die waffen nieder

Jenseits von Gaza:

Der stille Krieg im Westjordanland

| Rana Salman

Beitragcfp
Aktion der Combatants for Peace. Bildquelle: https://www.cfpeace.org/combatants-for-peace

Rana Salman ist Geschäftsführerin der israelisch-palästinensischen Graswurzelbewegung „Combatants for Peace“. In der Graswurzelrevolution Nr. 485 berichtete sie unter dem Titel „Auf Feindschaft eingeschworen – jetzt Partner*innen für den Frieden“ über die Arbeit ihrer Organisation. Im folgenden Artikel beschreibt sie die derzeitige Situation in dem seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland. (GWR-Red.)

Wir saßen im Kreis, versammelt zu einem gemeinsamen Seminar, palästinensische und israelische Aktivist*innen von Combatants for Peace. In diesen Momenten schaffen wir nicht nur Raum für Strategie und Planung, sondern auch für die Wahrheit. Dort, in einem unserer Gesprächskreise, sprach Muneer, ein langjähriger palästinensischer Aktivist aus dem Flüchtlingslager Tulkarem, mit zitternder Stimme. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er von der unerträglichen Last seines täglichen Lebens berichtete. Muneer ist Taxifahrer, Vater von vier Kindern und ein Mann, der mehr als 20 Jahre seines Lebens unserer Bewegung gewidmet hat. „Ich glaube an Gewaltlosigkeit“, sagte er leise, „an Würde und an die Möglichkeit einer Zukunft, die auf Menschlichkeit und nicht auf Hass aufbaut.“

Doch dann hielt er inne, seine Hände zitterten leicht. „Heute spreche ich zu euch nicht nur als Aktivist. Ich spreche zu euch als ein Flüchtling. Wieder einmal.“ Nur wenige Wochen zuvor war Muneer aus seinem Haus im Flüchtlingslager Tulkarem vertrieben worden. Jetzt lebt er als Vertriebener in einer kleinen Mietwohnung außerhalb des Lagers, die mehr kostet, als er sich leisten kann. „Früher habe ich in einer Wohnung gelebt, die mir gehörte“, sagte er uns, „ohne Miete. Es war nicht viel, aber es gehörte uns.“ Das tägliche Leben der Familie ist zu einer ständigen Herausforderung geworden. Und doch war es ein ganz gewöhnlicher Moment der Grausamkeit, der Muneer inmitten dieser Not am meisten erschütterte. Kürzlich wurde er an einem Kontrollpunkt von israelischen Soldaten angehalten. Sie durchsuchten sein Taxi, nahmen das Geld, das er an diesem Tag verdient hatte, und gingen davon. Keine Erklärung. Keine Anschuldigung. Einfach nur Diebstahl, untermauert durch eine Uniform und eine Waffe. „Sie haben mir alles genommen, was ich an diesem Tag verdient habe“, sagte er. „Ich konnte nichts tun“, fuhr er fort.

Dies ist kein einmaliges Ereignis. Es handelt sich um ein Muster – eine vorsätzliche und systematische Zerstörung des zivilen Lebens im Westjordanland, insbesondere in den Flüchtlingslagern. Während die Welt ihre Augen in den letzten Monaten verständlicherweise auf den Gazastreifen gerichtet hat, hat sich die langsame und brutale Zerstörung der palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland in beinahe lautloser Weise beschleunigt. Was in Orten wie Tulkarem, Jenin und Nur Shams geschieht, ist kein Kollateralschaden. Es ist eine Strategie. Erst vor wenigen Monaten startete das israelische Militär eine der größten Operationen im Westjordanland seit der Zweiten Intifada.

„Ich glaube immer noch an die Solidarität zwischen Palästinenser*innen und Israelis. Und ich glaube immer noch daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt sich kümmern – und handeln werden.“

Das Ausmaß der Zerstörung war schockierend. Strom und Wasser wurden abgestellt. Bulldozer wühlten sich durch die Straßen. Drohnen schwebten über der Stadt und Hubschrauber kreisten über dem Himmel. Ganze Stadtteile wurden dem Erdboden gleichgemacht.

Nach Berichten der Vereinten Nationen und großer Menschenrechtsorganisationen wurden seit Jahresbeginn mehr als 40.000 Palästinenser*innen aus den Flüchtlingslagern vertrieben. Allein in Tulkarem wurden mehr als zwei Drittel der Häuser entweder zerstört oder unbewohnbar gemacht.

Die Geschichte von Muneer ist nur eine von Tausenden. Aber es ist eine, die wir immer wieder erzählen müssen, denn was hier geschieht, ist mehr als eine physische Zerstörung. Es ist ein Angriff auf die Erinnerung. Auf die Zugehörigkeit. Auf die Identität. „Diese Zerstörung ist nicht zufällig“, sagte Muneer. „Sie wollen die Lager auslöschen – und damit auch unsere Geschichte. Unsere eigentliche Existenz als Volk. Wenn sie die Lager zerstören, glauben sie, dass sie die Erinnerung an die Nakba zerstören können.“

1948, während der Nakba, wurde Muneers Familie, wie Hunderttausende von Palästi-nenser*innen, aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben. Sie flohen vor Gewalt und Enteignung und bauten sich schließlich im Flüchtlingslager Tulkarem ein neues Leben auf. Jahrzehntelang bauten sie sich aus den Trümmern ein Leben auf: Sie zogen Kinder groß, feierten Hochzeiten und tranken ihren Morgenkaffee in Häusern, die sie mit Hoffnung und Not gemeinsam aufgebaut hatten. „In mehr als dreißig Jahren habe ich mir ein Zuhause geschaffen“, sagte Muneer. „Ein Ort, der mit Wärme, Erinnerung und Bedeutung gefüllt ist. Der Geruch von Kaffee am Morgen. Die Schritte meiner Kinder. Die Stimme meiner Frau, die sie zum Essen ruft. Das waren nicht nur Erinnerungen – das war unser Leben.“

Jetzt ist all das weggerissen worden. Und die Hindernisse für eine Rückkehr sind nicht nur physischer Natur. Wie viele andere darf auch Muneer sein Lager nur mit Erlaubnis des israelischen Militärs wieder betreten – eine Erlaubnis, die fast nie erteilt wird.

Was bedeutet es, zweimal im Leben ein Geflüchteter zu sein? Die Vertreibung über Generationen hinweg zu ertragen? Was bedeutet es, wieder aufzubauen, obwohl man weiß, dass alles wieder zerstört werden kann, ohne Vorwarnung oder Regressansprüche?

Bei Combatants for Peace, einer Basisbewegung von Palästinenser*innen und Israelis, die sich gemeinsam für die Beendigung der Besatzung und eine gerechte Lösung für das Land einsetzen, weigern wir uns, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Vertreibung, Zerstörung und Krieg unvermeidlich sind. Wahrer Frieden wird durch einen politischen Prozess entstehen. Wir werden im Angesicht der Ungerechtigkeit nicht schweigen Wir stehen zusammen, Palästi-nenser*innen und Israelis, um die Würde, die Gleichheit und die Menschlichkeit aller Menschen zu wahren.

Aus diesem Grund handeln wir. Gemeinsam – Palästinen-ser*innen und Israelis – verteilen wir Soforthilfepakete an vertriebene Familien. Diese Taten der Fürsorge sind mehr als Wohltätigkeit. Sie sind Widerstand. Der gemeinsame Kampf ist nicht einfach. Aber er ist unerlässlich. Jedes Mal, wenn ein Israeli einem Palästinenser im Protest, in der Trauer, in der Hoffnung zur Seite steht, ist das ein Akt des Widerstands gegen das System, das versucht, uns zu spalten.

Muneer glaubt trotz allem noch immer an diese gemeinsame Zukunft. Er beendete seine Aussage mit einer Stimme, die von Liebe, nicht von Hass geprägt war. „Dennoch habe ich die Hoffnung nicht verloren. Ich glaube immer noch an die Solidarität zwischen Palästinenser*innen und Israelis. Und ich glaube immer noch daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt sich kümmern – und handeln werden.“ 

Wir können es uns nicht leisten, dies zu ignorieren.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

Wir freuen uns auch über Spenden auf unser Spendenkonto.

Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Drücke Kontakt zu den Combatants for Peace: https://cfpeace.org