Das Thema der Sozialen Verteidigung hat die Graswurzelrevolution (GWR) in der Vergangenheit mehrfach beschäftigt. Es gab allein drei Sonderausgaben in den 1980er Jahren: 1981, 1985 und die letzte 1988 anlässlich des bundesweiten Kongresses über Soziale Verteidigung in Minden 1988, der von einem Bündnis gewaltfreier Organisationen, darunter der Versöhnungsbund und die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, über zwei oder drei Jahre vorbereitet worden war.
Soziale Verteidigung ist ein Konzept gewaltloser Verteidigung bzw. zivilen Widerstands. Ihr Ziel ist nicht der Schutz der Grenzen und des Territoriums, sondern sie ist eine Verteidigung der Lebensweise und der Institutionen gegen die Absicht eines Gegners, illegitime Herrschaft auszuüben. Das kann ein internationaler Angreifer ebenso sein wie eine Bürgerkriegspartei, ein Putschist oder eine Partei, die durch Wahlen an die Macht gekommen ist. In der Vergangenheit haben manche, auch gerade aus dem Umfeld der GWR, sie auch auf andere Szenarien ausgeweitet, in denen etwas verteidigt werden sollte – zum Beispiel Gesundheit und Umwelt gegen Atommülllager oder – ein Thema, dessen sich heute viele Menschen viel bewusster sind als in den 1980er Jahren – die Umweltzerstörung durch die Klimakatastrophe und den Verlust von Biodiversität.
Der Grundgedanke der Sozialen Verteidigung wurde schon von Étienne de la Boetié im 16. Jahrhundert formuliert: Jeder Herrscher, auch ein militärischer Besatzer oder ein Putschist, braucht die Mitarbeit der Bevölkerung, um seine Herrschaft aufrechterhalten zu können. Wenn keine*r die Anweisungen der Regierenden befolgt, keine*r die Rohstoffe abbaut oder die Infrastruktur saniert, keine*r zu Parteiversammlungen geht, kein*e Lehrer*in die neuen Curricula umsetzt, dann mögen zwar überall Sicherheitskräfte stehen, aber der Herrscher bleibt ein Möchtegern-Machthaber ohne wirkliche Macht. Ein Beispiel dafür ist der Widerstand der norwegischen Lehrer*in-nen gegen den Versuch der Quisling-Regierung (den norwegischen, mit Deutschland verbündeten Nazis), 1942 ein nationalsozialistisches Curriculum einzuführen. Sie weigerten sich, es umzusetzen, und blieben auch standhaft, als viele von ihnen eingesperrt und misshandelt wurden. Schließlich musste die Regierung alle wieder freilassen und der Unterricht folgte weiter dem alten Curriculum.
Soziale Verteidigung
statt Kriegstüchtigkeit
Fast ganz Europa rüstet auf, mit der Begründung, dass man Russland davon abschrecken müsse, nach der Ukraine weitere (westliche) Länder zu überfallen. Denn das habe es vor, so sagen es diverse Geheimdienste. Und wegen dieser Bedrohung, so die Logik der NATO, müsse man aufrüsten – gerade jetzt, wo an der Bündnistreue der USA unter Präsident Trump so starke Zweifel entstanden sind -, denn nur wer bereit sei, Krieg zu führen, könne ihn abschrecken. Aber: Abschreckung, besonders nukleare Abschreckung, mag die Schwelle eines Angriffs erhöhen, aber sie ist auch hoch gefährlich: Die Risiken reichen von der Gefahr eines Kriegs „aus Versehen“ über die Gefahr, dass konventionell begonnene Kriege eskalieren und die Tatsache, dass auch Atomwaffen besitzende Staaten Krieg unterhalb der nuklearen Schwelle führen, also Krieg nicht verhindert wird, bis hin zur Möglichkeit, dass sie den Gegner zu einem Präventivangriff veranlasst. Denn die Wahrnehmung, von der anderen Seite bedroht zu werden, ist in der Regel eine gegenseitige, auch wenn die beiden Seiten dies meist nicht wahrhaben wollen. Angesichts immer kürzer werdender Vorwarnzeiten (neue Mittelstreckenwaffen, Hyperschallwaffen) und der dadurch gestiegenen Erstschlagsfähigkeit mögen Staaten auf die Idee kommen, den Krieg zu beginnen, bevor die andere Seite noch stärker wird und die eigenen Chancen, den Krieg zu gewinnen, noch geringer werden.
Deutschland soll sich nach dem Willen der alten wie der neuen Regierung „kriegstüchtig“ machen. Dazu gehören nicht nur die massive Steigerung der Rüstungsausgaben (da liegt Deutschland jetzt in absoluten Zahlen gemessen auf Platz 4 in der Welt, nach den USA, Russland und China) und die vermutlich stufenweise erfolgende Wiedereinführung einer Wehrpflicht, sondern alle Bürgerinnen und Bürger sollen sich auf Krieg vorbereiten. Nachzulesen ist das unter dem Stichwort „Zivile Verteidigung“ (nicht zu verwechseln mit „Sozialer Verteidigung“) und den 2024 verabschiedeten „Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung“. Im Gesundheitswesen sollen sich Krankenhäuser schon jetzt auf die Versorgung von Kriegsverletzten vorbereiten, und für Bedarfe der Bundeswehr werden bald bundesweit, wie jetzt schon in Bayern, Naturschutzvorgaben und Prüfverfahren für Bauvorhaben außer Kraft gesetzt.
Der Erzählung von einem Russland, das aufrüstet, um nach der Ukraine NATO-Länder, etwa im Baltikum, anzugreifen, ist ungeheuer mächtig, wenn man sich die Äußerungen aus Politik und Medien anschaut. Stimmen, die darauf hinweisen, dass vielleicht auch Russland sich bedroht fühlt vom Westen und deshalb aufrüstet oder dass es überhaupt keine seriösen, nachprüfbaren Quellen für eine solche Absicht der Regierung Putin gibt, werden kaum gehört oder als „Putinversteher“ – früher hätte man gesagt: „fünfte Kolonne“ – abgetan.
Herausforderung für die
Weiterentwicklung des Konzepts der Sozialen Verteidigung
Wenn zum offiziellen Narrativ der „Kriegstüchtigkeit“ gehört, militärische Verteidigung auf allen Ebenen – bis hin zum Atomkrieg – vorzubereiten, dann ist Soziale Verteidigung eine Alternative und kann als solche dargestellt werden. Auch wenn die meisten Menschen sich nur schwer vorstellen können, dass Gewaltfreiheit gegen einen Gegner, der massive Gewalt anzuwenden bereit ist, eine Chance hat. Aber es gibt viele gute Argumente, Soziale Verteidigung nicht nur als eine Utopie anzusehen:
1. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen durch gewaltfreie Aufstände Diktaturen gestürzt oder Herrschaft beendet wurde. Die Untersuchung von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan zählt auf Basis der NAVCO-Datenbank zwischen 1900 und 2006 107 Fälle von gewaltfreiem Widerstand, der auf einen Regimewechsel, eine Sezession oder die Bekämpfung einer Besatzung abzielte, und wiesen nach, dass gewaltfreie Kampagnen im gleichen Zeitraum fast doppelt so erfolgreich waren wie gewalttätige.
2. Es gibt viele Länder, die kein eigenes Militär unterhalten – Costa Rica ist vielleicht das bekannteste Beispiel, aber sie sind bei weitem nicht die einzigen, wie bei Wikipedia nachgelesen werden kann.
3. Regierungen nehmen das Konzept wahr und integrieren es in ihre Konzepte totaler Verteidigung: Im Jahr 2015 veröffentlichte das litauische Verteidigungsministerium einen Leitfaden für den Fall eines militärischen Angriffs, der auch zivilen Widerstand beinhaltet. In jüngerer Zeit hat die NATO ein „Resistance Operating Concept“ für Mittelstaaten entwickelt, das zivilen Widerstand als ein Element der Verteidigung zusammen mit konventionellen militärischen und Partisanenaktivitäten vorschlägt. Auch Singapur hat ein Konzept der totalen Verteidigung, das Elemente zivilen Widerstands beinhaltet.
Dazu kommen Argumente, die auf einer Kosten-Nutzen-Analyse beruhen: Der „Altmeister der gewaltfreien Aktion“; Gene Sharp, hat sie gut zusammengefasst: Soziale Verteidigung ist eigenständig, treibt das Land nicht in den Bankrott, verursacht keine massiven Zahlen an Todesopfern und Zerstörung und legt das eigene Schicksal nicht in die Hände mächtiger Freunde, die wahrscheinlich zuerst ihre eigenen Interessen verfolgen. (Das schrieb er übrigens 1992, so aktuell der letzte Punkt über die „mächtigen Freunde“ heute klingt.)
Last, but not least: Die Vorbereitung von Sozialer Verteidigung – anstelle von der Anhäufung von immer mehr Waffen – würde ein internationales Signal setzen, eine neue, auf gemeinsamer Sicherheit beruhende Friedensordnung aufzubauen.
Eine Falle gibt es allerdings auch, vor der gewarnt werden muss: Je konkreter Soziale Verteidigung heute vor Ort nicht nur propagiert, sondern praktisch entwickelt wird, desto leichter könnte sie als ein Baustein im Narrativ der Kriegstüchtigkeit angesehen werden. Hier wäre zu wünschen, dass diejenigen, die sich heute – etwa im Rahmen der Initiative „Wehrhaft ohne Waffen“ – konkret mit der Vorbereitung von Sozialer Verteidigung befassen, sich diese Gefahr bewusst machen und Wege finden, nicht ungewollt das Herbeireden einer Kriegsgefahr zu stärken, anstatt dem entgegen zu wirken.
Soziale Verteidigung darf nicht isoliert von einer breiteren Friedenspolitik gesehen werden. Sie braucht Zivile Konflikt-bearbeitung bzw. muss in sie eingebettet sein. Eine gewaltfreie Verteidigung gegen einen militärischen Angriff von außen kann dem Gegner das Erreichen seiner Ziele schwer machen, aber vermutlich würde es, wie beim Ruhrkampf 1923, internationale Diplomatie brauchen, um einen Abzug der Truppen zu erreichen und zu einer Friedensordnung zurückzukehren.
Dr. Christine Schweitzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung (ifgk.de) und Redakteurin des Friedensforum. Bis März 2025 war sie darüber hinaus Geschäftsführerin des Bund für Soziale Verteidigung.