beispiel dafür, dass für Einige die Chance des Dazulernens nicht ungenutzt blieb: „Halt dich an deiner Liebe fest“ ist eine sinnvolle Weiterentwicklung des destruktiven kaputt-machen-wollens.

Wenn der Novemberwind deine Hoffnung verweht
Und du bist so müde, weil du nicht mehr weißt, wie’s weitergeht
Wenn dein kaltes Bett dich nicht schlafen lässt:
Halt dich an deiner Liebe fest.

Ein solcher Selbstglaube sollte ein tragfähiges Fundament für belastbare Widerspenstigkeit sein. Zumal wenn diese von der Einsicht – oder Hoffnung? – geleitet wird, dass der Tag am nächsten ist, wenn die Nacht am tiefsten ist.

Ich war oft am Ende, fertig und allein
Alles, was ich gehört hab, war: „Lass es sein“
So viel Kraft hast du nicht, so viel kannst du nicht geben
Geh den Weg, den alle geh’n, du hast nur ein Leben
Doch ich will diesen Weg zu Ende geh’n
Und ich weiß, wir werden die Sonne seh’n
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten

Hammarskjöld und Camus: Vertrauen in die eigene Kraft

Ganz in solcherart verstandenem Vertrauen in die eigene Kraft kann Solidarität als ein Bekenntnis zur Hoffnung gelten. Sie ist ein Pflänzchen Immergrün. Oder wie Gras, um ein Bild des zweiten Generalsekretärs der Vereinten Nationen Dag Hammarskjöld zu benutzen. Dieser und alle fünfzehn Menschen in seiner Begleitung hatten beim Versuch einer Friedensfindung im Kongo 1961 ihr Leben gelassen. Das Flugzeug, das diese zu einem Treffen mit Moise Tshombe, dem Sezessionistenführer Katangas bringen sollte, stürzte beim Landeanflug auf die nordrhodesische Minenstadt Ndola ab. Inzwischen haben sich die Hinweise verdichtet, dass dies kein Unfall war.
Als kosmopolitischer (durchaus höchst bürgerlicher) Schwede auf den Dienst für die Allgemeinheit eingeschworen, machten Hammarskjölds Integrität und die beharrliche Verfolgung und Einforderung der in der Charta der Vereinten Nationen festgelegten normativen Grundwerte ihn unter den Mächten auf beiden Seiten des Kalten Kriegs unbeliebt. Nur für die neuen Mitgliedsstaaten der in Dekolonisierungsprozessen begriffenen Welt war er „ihr“ Generalsekretär. Angefeindet und von Intrigen eingedeckt, dachte er nicht daran, seine Grundüberzeugungen einer Pseudo-Diplomatie zu opfern. Stattdessen schrieb er an einen Freund im März 1957: „Ich bin stolz, zur Familie der Gräser zu gehören. Und ich bleibe ziemlich grün, trotz einer Menge Trampelei.“ – Auch das eine Form der „Graswurzelrevolution“?
Obwohl sie sich in vielen Gedanken und Haltungen eines kompromisslosen Humanismus sehr nahe waren, fanden Dag Hammarskjöld und Albert Camus nicht zueinander. Als Hammarskjöld 1953 zum UNO-Generalsekretär wurde, hatte Camus der Weltorganisation schon den Rücken gekehrt. Er gehörte zu Jenen, die 1948 in Kritik des Staatenbündnisses eine Sitzung der Generalversammlung in Paris kaperten, um eine Weltbürgererklärung zu verlesen. Wegen der Aufnahme des Franco-Regimes in die UNESCO 1952 verlor Camus die letzten Sympathien für die Vereinten Nationen.
Doch so wahrscheinlich es ist, dass Camus dem Vergleich mit Gras auch auf sich bezogen zugestimmt hätte, so sicher war der begeisterte Bergwanderer Hammarskjöld wohl mit der abschließenden Erkenntnis von Albert Camus in „Der Mythos von Sisyphos“ einverstanden: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Die weggeworfene Flinte

Der Gedanke tröstet mich als jemand, für den beide Leitfigur, Vorbild und Inspiration geworden sind: Lebten sie noch, würden sie weiterhin vielleicht getrennt, aber im Geiste vereint, Solidarität verstanden als Kampf um selbstbestimmte Menschenwürde und -rechte Aller als kleines Pflänzchen Immergrün behutsam pflegen. – Gerade so, wie es die GWR seit nunmehr fünfhundert Ausgaben tut, ohne die Flinte ins Korn zu werfen. So darf Christian Morgenstern mittels dem handelnden Palmström, quasi stellvertretend für die GWR, mit „Die weggeworfene Flinte“ das letzte Wort haben:

Palmström findet eines Abends,
als er zwischen hohem Korn
singend schweift,
eine Flinte.

Trauernd bricht er seinen Hymnus
ab und setzt sich in den Mohn,
seinen Fund
zu betrachten.

Innig stellt er den Verzagten,
der ins Korn sie warf, sich vor
und beklagt
ihn von Herzen.

Mohn und Ähren und Cyanen
windet seine Hand derweil
still um Lauf,
Hahn und Kolben…

Und er lehnt den so bekränzten
Stutzen an den Kreuzwegstein,
hoffend zart,
daß der Zage,

noch einmal des Weges kommend,
ihn erblicken möge – und –
(.. Seht den Mond
groß im Osten..)

Henning Melber, geb. 1950 in Stuttgart, kam als jugendlicher Auswanderer mit Mutter und Bruder nach Südwestafrika/Namibia, wo er 1974 der Befreiungsbewegung SWAPO beitrat. Nach der Unabhängigkeit leitete er ein politikberatendes Forschungsinstitut. Aus Enttäuschung über die Grenzen der Befreiung wechselte er 2000 nach Uppsala, wo er Forschungsdirektor des Nordic Africa Institute und Direktor der Dag Hammarskjöld Stiftung war. Er ist Extraordinary Professor an der Universität Pretoria und der Universität des Freistaats in Bloemfontein. Sein letztes Buch (The Long Shadow of German Colonialsm) erscheint demnächst in deutscher Übersetzung im Unrast Verlag.